"Eines der obersten Ziele schulischer Bildung überhaupt ist es, junge Menschen zu befähigen, sich in der modernen Gesellschaft zu orientieren und politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen und Probleme kompetent zu beurteilen" – so schreibt es die Kultusministerkonferenz auf ihrer Website. Schülerinnen und Schüler müssten ermuntert werden, für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Gerechtigkeit, wirtschaftliche Sicherheit und Frieden einzutreten. Diesem übergeordneten Ziel seien grundsätzlich alle Unterrichtsfächer verpflichtet, insbesondere aber die des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs. Wie aber gelingt eine solche Demokratiebildung und wie kann sie dabei helfen, Rechtsextremismus in Deutschland und anderswo zu verhindern? Apl. Prof. Dr. Michael Haspel vom Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt teilt im folgenden Gastbeitrag seine Überlegungen:
Bei der jüngsten Landtagswahl in Thüringen 2019 war unter den 18–24-Jährigen die AfD die stärkste Partei mit 23 Prozent. Schon vor der Mitte der 2010er-Jahre zeichnete sich eine grundlegende Wende in der Einstellungsforschung ab. War es bislang immer so gewesen, dass Frauen und Jüngere weniger zu fremden- und demokratiefeindlichen Einstellungen tendierten, nahmen nun die Werte bei den jüngeren Kohorten, insbesondere den jungen Frauen, zu. In Thüringen bildete sich damals ein breites Bündnis von Akteur*innen der politischen Bildung, um darauf mit Blick auf das 100-jährige Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung zu reagieren. Leider fand diese Initiative damals nicht die erwünschte politische Unterstützung und es konnte nur ein Einzelprojekt umgesetzt werden, anstatt Demokratiebildung in der Fläche zu etablieren. Aber an das damals veröffentlichte Konzept der Demokratiebildung könnte heute angeknüpft werden.
Anne Rabe erinnert mit ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ an die Präsenz von Gewalt im Leben Jugendlicher in Ostdeutschland in den Jahren nach der Wiedervereinigung und in den darauf folgenden „Baseballschlägerjahren“. Gewalt in den Familien, aber eben auch ausgehend vor allem von rechten Jugendlichen. Das hatte für den städtischen Bereich eindrücklich Clemens Meyer in seinem Buch „Als wir träumten“ von 2007 literarisch dokumentiert. Die entsprechenden Untersuchungen bestätigen diese lebensweltlichen Befunde.
Die Frage ist ja, wo Jugendliche, vor allem in peripheren Räumen, Demokratie und funktionierende demokratische Institutionen im Alltag erleben? Die kommunalen Machtverhältnisse waren auf dem Land oft noch von alten Strukturen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) aus DDR-Zeiten geprägt. Die Gebietskörperschaften wurden formal demokratisiert, aber konnten durch Ressourcenmangel auch nur bedingt positive Entwicklungen gestalten und Attraktivität entfalten. Partizipationsmöglichkeiten für Jugendliche und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit gab es hier oft genau so wenig wie an vielen Schulen.
Die Familien waren oft überlastet und (noch) von einem autoritären Erziehungsmodell geprägt. Die Lehrer*innen waren zu einem erheblichen Teil verunsichert und haben sich – wie viele andere auch – auf eine vermeintlich „neutrale“ Position zurückgezogen, auch wenn es um Rassismus und Antisemitismus ging. Eine Kollegin, die damals in einer Beratungsstelle arbeitete, erzählte immer wieder von Fällen, wo Lehrer:innen anriefen und fragten, ob ein bestimmtes Verhalten strafbar sei. Wenn sie nein sagte, hatten sie schon wieder aufgelegt, bevor sie noch erklären konnte, dass es aber zutiefst menschenverachtend sei und dringend pädagogisch bearbeitet werden müsste und eben nicht juristisch. Wie alles hier, soll dies eine Tendenz beschreiben und auf gar keinen Fall eine Verallgemeinerung sein. Denn es gab und gibt ja auch immer die engagierten und mutigen Lehrer*innen, die sich aktiv für Demokratie und gegen Rassismus eingesetzt haben.
Aus dem Jenaer Projekt „Taktvoll gegen Rechts“ wurde damals berichtet, dass ein erheblicher Teil der Erfahrungen mit Fremden- und Demokratiefeindlichkeit, die die Studierenden in ihrem Praktikum gemacht hatten, sich nicht auf Schüler*innen, sondern auf Lehrpersonen bezogen, die möglicherweise ihre eigene Vorurteilsstruktur nie hinterfragen konnten. Das kann auch dazu führen, dass die Schüler*innen wenig Wertschätzung erfahren, wie dies Judith Schalansky in ihrem Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ protokolliert.
Andere zivilgesellschaftliche Institutionen sind in den peripheren Räumen selbst nur schwach vertreten. Für die „Baseballschlägerjahre“ gibt es immer wieder Berichte, dass etwa kirchliche Räume die wenigen Rückzugsräume und Keimstätten demokratischen Handelns waren, teilweise schon in einer para-kirchlichen Struktur, wie Judith Zander dies in ihrem Roman „Dinge, die wir heute sagten“ eindrücklich beschreibt. Die einzige Alternative zum Treffpunkt auf dem ehemaligen LPG-Gelände ist für die Jugendlichen das Pfarrhaus, in dem aber schon keine Pfarrperson mehr wohnt, sondern ein Diakon. Und auch die Kirchen sind im ländlichen Raum inzwischen weiter ausgedünnt und stehen vor der Herausforderung der Normalisierung des Rechtspopulismus. Die Jugendlichen, die sich gegen Rechts gewehrt und engagiert haben, sind in größerer Zahl abgewandert, kommen auch nicht mehr zurück und es rücken nur wenige nach. Entsprechende Initiativen sind weitgehend zum Erliegen gekommen.
Die letzten drei genannten literarischen Titel, welche diese Tendenz anschaulich machen, sind übrigens im Zeitraum von 2007 bis 2012 erschienen; d.h. die dort beschriebenen Jugendlichen sind in der stärksten Alterskohorte der AfD-Wähler*innen.
Implizit ist jetzt schon deutlich geworden, dass Demokratie- und Menschenrechtsbildung umfassender ist als die Kenntnis von Institutionen und Dokumenten, die etwa im Sozialkundeunterricht vermittelt werden kann. Entscheidend ist ja die Unterscheidung von Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und als Lebensform.
Jugendliche werden nur demokratische und nicht-diskriminierende Einstellungen entwickeln, wenn sie demokratische Institutionen selbst positiv erleben.
Wenn im Sozialkunde-Unterricht Demokratie als Herrschaftsform behandelt wird, die Schulkultur aber keine angemessenen Elemente einer demokratischen Lebensform enthält, es keine Partizipationsmöglichkeiten und wenig Wertschätzung gibt, wird der Effekt eher gering sein.
Als jemand, der den größeren Teil seines persönlichen und beruflichen Engagements in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig war, fällt es mir schwer, dies so zu formulieren, aber es ist ein klarer Befund. Die einzige Institution, zumal mit der Einführung der Ganztagsschule, an der in den peripheren Bereichen Demokratiebildung gelingen kann, sind die Schulen. Dazu kommt natürlich, dass ich auch weiß: Wenn gesellschaftliche Probleme nicht mehr anders zu lösen sind, werden sie an das Bildungssystem delegiert. Es nützt aber nichts. Es muss mit bedacht werden.
Eine Stichprobe im Saale-Orla-Kreis, wo bei der Landratswahl am 14.01.2024 der AfD-Kandidat über 45 Prozent der Stimmen bekommen hat, ergab, dass in keinem der Leitbilder der Regelschulen die Begriffe Demokratie, Menschenrechte, Rassismus auftauchen. Toleranz und Gewaltfreiheit werden genannt, wobei das recht unspezifisch bleibt. Stark präsent sind Maßnahmen der Berufsvorbereitung. Keine Schule scheint an einem Programm wie „Schule ohne Rassismus“ oder „Demokratisch handeln“ teilgenommen zu haben. Allein bei einer Schule ist ein Projekt „Courage gegen Drogen“ von 2014 auf der Website dokumentiert.
Nun ist völlig klar, mit welch herausfordernden Bedingungen gerade Regelschulen umgehen müssen. Und es wird nicht gehen, Demokratiebildung zusätzlich 'obendrauf' zu verordnen. Die Schulen sind überlastet, haben zu wenig sozialpädagogisches Personal und der Lehrkräftemangel ist eklatant. Es wird also nur gehen, wenn es eine konzeptionelle Fortentwicklung der Schulkonzeptionen und Schulkulturen gibt, für die langfristig auch die Ressourcen bereitgestellt werden. Eine aktive Rolle könnten neben den Fächern Sachunterricht und Sozialkunde dabei die wertebildenden Fächer wie Ethik und Religion einnehmen, die sich in den jeweiligen Fachdidaktiken mit diesen Themenfeldern beschäftigen. Dazu gilt es, Schulkulturen zu demokratisieren und Partizipation und Mitbestimmung ab der ersten Klasse zu ermöglichen.
Vermutlich werden die ostdeutschen Bundesländer dazu aus eigener Kraft gar nicht in der Lage sein und es bedürfte einer Kofinanzierung des Bundes. Da das lange dauern kann, sollte man neben Pilotprojekten vor Ort in der Aus- und Fortbildung mit der Stärkung dieser Themen beginnen. Auch hier stellt sich natürlich die Frage, wo dafür etwa in einem ohnehin schon überfüllten Curriculum der ersten Phase der Lehrer*innenbildung noch Platz wäre.
Inhalte der Demokratiebildung finden sich an der Universität Erfurt als Teil der politischen Bildung in der Ausbildung zukünftiger Sachunterrichtslehrer*innen wie auch im fachlichen und fachdidaktischen Modulen zukünftiger Sozialkundelehrer*innen. Da aber nicht alle Studierenden des Lehramts an Grund- und Regelschulen dieses Fach studieren, braucht es andere – weitere – konzeptionelle Überlegungen. Eine Möglichkeit bestünde darin, Medienbildung als Teil der bildungswissenschaftlichen Ausbildung mit Demokratiebildung zu verbinden. Da gibt es eine große sachliche Nähe, weil durch die falschen und tendenziellen Nachrichten über die sogenannten Sozialen Medien, fremdenfeindliche, antisemitische und antidemokratische Einstellungen mit befördert werden.
Eine andere Option stellen die "Heterogenität und Inklusion" dar, zu denen es ein Modul in allen lehramtsbezogenen Master-Studiengängen gibt. Schließlich könnte man auch im Bereich des Studium Fundamentale an der Universität Erfurt ein entsprechendes Angebot fest verankern.
Gerade die Zunahme von Quereinsteiger*innen in den Schulen und die Einführung eines dualen Studiengangs für das Lehramt an Regelschulen stellen hier aktuelle Herausforderungen dar. Es wäre fatal, wenn aufgrund des akuten Lehrkräftemangels und der Fokussierung auf fachliche und fachdidaktische Kompetenzen in den Fächern das Thema Demokratie- und Menschenrechtsbildung und der Ansatz einer demokratischen Schulkultur 'hinten herunterfielen'. Auch und ganz besonders müsste das Themenfeld in der Lehrer*innenweiter- und fortbildung eine wichtige, vielleicht sogar verpflichtende Rolle spielen.
Dann könnten vor Ort mit externen Fachleuten multidisziplinäre Teams die Schulen zu Zentren demokratischer Lebensform machen, mit denen sich andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen vernetzen können. In manchen Regionen könnten das die freigemeinnützigen Träger der Wohlfahrtspflege sein, die dort wichtige Arbeitgeber*innen sind und in ihrer Aufgabe einem humanistischen bzw. christlichen Menschenbild verpflichtet sind, wie etwa die Diakonie. Das wäre zumindest ein Ansatzpunkt gegen die zunehmende 'Normalisierung' rechtspopulistischer und rechtsextremer Positionen und die Gefahr einer ‚Faschisierung der Provinz‘ (Toralf Staud).
Gegenwärtig gibt es in vielen deutschen Städten eine starke Mobilisierung gegen Rechts. Ob das in Thüringen bei den Wahlen in diesem Jahr etwas am Ergebnis ändert, wird abzuwarten sein. Deshalb braucht es neben der kurzfristigen Mobilisierung das, was im Englischen in der Theorie sozialer Bewegungen „Organizing“ heißt, nämlich die langfristige und beharrliche Gemeinwesenarbeit, die Demokratie als Lebensform erfahrbar macht, um sie auch als Gesellschaftsform attraktiv zu machen und als Herrschaftsform zu stabilisieren.
Wir sollten dies für die Gesellschaft insgesamt tun, aber vor allem, damit die jungen Menschen in diesen Räumen mit Möglichkeiten der eigenverantwortlichen und partizipativen Lebensgestaltung in Freiheit und Würde für alle aufwachsen können.