Ist Thüringen auf dem Weg zurück in die Regierbarkeit? Diese Frage stellen sich gerade viele Menschen im Freistaat. "WortMelder" hat bei André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt, nachgefragt. In loser Folge schreibt er hier über die Landtagswahl am 1. September – in Teil 1 über die Aussichten auf neue Regierungskonstellationen in Thüringen.
Am 27.10.2019 konnte die bis dahin in Thüringen regierende Koalition aus Linke, SPD und Grüne keine Mehrheit mehr bei der Landtagswahl erreichen. Zusammen konnten die Regierungsparteien nur noch rund 44% aller Wählerinnen und Wähler gewinnen. Rechnerisch wären Mehrheiten aus AfD, CDU und FDP oder aus Linke und CDU möglich gewesen; diese waren jedoch politisch durch den Beschluss der CDU, weder mit der Linken noch der AfD zusammenzuarbeiten, politisch nicht gewollt. „Unbeabsichtigt“ wurde dennoch Thomas Kemmerich von der FDP im Februar 2020 zusammen mit Stimmen der CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Da dies wohl nicht seinem Willen entsprach, trat er jedoch schnell wieder zurück. Einen Monat später wurde Bodo Ramelow mit Stimmen von Linken, SPD und Grünen und unter Enthaltung fast aller CDU-Abgeordneten zum Ministerpräsidenten einer Minderheitsregierung gewählt, die dann erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik für eine ganze Legislaturperiode im Amt bleiben sollte.
Vergangene Zukunft: Noch 2023 war Thüringen auf dem Weg von einer Minderheitsregierung zur nächsten
Noch im vergangenen Sommer schien es so, als ob es in Thüringen auch nach der Landtagswahl für keine realisierbare Koalition eine politische Mehrheit im Landtag geben könnte. Bei einer Umfrage von Infratest Dimap aus dem Juli 2023 konnten die Parteien der amtierenden Minderheitsregierung zusammen nur noch mit 35% der Wahlstimmen rechnen. Die CDU schloss weiterhin Koalitionen mit der Linken und der AfD aus. Mit allen anderen Parteien konnte auch sie keine Mehrheit bilden. Es schien so, als ob es Thüringen auf eine erneute Minderheitsregierung hinauslaufen würde. Dann hätte wohl die CDU den Anspruch gestellt, eine solche Minderheitsregierung anzuführen, da sie inzwischen vor der Linken die stärkste Partei im demokratischen Spektrum war. Doch diese Zukunft ist wohl inzwischen Vergangenheit.
Mit dem BSW eröffnen sich 2024 für Thüringen neue politische Zukünfte
Seit Anfang 2024 stellt sich die Zukunft in Thüringen plötzlich ganz anders dar. Denn auf Bundesebene hatte sich die Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) gegründet. Obwohl noch kein Thüringer Landesverband gegründet war, konnten sich bereits Mitte Januar dieses Jahres 17% der Wahlberechtigten in Thüringen vorstellen, das BSW zu wählen. Im Vergleich zur Umfrage aus dem Sommer ging dies mit Verlusten bei fast allen anderen Parteien einher: Die AfD verlor drei Prozentpunkte, die CDU einen Prozentpunkt, die Linke fünf Prozentpunkte, die SPD vier und alle sonstigen Parteien, darunter auch die FDP, büßten weitere vier Prozentpunkte ein. Politisch hatte sich die Landschaft damit vor allem deshalb verändert, weil jetzt Mehrheiten ohne Beteiligung von AfD und der Linken nicht nur rechnerisch, sondern auch politisch möglich waren. Denn die CDU schließt eine Zusammenarbeit mit dem BSW auf Landesebene nicht grundsätzlich aus. Thüringen muss wohl doch nicht zwingend zurück in die Zukunft einer Minderheitsregierung.
Die Zukunft der Regierbarkeit ist wieder offen
Auch in den Umfragen, die seitdem durchgeführt wurden, ist der Zuspruch zum BSW stabil. Insgesamt scheint er sogar eher noch etwas zugenommen zu haben. Zuletzt konnte das BSW mit ca. 20% der Wahlstimmen rechnen. Für die CDU waren es ca. 22%. Zusammen mit der SPD, die derzeit von ungefähr 7% der Wahlberechtigen eine Stimme bekäme, ist eine zukünftige Mehrheitsregierung unter Führung der CDU keine bloße Utopie mehr. Auf wichtigen Politikfeldern wie der Klima-, Migrations- und Gesellschaftspolitik bestehen zwischen diesen drei Parteien keine großen Unterschiede. Schwieriger wird es sich wohl in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik darstellen. Allerdings sind dies Politikfelder, auf denen sich Konflikte in Kompromisse auflösen lassen. Anders ist die fundamentale Differenz in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die lässt sich auf den Landesebenen jedoch meist vermeiden. Im Zweifel wird sich eine solche Regierungskoalition etwa bei Entscheidungen, die alle Landesregierungen zusammen im Bundesrat fällen müssten, darauf einigen, sich zu enthalten. Die Tür zu dieser Zukunft eines wieder regierbaren Thüringens steht wohl derzeit so offen, wie es noch vor einem Jahr nicht zu erwarten war.
Eine weitere Zukunft der Unregierbarkeit nimmt auch erste Konturen an
Vom Frühjahr bis in den Sommer konnte das BSW sogar noch drei bis vier Prozentpunkte in den Umfragen zulegen. Es lag zuletzt nur noch zwei Prozentpunkte hinter der CDU. Wenn das BSW von dieser Dynamik bis zum Wahltag getragen werden sollte, könnte es im Endergebnis sogar zweitstärkste Kraft hinter AfD werden und damit besser abschneiden als die CDU. Mathematisch würde dies an einer Mehrheit aus CDU, BSW und SPD nichts ändern, politisch würden sich die Vorzeichen aber vollständig umkehren. Für die CDU wäre dies eine Niederlage, die dann erst einmal politisch aufgearbeitet werden müsste. Alte Konflikte würde aufbrechen, neue würden dazu kommen. Vermutlich wäre es dann auch völlig unklar, wer die CDU in eine solche Koalition als Juniorpartner des BSW führen würde. Hinzu kommt, dass damit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Ministerpräsidentin des BSW zu wählen wäre und zwar mit Stimmen aus der CDU. Vor dem Hintergrund der 2025 anstehenden Bundestagswahl würde die Berliner CDU-Zentrale dies wohl nicht so einfach laufen lassen, wie sie es im umgekehrten Fall für die Wahl eines CDU-Ministerpräsidenten durch das BSW signalisiert hat. Das Tor in die Welt der Unregierbarkeit wäre wieder weit aufgestoßen.