„Nicht erfreulich, aber erwartbar“

Corona und die Folgen , Gastbeiträge
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Im Oktober 2022 wurden die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 vorgestellt. In der zugrundeliegenden Studie wurden in den einzelnen Bundesländern zum dritten Mal die Fähigkeiten von Viertklässlern in den Fächern Deutsch und Mathematik festgestellt und ermittelt, inwiefern diese den Bildungsstandards der von der Kultusministerkonferenz (KMK) definierten Kompetenzziele entsprechen – mit alarmierendem Ergebnis: Je nach Kompetenzbereich und Bundesland verfehlen im Schnitt 18 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards. Die Kompetenzunterschiede entsprechen bis zu einem Schuljahr Lernzeit in Lesen und Zuhören, bis zu zwei Drittel eines Schuljahres in Orthografie und bis zu drei Viertel eines Schuljahres in Mathematik. Die Ursachen dieses zunehmenden Bildungsdefizits und wie die Lehrer*innenbildung darauf reagieren sollte, erläutert in unserem Blogbeitrag das Team des Fachbereichs Mathematikdidaktik der Universität Erfurt:

Schon im Juli dieses Jahres wurden vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) erste Ergebnisse der erneuten Erhebung der Mathematik-Leistungen von Viertklässler*innen veröffentlicht. Allgemein wurde eine Verschlechterung des mathematischen Kompetenzniveaus im Vergleich zum Jahr 2016 konstatiert.

Basis des IQB-Bildungstrendberichtes 2021 ist eine Erhebung bei Viertklässler*innen, die im genannten Jahr von April bis Juni stattfand. Die Schüler*innen erhielten Aufgaben, mit denen ihr Kompetenzstand im Fach Mathematik in verschiedenen Leitideen (z.B. „Zahlen und Operationen“, „Raum und Form“ oder „Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit“) erfasst wurde. Ein Vergleich zwischen dem Bildungstrendbericht von 2016 und 2021 hat (fast) erwartbare Leistungsrückgänge zu Tage gefördert, die die wissenschaftliche Leiterin des IQB, Prof. P. Stanat, so einschätzt: „Die ungünstigen Veränderungen in den erreichten Kompetenzen sind deutlich und sicherlich nicht unwesentlich darauf zurückzuführen, dass diese Kohorte von Kindern von den pandemiebedingten Einschränkungen betroffen war.“ ([1]) Auch wenn der Rückgang der Mathematikleistungen der Viertklässler*innen bedauerlich ist, können bei genauer Betrachtung des Zeitraumes zentrale Ursachen für diese Ergebnisse ausgemacht werden.

Die Ergebnisse zeigen einen Bedarf an gezielter Förderung."

Konkret wird im IQB-Bildungstrendbericht festgestellt, dass „nur etwas über die Hälfte der Viertklässler*innen den Regelstandard [erreicht] und über ein Fünftel der Viertklässler*innen den Mindeststandard [verfehlt)“ ([2], S. 72) – beides sind alarmierende Tatsachen. Auch wenn für das Bundesland Thüringen festgehalten werden kann, dass sich der Anteil der Viertklässler*innen in den Zeiträumen 2011 bis 2016 bzw. 2016 bis 2021 bezogen auf die Erfüllung der Mindeststandards nicht signifikant verändert hat, ergibt sich im zehnjährigen Untersuchungszeitraum seit 2011 dennoch ein signifikant negativer Trend ([2], S. 76). Für die Erfüllung der Mindeststandards ist im Berichtsband Folgendes zu lesen: „In Thüringen veränderte sich der Anteil der Schüler*innen, die den Mindeststandard verfehlen, bis 2016 nicht bedeutsam, nahm aber zwischen 2016 und 2021 signifikant zu. Auch der Vergleich der Jahre 2011 und 2021 zeigt für das Bundesland eine signifikante Zunahme des Anteils der Schüler*innen, die den Mindeststandard verfehlen.“ ([2], S. 76). Die Ergebnisse zeigen einen Bedarf an gezielter Förderung im mathematischen Bereich und insbesondere beim Aufbau mathematischer Basiskompetenzen auf.

Für die einzelnen Leitideen der Mathematik-Kompetenzen ergibt sich ein differenziertes Bild: Die Leistungen in den Leitideen „Raum und Form“ und „Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit“ haben sich stärker verändert als in den anderen Leitideen. Insgesamt ist die Lösungswahrscheinlichkeit für Aufgaben in diesen beiden Leitideen insbesondere zwischen 2019 und 2021 zurückgegangen ([2], S. 79). Zwar fällt der Ländermittelwert für die Leitideen „Raum und Form“ sowie „Daten, Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeit“ für Thüringen etwas günstiger aus als für die Globalskala mathematischer Kompetenzen ([2], S. 97) – beruhigen kann das Ergebnis jedoch nicht.

Abbildung 4.15 IQB Bildungstrend 2021

Wie können wir die Ergebnisse besser verstehen? Wie eingangs bereits beschrieben, fallen in den Zeitraum, in dem die Probanden der Studie ihre mathematischen Kompetenzen erworben haben, zwei große Ereignisse: Zum einen wurden die Schüler*innen, die im Zuge der Flüchtlingskrise nach Deutschland und speziell nach Thüringen gekommen sind, mehr und mehr in die Schulen integriert. Diese Kinder mussten Sprachbarrieren überwinden; unstrittig ist, dass dafür ein langfristiger Lernprozess erforderlich ist. Umfang und Qualität des angeeigneten mathematischen Fachwortschatzes, der zum Aufgabenverständnis und zur erwarteten Aufgabenbearbeitung nötig ist, gelangen den Schüler*innen in unterschiedlicher Weise [3]. Die veränderte Schülerschaft ist somit als eine wichtige Ursache für die gesunkenen Leistungen zu benennen. Sie wird auch von Olaf Köller als Vorsitzendem der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusminister hervorgehoben [4]. Zum anderen sind die Folgen der Corona-Pandemie bei den Viertklässler*innen erheblich und deutlich sichtbar. Die Kinder waren von pandemiebedingten Schulschließungen betroffen und mussten durch eine bisher in Deutschland unübliche Unterrichtsform – den Distanzunterricht – beschult werden. Dieser lief u.a. aufgrund der digitalen Fähigkeiten von Schüler*innen und Lehrkräften sowie der technischen Voraussetzungen sehr heterogen ab [5].

Freilich hat die Pandemie Lehrkräfte und Schüler*innen gleichermaßen vor große Herausforderungen gestellt. Hinzu kam, dass sich der Unterricht an der Empfehlung orientierte, insbesondere die arithmetischen Basiskompetenzen zu fördern [6]. Die Priorisierung der Leitidee „Zahlen und Operationen“ gegenüber anderen Leitideen hat in der Folge zu einer Vernachlässigung der Lerninhalte aus den beiden Leitideen „Raum und Form“ sowie „Daten, Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeit“ geführt. Für die Leitidee „Raum und Form“ muss hervorgehoben werden, dass das so wichtige räumliche Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen nur umfassend und nachhaltig ausgebildet werden kann, wenn Lernende umwelt- und handlungsbezogene Aktivitäten erleben, beispielsweise wenn sie ein Gebäude aus Würfeln bauen und es aus verschiedenen Perspektiven betrachten oder wenn sie mit Plättchen eine Fläche auslegen, um eine Vorstellung von der Größe zu gewinnen oder wenn sie einen Würfel entfalten, um ein Würfelnetz entstehen zu lassen. In der Leitidee „Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlicht“ sind experimentelle Zugänge für eine Erkenntnisgewinnung in der Grundschule nötig wie beispielsweise ein mehrfaches Würfeln mit einem Spielwürfel, um die Wahrscheinlichkeit des Würfelns einer bestimmten Augenzahl abschätzen zu können oder eine Murmel mit einer bestimmten Farbe aus einem undurchsichtigen Beutel ziehen, um die Chance für das Ziehen einer Murmelfarbe angeben zu können. Vergleichbare Aktivitäten und Aufgaben haben Schüler*innen entweder gar nicht erlebt oder sie waren durch den Online-Unterricht nur schwer umzusetzen. Dass in der Folge Lücken im Vorstellungs- und Verständnisaufbau entstanden sind, ist somit nachvollziehbar.

...dass künftige Lehrkräfte sowohl fachlich-inhaltlich als auch methodisch für solche Krisensituationen besser auszurüsten sind."

Welche Schlussfolgerungen ziehen wir als Fachbereich Mathematikdidaktik aus den Ergebnissen? Selbstverständlich werden im Rahmen von verschiedenen Lehrveranstaltungen in der Lehramtsausbildung die Ergebnisse des IQB-Bildungstrendberichtes mit Studierenden erörtert. Und selbstverständlich wird im Rahmen der mathematikdidaktischen Ausbildung auf die Bedeutung und den Wert der verschiedenen Leitideen für den Aufbau umfassender mathematischer Kompetenzen verwiesen – nicht zuletzt deshalb befassen sich Studierende in Lehrveranstaltungen mit allen Leitideen. In Folge der Digitalisierung, die durch die Corona-Pandemie einen Schub erfahren hat, beziehen wir zudem in die Lehre Angebote für digitales Lernen ein, um künftige Lehrkräfte auf der methodischen Ebene so gut wie möglich auf solche Situationen, wie wir sie in der Corona-Pandemie erlebt haben, angemessen vorzubereiten. Die aktuellen Bildungsstandards für das Fach Mathematik [7], die kurz vor der Veröffentlichung der Ergebnisse des IQB-Bildungstrendberichtes durch die KMK veröffentlicht wurden, unterstreichen einerseits die Bedeutung der verschiedenen Leitideen für den mathematischen Kompetenzaufbau und heben andererseits mit der prozessbezogenen mathematischen Kompetenz „mit mathematischen …Werkzeugen (eben auch digitalen) arbeiten“ den Wert digitalen Lernens hervor.

Es lässt sich also konstatieren, dass die aktuellen IQB-Befunde zu den Leistungen der Viertklässler*innen nicht erfreulich, aber wegen der zuvor benannten Umstände einigermaßen erwartbar waren. Der sich in den Bildungstrendberichten abzeichnende negative Trend in den Leistungen der Viertklässler seit der ersten PISA-Erhebung im Jahr 2000 hat durch die Flüchtlingskrise und die Pandemie einen deutlichen „Knick“ erhalten, der wohl auch nicht kurzfristig zu beheben ist. In jedem Fall sind für die Lernenden weiterhin Förderangebote nötig, um die festgestellten Defizite langfristig und kontinuierlich abzubauen. Das bundesweite Programm „Aufholen nach Corona“ weist hierfür in die richtige Richtung, darf aber nicht bei der aktuell engen zeitlichen Befristung bleiben. Für die Lehrausbildung ergibt sich aus den Ergebnissen, dass künftige Lehrkräfte sowohl fachlich-inhaltlich als auch methodisch für solche Krisensituationen besser auszurüsten sind. Der Fachbereich Mathematikdidaktik der Universität Erfurt leistet dazu seinen Beitrag.

Literatur:

[1] www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/erste-ergebnisse-zum-iqb-bildungstrend-2021-geringere-leistungen-in-deutsch-und-mathematik-in-schul.html

[2] IQB-Bildungstrend 2021. (Berichtsband, veröffentlicht unter www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/Bericht)

[3] deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/zugewanderte-jugendliche-liegen-zwei-jahre-zurueck; Klose, R. (2022). Mathematische Begriffsbildung – PriMaPodcasts im bilingualen Kontext. Münster, New York: Waxmann

[4] www.welt.de/politik/deutschland/plus241930689/Bildungskrise-Das-holen-die-Kinder-nie-wieder-auf.html

[5] digitaleducation.cologne/news/umfrage-sch%C3%BCler-ostth%C3%BCringen-distanzunterricht-bewerten

[6] bildung.thueringen.de/fileadmin/2021/2021-04-30_Leitfaden_Lernrueckstaende.pdf

[7] KMK 2022: Bildungsstandards für das Fach Mathematik Primarbereich. www.kmk.org/themen/qualitaetssicherung-in-schulen/bildungsstandards.html

Abbildungen:
Hamish John Appleby für die Erfurt School of Education der Uni Erfurt (Titelbild)
IQB Bildungstrend 2021, Zusatzmaterial, S. 19 (Grafik, https://box.hu-berlin.de/seafhttp/files/abc453da-3c37-447c-ba44-a4ac00682856/IQB_Bildungstrend2021_Zusatzmaterialien_Abbildungen.pdf )

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