Nachgefragt: "Warum sind so viele Menschen in Thüringen mit der Demokratie unzufrieden, Herr Professor Brodocz?"

Gastbeiträge
Prof. Dr. André Brodocz

Nach der Veröffentlichung des jährlichen Thüringen-Monitors 2022, der seit dem Jahr 2000 die politischen Einstellungen und die Demokratiezufriedenheit im Freistaat erhebt, ist insbesondere eine Debatte darüber entbrannt, warum nur noch 48 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer mit der Demokratie zufrieden sind, während es im Vorjahr noch 65 Prozent gewesen sind. "WortMelder" sprach darüber mit André Brodocz, Professor für politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt.

Nur noch weniger als die Hälfte der Menschen in Thüringen sind nach den Ergebnissen des aktuellen Thüringen-Monitors mit der Demokratie in Thüringen zufrieden? Geht das Vertrauen in die Demokratie verloren?
Zunächst müssen wir bei diesem Ergebnis beachten, dass es sich hierbei um die Zufriedenheit mit dem demokratischen Tagesgeschäft handelt, also mit den politischen Entscheidungen, die 2022 auf der Bundes- und Landesebene getroffen wurden. Die generelle, von diesem Tagesgeschäft absehende Unterstützung ist mit 84 Prozent in Thüringen weiterhin sehr hoch. Das Vertrauen in die Demokratie ist also grundsätzlich weiterhin sehr hoch. Unzufriedenheit besteht hingegen bei deutlich mehr Bürger*innen damit, wie unsere Demokratie derzeit funktioniert.

Gibt es Gruppen, bei denen diese Unzufriedenheit besonders ausgeprägt ist?
Ja, das lässt sich beobachten. Wie in vielen anderen Umfragen in den liberalen Demokratien des Westens zeigt sich auch hier, dass die Unzufriedenheit wahrscheinlicher wird, je niedriger das Einkommen und der Bildungsabschluss sind. Interessant sind hier noch zwei andere Aspekte: das Alter und der Wohnort. Unter den 18- bis 34-Jährigen ist mehr als die Hälfte mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden, während es bei den Älteren nur noch weniger als die Hälfte ist. Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Befragten in der Stadt oder auf dem Land leben. Unter den Bürgerinnen und Bürgern in den Städten ist die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie deutlich verbreiteter als bei denen, die auf dem Land zu Hause sind. Gerade dieser Unterschied ist hervorzuheben, weil sich vergleichbare Unterschiede auch in den westdeutschen Bundesländern gezeigt haben. Da die ostdeutschen Bundesländer ländlicher geprägt sind als die westdeutschen, fällt dieser Unterschied hier stärker ins Gewicht. In der öffentlichen Debatte wird dies häufig nicht gesehen und stattdessen als genereller Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland dargestellt.

Der Thüringen-Monitor erhebt schon mehr als 20 Jahre diese Demokratiezufriedenheit. Ist diese jetzt auf dem Tiefpunkt angekommen?
Nein, das ist sie nicht. Von 2000 bis 2013, als Thüringen noch von der CDU regiert wurde, war sie nur in drei Jahren etwas höher. Die Thüringer Tiefpunkte waren in dieser Zeit 2003 und 2005, als nur 37 Prozent mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden gewesen sind. Im Durchschnitt waren zu den Zeiten der CDU-Regierung 45 Prozent der Menschen mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Im Vergleich dazu ist der aktuelle Wert also sogar überdurchschnittlich. Seitdem die Linke die Regierung führt ist diese Zufriedenheit gewachsen. Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 liegt dieser Wert bei 59 Prozent, der höchste Wert war 2020, übrigens im ersten Corona-Jahr, bei 68 Prozent.

Nur zwei Jahre später, 2022, sind es nur 20 Prozentpunkte weniger. Woran kann das liegen?
Eine Erklärung sehe ich darin, wann die Umfrage gemacht wurde, nämlich von Mitte September bis Anfang Dezember 2022. Bundespolitisch herrschte große Unsicherheit, ob die Energieversorgung über den Winter für alle reichen wird. Gleichzeitig wurde Energie immer teurer, weil Deutschland kein Erdgas mehr aus Russland wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine bezieht. Unsicher war auch, ob diese Wirtschaftssanktionen überhaupt die gewünschte Wirkung entfalten würden. Ebenso bestand Unsicherheit, ob Deutschland mit seinen Waffenlieferungen in diesen Krieg hineingezogen werden könnte. Diese Unsicherheit kann sich dann auch darauf auswirken, ob die Demokratie derzeit als gut funktionierend beurteilt wird. Hinzu kommt aber auch noch die besondere Thüringer Situation, dass wir seit 2019 von einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung regiert werden.

Welche Rolle spielt es, dass Thüringen seit 2020 über eine Regierung verfügt, die keine eigene Mehrheit im Landtag hat?
Diese Minderheitsregierung der Linken, der SPD und der Grünen benötigt für all ihre Vorhaben Stimmen aus der Mehrheitsopposition, insbesondere von der CDU. In den ersten Jahren hat die CDU dies noch einigermaßen konstruktiv im Rahmen damals vereinbarten „Stabilitätspakts“ unterstützt und vor allem die nötigen Haushaltsgesetze mitgetragen. Während der Corona-Jahre 2020 und 2021 konnte die Landesregierung zudem vieles mit Verordnungen regeln, die zwar immer nur wenige Wochen galten, aber keine Zustimmung des Landtags benötigten. 2022 war damit Schluss. So wurde während der Befragung für den Thüringen-Monitor den ganzen Herbst über den Haushalt für 2023 hinter den Türen verhandelt und vor den Türen gestritten. Ob dieser Haushalt zustande kommt, war während der Befragung also noch nicht klar. Zudem hat der Haushalt des Vorjahres erst die Zustimmung der CDU gewonnen, als sich die Landesregierung einverstanden zeigte, kurzfristig 330 Millionen Euro in Form der sogenannten „globalen Minderausgabe“ einzusparen. Auch mit solchen Einschnitten mussten die Thüringerinnen und Thüringer im Herbst 2022 wieder rechnen. Insofern hatte wir auch auf Landesebene eine große Unsicherheit darüber, wie es weiter geht. Noch problematischer sehe ich, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der globalen Minderausgabe nicht mehr sehen konnten, wen sie für diese Sparpolitik verantwortlich machen können. Denn die CDU hat die Sparsumme diktiert, aber es den Regierungsparteien überlassen, wo genau gespart werden soll. Wenn die Wählerinnen und Wähler aber nicht mehr genau wissen, wen sie für die Politik im Freistaat verantwortlich machen sollen, dann funktioniert die Demokratie nicht mehr so, wie es sein sollte. Genau das spiegelt sich jetzt in den Verlusten bei der Demokratiezufriedenheit.