Nachgefragt: "Welche soziologischen und sozio-politischen Faktoren begünstigen Schulmassaker in den USA, Frau Prof. Nassauer?"

Gastbeiträge

Newtown, Parkland, Uvalde – immer wieder werden in den USA Schüler*innen und Lehrende Opfer von Amokläufen. Und immer wieder stellt sich die Frage: Wie kann so etwas geschehen? Anne Nassauer, Professorin für Soziologie, insbesondere politische Soziologie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, erforscht, wie es zu solchen Schulmassakern kommen kann und welche Rolle unter anderem die US-Waffengesetze dabei spielen. Für unseren Forschungsblog "WortMelder" haben wir bei ihr nachgefragt: "Welche soziologischen und sozio-politischen Faktoren begünstigen Schulmassaker in den USA, Frau Prof. Nassauer?"

"In den USA kommt es immer wieder zu schweren Amokläufen und Massenschießereien, wie vergangene Woche in Texas, wo ein 18-Jähriger an einer Grundschule 19 Schüler*innen und zwei Erwachsene erschoss. Schulamokläufe sind eine besonders drastische Form der Gewalt, da Kinder oder Jugendliche in eine Schule gehen, um dort wahllos andere Kinder und Jugendliche, sowie Lehrer*innen und Schulpersonal zu töten. Diese Form der Gewalt ist für Gewaltforscher*innen interessant, da sie sehr schwerwiegend ist, auf den ersten Blick sinnlos erscheint, und nach wie vor viele Fragen aufwirft.

Ich beschäftige mich seit sieben Jahren in meiner Forschung damit, wie es zu diesen Taten kommt und wieso sie in den USA so viel häufiger vorkommen. Ich analysiere und vergleiche dafür alle Schulamokläufe, die in den USA stattgefunden haben – bislang mehr als 70 solcher Taten. Die Forschung betont häufig die Rolle von psychologischen Faktoren (wie psychischer Erkrankung), sozialen Faktoren (wie Mobbing) und rechtlichen Rahmenbedingungen (wie Waffenzugang). Ich vergleiche in meiner Analyse diese und weitere Aspekte.

Meine Forschungsergebnisse zeigen zunächst, dass unser Bild von Amokläufern meist stark verzerrt ist. Amokläufer werden häufig, wie auch jetzt nach der Tat in Uvalde, Texas, als 'Psychopathen' bezeichnet, die gern töten und kaltblütig und effizient ihre Opfer erschießen. Wenn wir uns jedoch vergleichend ansehen, was die Täter(*) eint, zeigt sich ein anderes Bild: Die Mehrheit der Amokläufer scheint sich zur Zeit der Tat durch ein Zusammenkommen von sozialen, kulturellen und häufig auch psychologischen Faktoren in einer als ausweglos wahrgenommenen Situation zu befinden, die sie mit einem Amoklauf zu lösen versuchen.

Täter sind häufig sozial stark marginalisiert, werden immer wieder von Mitschüler*innen drangsaliert und gequält, zu Hause geschlagen oder missbraucht und leiden oft unter schweren, unbehandelten psychischen Erkrankungen. Viele der Täter suchen einen Ausweg aus dieser Situation: Sie wechseln auf eine neue Schule, werden aber wieder gemobbt; sie kommen in eine neue Pflegefamilie oder ziehen zu einem anderen Elternteil, werden aber wieder misshandelt oder missbraucht; sie versuchen sich psychologische Hilfe zu holen, werden aber stigmatisiert oder können diese nicht bezahlen, da ihre Familie nicht ausreichend krankenversichert ist. Viele wenden sich an Erwachsene und bitten um Hilfe gegen Mobbing oder psychische Probleme, erhalten aber keine Unterstützung.

Der Amoklauf bietet in ihren Augen die Möglichkeit, einen Platz in der Gesellschaft zu finden."

In mehreren Fällen überlegen spätere Täter, dem Militär beizutreten. Sie hoffen, so ihrem sozialen Umfeld der Ausgrenzung und des Missbrauchs zu entkommen. Sie suchen nach einem neuen Leben mit geregeltem Ablauf sowie klaren Aufgaben und Pflichten und der Möglichkeit, Freunde zu finden. Sie werden aber vom Militär nicht angenommen – häufig aufgrund psychischer Probleme – und stehen wieder vor der Situation, keinen Ausweg für ihr Leben zu sehen. Viele der Täter haben zudem von sich aus kein gutes Problemlösungsverständnis und sehen bei sich selbst wenig Handlungsspielraum.

Häufig kommt Tätern in dieser für sie als ausweglos erscheinenden Situation die Idee eines Amoklaufs, da sie einen Amoklauf im US-Fernsehen sehen oder Klassenkamerad*innen sie damit aufziehen, 'der nächste Amokläufer' zu werden. Der Amoklauf bietet dann in ihren Augen die Möglichkeit, ihr Leben für immer zu verändern und ist zudem für viele ein 'männlicher' Weg heraus aus der wahrgenommenen Sackgasse. Amokläufe ermöglichen den Tätern in ihren Augen, ihre Rolle in der Gesellschaft drastisch zu wandeln, denn sie werden plötzlich vom perspektivlosen 'Niemand' zum 'Amokläufer'. Indem sie wahllos Menschen erschießen, tun sie also etwas in extremem Maß Unsoziales, schaffen so aber einen sozialen Neuanfang. Der Amoklauf bietet in ihren Augen die Möglichkeit, einen Platz in der Gesellschaft zu finden – und das, ohne dass sie andere argumentativ überzeugen oder sich mit einem System auseinandersetzen müssen, dem sie sich nicht gewachsen fühlen. Die Tat schafft unveränderliche neue Tatsachen.

Die Mehrheit der Amokläufer überlebt daher die Tat. Viele sehen mit positiven Erwartungen dem Leben im Gefängnis entgegen. Im Gefängnis erhoffen sie sich ein stabiles geregeltes Umfeld, in dem sie klare Aufgaben und Pflichten sowie einen geregelten Tagesablauf haben und Freunde finden können. Für viele verspricht das Gefängnis also die soziale Einbettung, die sie sich gewünscht haben, und die einige bereits durch einen Beitritt im US-Militär versucht haben zu erreichen. Der Soziologie Erwin Goffman beschreibt beides, Militär und Gefängnis, durch ihre ähnlichen Funktionen als 'totale Institutionen'. Viele Amokläufer scheinen tatsächlich ähnliche Erwartungen an beide Institutionen zu knüpfen, an ein Leben, das ihnen in der eigenen Wahrnehmung ansonsten verwahrt bleibt. Einer der Täter wurde beispielsweise vom Stiefvater eines Freundes sexuell missbraucht, in der Schule gemobbt und geschlagen und hatte mit Depressionen zu kämpfen. Seine Hilferufe wurden aber mehrfach vom Schulpersonal ignoriert. Nach seinem Amoklauf sagte er über die Hintergründe der Tat: 'Ich wollte ... ich wollte einfach weg von allen und nicht mehr da sein'. Ein anderer Täter sagte im Hinblick auf seine lebenslange Haftstrafe: 'Nun habe ich immerhin ein Leben. Ich werde keinen Beruf haben, aber ich habe ein Leben'. Viele beschreiben später, wie sie im Gefängnis Freunde fanden, mit denen sie Basketball oder Karten spielten, die ihnen zuhörten und für sie da waren. Wir sehen also in der überwiegenden Mehrheit der Täterprofile das Gegenteil vom psychopathischen Killer, der Freude daran hat, andere zu töten. Das zeigt sich auch daran, dass mehr als 25 Prozent der Amokläufer während ihrer Tat keine einzige Person töten.

Schusswaffenbesitz ist in einigen Teilen der USA so weit verbreitet, dass es nicht ungewöhnlich ist, eine Schusswaffe in der Wohnung herumliegen zu haben."

Ein weiterer wichtiger Faktor für Amokläufe ist der Waffenzugang, der sich für alle Täter erstaunlich einfach gestaltet. Nehmen wir als Beispiel den Täter, der vor einer Woche in Texas 21 Menschen tötete: Er konnte seine zwei Sturmgewehre nach seinem 18. Geburtstag legal kaufen. Eine Woche später beging er seinen Amoklauf. Ähnlich konnte der Täter, der an seiner Oberschule in Florida im Jahr 2018 einen Amoklauf verübte, sein Sturmgewehr und weitere Waffen legal erwerben. Er lernte schießen in einem von der National Rifle Association (NRA) finanzierten Schießkurs, den er an der gleichen Schule belegte, wo er später 17 Menschen tötete und 17 weitere verletzte.

Vergleichen wir alle Amokläufer, zeigt sich allerdings: Die meisten Attentäter waren jünger als 18 Jahre und konnten deshalb ihre Waffen nicht legal erwerben. Doch auch für sie war der Waffenzugang einfach: Viele konnten beispielsweise die Schusswaffe für den Amoklauf aus dem Nachtschrank der Eltern entnehmen, hatten ungehindert Zugang zum Waffenschrank der Familie oder fanden die Waffe im Küchenregal. Schusswaffenbesitz ist in einigen Teilen der USA so weit verbreitet, dass es nicht ungewöhnlich ist, eine Schusswaffe in der Wohnung herumliegen zu haben. Laut Umfragen besitzen drei von zehn Amerikanern eine Waffe und sieben von zehn Amerikanern haben schonmal eine Waffe abgefeuert. Die USA sind eines der Länder mit den meisten Todesopfern durch Schusswaffen unter allen Industrienationen. Im Jahr 2020 waren Waffen erstmals – vor Autounfällen –  die häufigste Todesursache für Kinder und Jugendliche in den USA. Viele Eltern der Täter beschreiben zudem, dass das Freizeit-Sportschießen eines der Haupthobbys der Familie war. 'Es gibt hier nicht so viel, was eine Mutter und ihr 16-jähriger Sohn sonst gemeinsam machen können', so die Mutter eines Amokläufers nach der Tat über das gemeinsame Sportschießen. Auffällig ist: In meiner Analyse aller Schulamokläufe die in den USA stattfanden, gibt es nicht einen Fall, in dem der Täter größere Anstrengungen unternehmen musste, um an eine Schusswaffe zu gelangen.

In den USA hat sich mittlerweile eine ganze Industrie rund um Schulamokläufe entwickelt."

Warum es in den USA so viel mehr Amokläufe gibt als in anderen Ländern ist abschließend schwierig zu beantworten, da für einen Amoklauf sehr viele Faktoren zusammentreffen müssen und Schulamokläufe weiterhin statistisch sehr selten sind. Trotz der hohen Anzahl an Amokläufen in den USA hat dort in der überwiegenden Anzahl der Schulen noch nie ein Amoklauf stattgefunden. Allerdings sehen wir in Vergleichen von Tätern aus den USA, dass viele sich in einem sozialen Druckkessel befinden, aus dem sie keinen Ausweg sehen. In den USA gibt es, im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern, ein schwächeres Sozialsystem: Kindern aus zerrütteten Familien mangelt es oft an Unterstützung durch das Sozialamt, Schulen mangelt es an Personal, das psychologische Betreuung leisten kann, und Menschen mit psychischen Auffälligkeiten haben es oft schwerer, psychologische Hilfe zu erhalten. Es gibt zudem spezielle Maskulinitätsvorstellungen in den USA und Mobbing kann gerade an Oberschulen sehr ausgeprägt sein. All diese Faktoren, so zeigt sich, begünstigen Amokläufe – besonders wenn sie zusammentreffen. Hinzu kommt in den USA, dass Amokläufe so 'üblich' sind, dass Täter und ihr Umfeld sie als reale Option des Auswegs sehen, wenn nichts anderes zu funktionieren scheint. Der einfache Zugang zu Schusswaffen macht Amokläufe dann zu einem als einfach wahrgenommenen Weg hinaus aus der Sackgasse. Dieses Zusammenspiel von Faktoren scheint zu einer tödlichen Mischung zu führen.

Bislang mangelt es weiter an Lösungsansätzen. In den USA hat sich mittlerweile eine ganze Industrie rund um Schulamokläufe entwickelt: Es gibt Konferenzen zu Schulsicherheit auf denen Buchumschläge verkauft werden, die mit Kevlar beschichtet sind und so Kugeln abhalten sollen, oder Tische, die Schüler*innen als Schutzschilde umbauen können. Es werden Millionen ausgegeben, um an Schulen Metalldetektoren anzuschaffen und bewaffnetes Sicherheitspersonal einzustellen. Schüler*innen werden zunehmend kriminalisiert und von Amok-Drills traumatisiert. Wichtiger erscheint es jedoch, gerade Kindern und jungen Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder schwierigen Familienverhältnissen und solchen, die Ausgrenzung erleben, Hilfe und Lösungsansätze anzubieten. Es erscheint hilfreich, toxische Maskulinitätsvorstellungen abzubauen und Kindern zu helfen, ein positives Selbstbild und Problemlösungsverständnis zu entwickeln. Zudem scheint es sinnvoll Mobbing zu bekämpfen, und den Zugang zu Schusswaffen zu erschweren. All diese Maßnahmen können nicht nur Amokläufe unwahrscheinlicher machen, von ihnen könnten alle Kinder im Schulalltag profitieren."

(*) Ich wähle hier bewusst die maskuline Form „Täter“, da es sich bei den Tätern um Männer handelt. Nur in einem Schulamoklauf in den USA mit zufällig gewählten Opfern war die Täterin weiblich.

Kontakt:

Inhaberin der Professur für Soziologie, insbesondere politische Soziologie
(Staatswissenschaftliche Fakultät)
Lehrgebäude 1 / Raum 0135