Meister Eckhart und das Erfurter Tanzbein

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Professor Dietmar Mieth sitzt in seinem kleinen, hellen Büro im Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Die Regale sind halb gefüllt mit Büchern, viele davon seine eigenen Publikationen, Schreibtisch und Besprechungstisch sind übersät mit Manuskripten. Gerade bereitet sich Mieth auf einen Vortrag am Abend vor. Der Wissenschaftler pendelt zwischen Tübingen und Erfurt, zwischen seinen "postemeritalen" Tätigkeiten als Bioethiker und seiner Aufgabe als Leiter der Meister Eckhart-Forschungsstelle der Uni Erfurt.

Prof. Dr. Dietmar Mieth
Prof. Dr. Dietmar Mieth

"Meister Eckhart kann man nicht mit dem Tanzbein zu den Menschen bringen", stellt der Theologe seufzend fest, ohne zu wissen, dass seine Aussage ein wenig wie das Fazit eines ersten eckhartschen Lektüreversuchs klingt: Eckhart ist extrem textlich, seine Schriften sehr intellektuell, vieles muss man mehrfach lesen, um ihn – wenn überhaupt – zu verstehen. Aber in seinen Texten scheinen viele auf verschiedene Weise für sich einen Kern zu finden. Gerade das ist das Geheimnis der weltweit anhaltenden Faszination des mittelalterlichen Dominikanermönches, der von Muslimen, Christen, Zen-Buddhisten und Juden gleichermaßen gelesen wird. Als "Erfinder der Gelassenheit" wie ihn Deutschlandfunk kürzlich bezeichnete, ist Meister Eckhart aktueller denn je – heute, in dieser schnelllebigen Zeit, in der sich die Menschen mit Achtsamkeit und Entschleunigung gern auch wieder auf das Wesentliche rückbesinnen. Eckhart freilich hatte mit Gelassenheit gemeint, dass man sich ganz Gott überlassen kann. Aber wie transportiert man das zu den Menschen da draußen? In Erfurt verbrachte der Mystiker, der aus Tambach in Thüringen stammt, also hier seine Wurzeln hat, bedeutende Teile seines Lebens und Wirkens. Dennoch wird er hierzulande – anders als oft in Westdeutschland – kaum im Schulunterricht behandelt. Ostdeutsche Schüler lernten früher selten Eckhart, den Theologen, den Lehrer der Lebenskunst und Philosophen oder das deutsche Sprachgenie kennen. Ein Zustand, der auch Dietmar Mieth umtreibt. Aber er hat inzwischen die Erfahrung gemacht, dass sich dies an Erfurter Schulen ändert. Seit mehr als 50 Jahren forscht er zu Meister Eckhart von Hochheim. "Meister" ist die Übersetzung von "Magister", weil Eckhart – eine sehr ehrenvolle Auszeichnung – zwei Mal in Paris an der Universität wirkte. Dietmar Mieths Anliegen beschränkt sich längst nicht nur auf die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch darauf, wie man die Öffentlichkeit in die Eckhart-Forschung einbeziehen kann.

Um Meister Eckhart scharen sich einige Geheimnisse und Mythen: So gibt es von seinen Schriften keine eigenhändigen Exemplare mehr. Es gibt keine zeitgenössische Abbildung von ihm, alle Bilder sind rein erfundene Darstellungen, wie er ausgesehen haben könnte. Auch, dass die Zitate, die mittlerweile im Internet kursieren, nicht immer von ihm stammen, gibt Mieth zu bedenken. Genauso schwer greifbar wie seine Person heute ist, sind im ersten Moment auch eine Reihe seiner anspruchsvollen Lehren. Seine philosophisch-theologischen Ansätze hat er oft im Anschluss an den  wichtigsten jüdischen Philosophen, Moses Maimonides, der einige Zeit vor ihm lebte, entwickelt. Oder er greift das  Erbe der arabischen Philosophen auf, die vor allem Aristoteles ausgelegt haben. Dabei  geht es ihm um die individuelle Gotteserkenntnis und um eine spirituelle Lebensführung. Seine Predigten kreisen um innere Freiheit und Loslösung von äußeren Behinderungen, was in der englischen Übersetzung "detachment" genannt wird, um das Göttliche im Menschen, um die Erfahrung als Nicht-Erfahrung. Nicht-Erfahrung heißt hier, dass man der spirituellen Ekstase, die er auch "jubilus", überhaupt dem religiösen Erlebnis nicht vertrauen soll, wenn es keine Änderung des Lebens bewirkt. Eckhart war ein freier Geist und er predigte auch freigeistig. Er machte kein Geheimnis daraus, dass die institutionalisierten Praktiken, wie sie auch die Kirche vorgab, ohne einen inneren Wandel nicht viel bewirken. Daran störte sich der Erzbischof von Köln nicht nur inhaltlich. Mieth meint: "Auch sein erhebliches Potenzial an geistigen Herausforderungen für die mündigen Bürgerinnen und Bürger hatte Störpotenzial. Man warf ihm die Intellektualität seiner Predigten vor und dass er damit die Geister der einfachen Menschen verwirre. Einige schlecht beleumundete Ordenskollegen denunzierten Eckhart schließlich, sei es aus Neid oder aus Hass auf seine Integrität. Dieser stellte sich den Vorwürfen der Häresie, also des Irrglaubens, in kluger Weise – indem er versicherte, jeden Irrtum zu widerrufen, der ihm nachgewiesen werden könne." Der Prozess wurde von Köln nach Avignon verlagert und zögerte sich dort bis nach dem Tod Eckharts (am 28.1.1328) hinaus. Der Papst inkriminierte auf Wunsch des Kölner Erzbischofes letztlich lediglich 28 Sätze als häretisch oder häresieverdächtig. So blieb ein grundlegender Teil seiner Lehre für die Nachwelt erhalten, die auch heute noch weltweit – insbesondere  in Japan, aber fortschreitend auch in Korea und China – Forscher wie Dietmar Mieth beschäftigt.

Mieth startete 1959 als Philosophie-Student in Freiburg seine Meister-Eckhart-Forschung. Was mit einem Seminar zu dem Theologen und Philosophen Nikolaus Cusanus, in dem auch dessen Beziehung zu Eckhart untersucht wurde, begann, führte 1968 zu Mieths theologischer Dissertation über den Magister, die bis heute nicht überholt ist und seither als Standardwerk gilt: "Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deuschen predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler". Danach schob Mieth gleich noch das Werk "Christus, das Soziale im Menschen, Texterschließungen zu Meister Eckhart" nach, das unter anderem im Dominikanerorden gelesen wurde. Seine erste Stelle als Professor für Moraltheologie erhielt Mieth 1974 (–1981) an der theologischen Dominikaner-Fakultät in Fribourg. Mit seinem Erstlingswerken begründete er seine anhaltende Eckhart-Expertise – obwohl er sich fortan hauptberuflich auf die Theologische Ethik konzentrierte. Er war der erste Laie (Nicht-Priester) auf einem zentralen katholisch-theologischen Lehrstuhl. Insbesondere begründete er dabei 1976 die "Narrative Ethik" mit Interpretationen zu Gottfried von Straßburg und zu Thomas Mann. Er gründete und leitete lange das "Internationale Institut für Ethik in den Wissenschaften" an der Universität Tübingen. Dafür und für die bioethische Politikberatung erhielt er 2007 das Bundesverdienstkreuz. Nach seiner Emeritierung im Jahr 2008 kann er auf eine ganze Reihe von Schülern schauen, die sehr unterschiedliche Professuren besetzen. Das Thema Meister Eckhart begleitete ihn dennoch sein ganzes Leben lang parallel: "In meinem Hauptberuf, den ich seit 1968 ausübe, findet sich Meister Eckhart so gut wie gar nicht auf eine direkt erkennbare Weise. Keiner meiner 15 Schüler, die mittlerweile international Lehrstühle innehaben, ist Eckhart-Forscher. Eckhart ist eben kein konkreter Ethiker, mit ihm kann man nicht unmittelbar praktische Probleme angehen, er dachte nicht über richtige und falsche Normen nach", erklärt Mieth. "Aber er ist jemand, der eine innere Haltung vermittelt. Mich persönlich fasziniert, dass er, wie er selbst sagt, nicht nur eine Lesemeister, sondern ein Lebensmeister ist, vor allem, aber nicht nur, für diejenigen, die sich dafür interessieren, wie man mit Religion in seinem eigenen Leben umgeht." Aber auch Atheisten wie z.B. Erich Fromm hat er sehr interessiert und Mieth hatte auf Einladung Fromms die Möglichkeit, diesen Teil des Buches "Haben oder Sein" mit vorzubereiten. Denn: Eckhart habe Vernunft und Glaube nicht auseinanderdividiert. Damit fordere er zum Denken heraus. Mieth sagt: "Ich habe seitdem niemanden mehr gefunden, der durch sein Denken so herausfordernd gewesen ist für mich, um diese Übersetzung zwischen Vernunft und Glaube zu leisten." So griff Dietmar Mieth immer wieder zu den Texten Eckharts, aus theologischen, aber auch aus spirituellen Gründen. Das war nicht ohne Risiko. "Es ist manchmal schwierig, seinen Platz zu finden in einer Kirche, in der man zu den Kritikern gehört", weiß der Wissenschaftler, der aufgrund seiner Ansichten – wenn auch nicht gefährdet wie Eckhart – ein kirchliches Verfahren durchlaufen musste. "Da braucht man Besonnenheit, etwas, mit dem man sich identifizieren kann und dafür musste für mich Meister Eckhart stehen. Ich betrachte ihn nicht als Revolutionär: Er hatte zwar Reformabsichten, aber er war eher ein ‚organischer Intellektueller‘, d.h., er hat immer versucht, innerhalb seiner Möglichkeiten und Gegebenheiten seinen Platz in der Kirche zu finden."

Aus diesen Gründen wurde Eckhart zum ständigen Begleiter eines Ethikers, der vor allem lange in europäischer  Bioethik und Biopolitik engagierte. (Sein Hauptwerk dazu: "Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik", Freiburg i.Br.  2002). Mieth las jedoch weiterhin Eckharts Texte, tauschte sich mit Wissenschaftlern über die aktuellsten Forschungen aus, verbesserte Eckhart-Übersetzungen, schrieb Bücher zum besseren Verständnis des Meisters, beteiligte sich an Veranstaltungen. 2004 war er Mitbegründer der Meister-Eckhart-Gesellschaft, 2008–2014 deren Präsident, bis heute deren Vize-Präsident. Mit Mieths Emeritierung rückte Meister Eckhart dann noch stärker in den Wissenschaftsfokus des Forschers. "Ich dachte, ich könnte eine neue Aufgabe gebrauchen. Erfurt kannte ich schon zu DDR-Zeiten. Dort war ich zwei Mal in den 80er-Jahren bei Tagungen im philosophisch-theologischen Studium. Später war ich an einer Promotion am Max-Weber-Kolleg beteiligt. Ich kannte Erfurt also gut und mir war stets bewusst: Irgendwie sollte es hier, wo seine Predigerkirche und sein Predigerkloster stehen und wo bedeutende lateinischen Handschriften in der Amploniana verfügbar sind, mehr zu Meister Eckhart geben. Köln hat den Meister Eckhart-Preis der Identity Foundation, Straßburg zelebriert die 'Rheinische Mystik', die auf Eckhart zurückgeführt wird." Also rief Mieth erst einmal Hans Joas an, den damaligen Leiter des Max-Weber-Kollegs, der ihn einlud, sich als Fellow zu bewerben. Für ein Jahr, dachte sich Mieth, "dann habe ich das Ministerium vielleicht soweit". Denn parallel schrieb der Eckhart-Experte auch den damaligen Ministerpräsident Dieter Althaus an mit seinem Anliegen – und geriet in einen jahrelangen ministerialen Prozess, an dessen Ende schließlich die Gründung der Meister Eckhart-Forschungsstelle an der Universität Erfurt als ein "Konzentrat der Eckhart-Forschung" stand. Aber das Anliegen einer Ausgabe der Thüringer Schriften Meister Eckharts steht noch aus. Mieth arbeitet aber mit seinem Nachfolger als Präsident der MEG, dem Altgermanisten Freimut Löser, an einer preiswerten Neuausgabe der "Erfurter Lehrgespräche" Meister Eckharts, die bislang unter dem Titel "Reden der Unterweisung" bekannt waren. Aus dem geplanten Jahr am MWK sind für Mieth inzwischen sieben geworden. Mittlerweile ist das Ansehen der Forschungsstelle unter Wissenschaftlern gewachsen, die Fellows kommen und bleiben, bringen neue Gesichter mit. Für Eckhart-Forscher sei Erfurt zu einer Art "Wallfahrtsort" geworden, freut sich Mieth.

Schon bald, zu den Erfurter Eckhart-Tagen (28.9.-1.10.2016), erscheint eine neue Publikation über die interreligiöse Konzeption Eckharts und ihre heutige Rezeption, vor allem in Ostasien. In diesem  Buch werden Transzendenz und Selbstüberschreitung als Gemeinsamkeit der Religionen untersucht. Mit dem nächsten Workshop der Forschungsstelle im Rahmen der Eckhart-Tage 2016 möchten die Eckhart-Forscher außerdem einen Blick auf den Begriff der Selbstbestimmung bei Eckhart im Mittelalter generell und in heutiger Perspektive werfen. Mit beiden Themen schaffen die Wissenschaftler den Bogen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, von der Theorie zum Leben. Und mit den nun alle drei Jahre stattfindenden Meister-Eckhart-Tagen, an dem sich das Max-Weber-Kolleg und die Forschungsstelle beteiligen, hat Dietmar Mieth sogar eine Möglichkeit gefunden, Eckhart doch noch zu den Menschen da draußen zu bringen: Schmuck, Kunst, Musik und Theater beinhaltet das diesjährige Programm – Versuche, aus der rein textlichen Ebene herauszukommen und Eckhart einem breiteren Publikum vorzustellen. Das Tanzbein scheint dann plötzlich doch nicht mehr so weit weg, nicht weiter jedenfalls als eines der nächsten großen Thüringer Jubiläumsjahre nach Luther 2017: der 700. Todestag Meister Eckharts im Jahr 2028.