Kleiner, aber feiner? Warum die Ablehnung von Kandidaturen durch „dramatische“ Mehrheiten für den Reformvorschlag ein Problem ist

Gastbeiträge
Featurebild "Kleiner, aber feiner?"

Der Entwurf der Ampel-Koalition zur Änderung des Gesetzes zur Wahl des Bundestags wird nicht nur im Bundestag, sondern auch in der Öffentlichkeit heiß diskutiert. Wegen der wachsenden Zersplitterung des Parteiensystems werden immer mehr Überhang- und Ausgleichsmandate nötig, wodurch der Bundestag immer größer geworden ist. Zurzeit hat er deshalb 736 Mitglieder, obwohl es eigentlich nur 598 sein sollen. Für die Zukunft ist es nicht ausgeschlossen, dass es sogar mehr als 800 werden könnten. Nach dem vorgelegten Entwurf wäre dies ausgeschlossen, weil für die Verteilung der Mandate nur noch die Hauptstimme (aktuell: die Zweitstimme) zählen würde. Die Sieger aus den Wahlkreisen (aktuell ermittelt mit der Erststimme) bekämen nur dann auch einen Sitz im Bundestag, wenn ihre Partei auch ausreichend Hauptstimmen erhält. Dadurch wären Überhangmandate ausgeschlossen und die damit verbundenen Ausgleichmandate nicht mehr nötig. Mit dem neuen Gesetz wäre sichergestellt, dass künftig nicht mehr als ca. 600 Abgeordnete im Bundestag Platz nähmen. Der Bundestag wäre also kleiner, aber wäre er auch feiner? In unserer kleinen Serie für den "WortMelder" beleuchten Prof. Dr. André Brodocz und Manuel Kautz von der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Uni Erfurt verschiedene Aspekte des neuen Gesetzesentwurfs dahingehend, wie sich die Repräsentation mit dem neuen Wahlrecht in Deutschland verändern würde. In der 4. und letzten Folge erläutern sie:

Warum die Ablehnung von Kandidaturen durch „dramatische“ Mehrheiten für den Reformvorschlag ein Problem ist

In der Begründung des Entwurfs für das neue Wahlrecht zum Bundestag antizipieren die Regierungsfraktionen die Kritik, dass einzelne Wahlkreise nicht besetzt werden könnten und insofern „verwaist“ wären. Sie sehen darin, dass Wahlsieger:innen in den Wahlkreisen nicht gewählt sein könnten, kein Legitimationsproblem – zumindest kein Problem, das schwerer wiegt als das „Legitimationsproblem“ des geltenden Wahlrechts. Dieses beruhe darauf, „dass für den Sieg im Wahlkreis lediglich eine relative Mehrheit erforderlich war (§ 5 des Bundeswahlgesetzes). Kandidaten, die von mitunter dramatischen Mehrheiten im Wahlkreis abgelehnt wurden, war dennoch ein Mandat sicher“ (S. 11 in der Begründung des Gesetzentwurfs). Hier sind Wahlkreissiege im Blick, für die weniger als 30% oder weniger als 25% der Erststimmen ausreichen. Solchen Siegen stehen Ablehnungen durch Mehrheiten von 2/3 oder sogar 3/4 aller Wähler:innen gegenüber. Würde man auch noch Nicht-Wähler:innen in dieser Rechnung berücksichtigen lägen die „Ablehnungswerte“ sogar noch höher. Bei der Bundestagswahl wird laut der Ampel-Koalition also nicht nur gewählt, sondern auch abgelehnt – zuweilen sogar durch „dramatische“ Mehrheiten.

Bedeutet die Wahl der einen Kandidatur immer auch die Ablehnung aller anderen?

Auf den ersten Blick ist dies ein starkes Argument – denn wie könnte jemand gewählt sein, gegen den/die sich eine so große und deshalb „dramatische“ Mehrheit entschieden hat? Die relative Mehrheit für eine Kandidatur im Vergleich zu jeder anderen einzelnen Konkurrenzkandidatur wird hier mit der absoluten Mehrheit all jener Stimmen abgewogen, die sich nicht für diese Kandidatur entschieden haben. Auf den zweiten Blick wird dieses abwägende Argument jedoch abgeschwächt, weil die Wahl einer/eines anderen Kandidat:in nicht zwingend auch immer die Ablehnung aller anderen bedeutet, sondern womöglich nur eine Bevorzugung. Andere Kandidat:innen können durchaus ebenfalls wählbar erscheinen, aber nur etwas weniger als jene:r, die/der die Wahlstimme am Ende bekommt. Wer sich für eine Kandidatur entscheidet, lehnt darum nicht zwingend alle anderen ab, sondern bevorzugt sie vielleicht nur gegenüber der Konkurrenz. In einem früheren Entwurf der Regierungsfraktionen wurde die Bevorzugung im Vergleich zur Ablehnung sogar eher noch als die Regel gesehen, die mit der Wahl verbunden ist. Denn in diesem Entwurf hätten die Wähler:innen die Option für eine Ersatzstimme bekommen, falls die als erste von ihnen bevorzugte Kandidatur mangels ausreichender Sitze für deren Partei es nicht in den Bundestag geschafft hätte. Dies hat man aber verworfen, weil zum einen „mit diesem Modell die Einführung einer weiteren Stimme verbunden [wäre], die in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde“ und zum anderen „bedeutete dies die größte Umstellung für die Bürgerinnen und Bürger beim Wahlakt selbst“ (S. 4 in der Begründung des Gesetzentwurfs).

Zweifellos wäre dies für sie eine große Umstellung, doch sind die Bürger:innen aus ihrer Teilnahme an Kommunalwahlen durchaus damit vertraut. Bei diesen kann ein:e Wahlberechtigte:r mehrere Stimmen auf Kandidat:innen mehrere Parteien verteilen (das sog. „Panaschieren“) oder mehrere Stimmen allein einer Kandidiatur zuteilen (das sog. „Kumulieren“). Je nachdem, wie gewählt wird, wird dabei auch deutlich, ob mit der Wahl auch eine Bevorzugung oder Ablehnung verbunden wird. Starre Wahllisten, auf deren Reihung die Wähler:innen keine Einfluss haben, sowie von den Parteien gesetzte Einzelvorschläge für den Wahlkreis, die den Wähler:innen keine Auswahl aus verschiedenen Parteikandidat:innen zu lassen, lassen nicht erkennen, ob mit der Wahl immer auch eine Ablehnung aller Alternativen verbunden ist oder nur eine Bevorzugung zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Problem haben wir schon im geltenden Wahlrecht; im Vorschlag für das neue Wahlrecht bliebe es erhalten. Dass viele Wähler:innen mit ihrer Wahl eher eine Bevorzugung verbinden, zeigt bereits unter dem geltenden Wahlrecht das sog. „Stimmensplitting“. Dabei wählen sie mit der Zweitstimme eine Partei, aber mit der Erststimme den/die Wahlkreiskandidat:in einer anderen Partei. Wäre für alle Wähler:innen mit der Wahl einer Partei immer auch die Ablehnung einer anderen Partei verbunden, dann müssten alle mit ihrer Erststimme auch die Kandidat:innen konsequenterweise als nicht wählbar behandeln, die nicht der Partei angehören, der sie ihre Zweitstimme gegeben haben – Stimmensplitting gäbe es dann allenfalls aus Versehen.

Die 5%-Hürde als dramatische Ablehnung von 95% der Wähler:innen

Dennoch kann man feststellen, dass auch schon unser geltendes Wahlrecht zum Bundestag in Form der „5%-Hürde“ von „dramatischen Ablehnungen“ nicht befreit ist. Zwar gilt die 5%-Hürde für Parteien in erster Linie als Mittel, um eine zu große Anzahl an Fraktionen im Bundestag zu verhindern, mit denen Regierungsbildung, Mehrheitsfindung und Arbeitsfähigkeit im Parlament erschwert werden könnten. Doch kann die 5%-Hürde auch so verstanden werden, dass eine Ablehnung von mehr als 95% der abgegebenen Stimmen so „dramatisch“ ist, dass deren Repräsentation nicht mehr ausreichend „legitim“ ist. An dieser „dramatischen“ Ablehnung von Parteien will der Entwurf festhalten. Auch fortan sollen Parteien mindestens 5% der Hauptstimmen benötigen, um Sitze im Bundestag zu erlangen. Wenn die 5%-Hürde also bedeutet, dass wir mit der Wahl einer Partei zugleich für die Ablehnung aller anderen Partei stimmen, dann wirft dies allerdings die Frage auf, ob auch das Nichtwählen hier legitimerweise als Ablehnung aller Parteien bei der Stimmauszählung berücksichtigt werden müsste. Das Abwägen eines Quorums an Stimmen für den Einzug einer Partei in den Bundestag mit der absoluten, sogar „dramatischen“ Mehrheit all jener Stimmen, die diese Partei nicht gewählt haben – sei es durch die Wahl einer anderen Partei oder gar keiner Teilnahme an der Wahl – hätte also weitreichende Folgen. Aber dies wäre wohl der Preis für die Konsistenz, wenn die Wahlentscheidung für eine Kandidatur als Ablehnung aller anderen verstanden werden soll.

Die Grenze zur dramatischen Ablehnung ist relativ

Selbst wenn man diesen Preis zu zahlen bereit wäre, bekommt man von der Ampel-Koalition keine konsistente Lösung dafür, bei welchem Quorum die Grenze für eine „dramatische“ Ablehnung liegt. Denn bei den Wahlkreiskandidat:innen ist die Hürde für eine „dramatische“ Ablehnung, anders als bei der 5%-Hürde für die Hauptstimmen für die Parteien, nicht fixierbar; und sie trifft nicht alle erfolgreichen Kandidaturen gleichermaßen. Parteiunabhängige Wahlkreisbewerbungen (die wir in Folge 2 näher beleuchtet haben) betrifft diese Hürde gar nicht; bei den von Parteien vorgeschlagenen Bewerbungen ist die Schwelle der dramatischen Ablehnung zudem unterschiedlich. Ab welchem Stimmenanteil eine Wahlkreisbewerbung so „dramatisch“ abgelehnt wird, dass eine Sitzzuteilung Legitimationsprobleme aufwirft, ist immer abhängig vom Hauptstimmenergebnis und den Ergebnissen der erfolgreichen Wahlkreiskandidaturen aus der jeweils eigenen Partei – kurz: dramatische Ablehnung ist relativ. Ein Wahlergebnis, das in einer Partei ausreicht, genügt nicht bei einer anderen Partei.

Dramatische Ablehnung durch die Hauptstimme und durch die Wahlkreisstimme

Warum können wir die erforderlichen Schwellenwerte, um als Kandidat:in nicht dramatisch abgelehnt zu werden, überhaupt miteinander vergleichen? Sind die Hauptstimme und die für sie geltende 5%-Hürde und die Wahlkreisstimme und die gerade erläuterten relativen Schwellenwerte je nach Partei nicht so unterschiedlich, dass sie sich gar nicht vergleichen lassen? Dieses Fragen führen uns am Ende unserer Serie zurück zum Grundcharakter des Reformvorschlags. Die Hauptstimme geben die Wähler:innen für die Liste einer Partei ab. Für das Ergebnis gibt das Verhältnis der gewonnenen Stimmen den Ausschlag. Die Wahlkreisstimme geben die Wähler:innen für eine:n Kandidat:in. Für das Ergebnis gibt hier (zumindest für Parteikandidat:innen) den Ausschlag, welche Kandidatur die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält und dass die mit dieser Kandidatur verbundene Partei auch ausreichend Hauptstimmen in diesem Bundesland bekommen hat.

Dass Hauptstimme und Wahlkreisstimme über diese Bedingung miteinander verknüpft sind, macht den entscheidenden Unterschied zu unserem bisherigen Wahlrecht. Diese Verknüpfung der beiden Stimmen bedeutet aber auch, dass sich nicht mehr unabhängig voneinander für beide Stimmen bestimmen lässt, wann für eine Partei oder Kandidatur Zustimmung oder Ablehnung vorliegt. Der Gesetzentwurf gibt hier (mit den in Folge 2 erläuterten Ausnahmen) eindeutig der Hauptstimme den Vorrang. Sie wird zur Bedingung für das Wahlkreisergebnis. Das lässt sich zu Recht kritisieren. Aber es lässt sich auch als konsequente Fortentwicklung des bisherigen Wahlrechts verstehen. Die Begründung des Gesetzentwurfs sollte dem in dieser letzten Folge geschilderten Problem jedoch zumindest Rechnung tragen: Die dramatische Ablehnung von Wahlkreiskandidaturen kann kein Argument gegen die bislang geltende personalisierte Verhältniswahl sein. Denn durch die Verknüpfung von Haupt- und Wahlkreisstimme ist nur konsistent, das Argument der dramatischen Ablehnung auch auf die Hauptstimme zu beziehen. Die öffentliche Diskussion und das weitere Gesetzgebungsverfahren werden zeigen, ob und wie die Regierungsparteien hier und hinsichtlich der in den ersten drei Folgen besprochenen Punkte offen für Kritik ist.