Wer wird nächster Ministerpräsident oder nächste Ministerpräsidentin in Thüringen? "WortMelder" hat bei André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt, nachgefragt. In loser Folge schreibt er hier über die Landtagswahl am 1. September – im vierten und letzten Teil über die unterschiedlichen Chancen der Spitzenkandidaten und der Spitzenkandidatin nach der Wahl in die Thüringer Staatskanzlei einzuziehen.
Vom 19. bis 23. August haben drei Meinungsforschungsinstitute jeweils noch einmal ca. 1.000 Thüringerinnen und Thüringer nach ihren Wahlabsichten für den kommenden Sonntag gefragt. Im Vergleich zu früheren Umfragen zeichnet sich kein generell neuer Trend ab. Wenige Tage vor der Wahl würden ungefähr 21–23% die CDU, 6–7% die SPD, 3-4% die Grünen, 13–14% die Linke, 30% die AfD und 17–20% das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wählen (vgl. https://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/thueringen.htm). Welche Chancen ergeben sich bei dieser Lage für die Spitzenkandidaten und Spitzenkandidatinnen der verschiedenen Parteien, dass sie eine künftige Landesregierung als Ministerpräsident oder Ministerpräsidentin anführen könnten?
Die Chancen von Mario Voigt (CDU) – gefühlte Wahrscheinlichkeit: 80 Prozent
Mario Voigt wird neuer Ministerpräsident, wenn CDU, BSW und SPD zusammen eine absolute Mehrheit im Thüringer Landtag erreichen. Zudem muss die CDU stärker als das BSW abschneiden. Beides legen die letzten Umfragen nahe. Wenn das Wahlergebnis dementsprechend ausfällt, besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass Mario Voigt neuer Ministerpräsident in Thüringen wird – entweder mit einer Mehrheitsregierung aus CDU, BSW und SPD oder mit einer Minderheitsregierung aus CDU und SPD, die vom BSW formell oder informell toleriert wird. Scheitern würde es unter diesen Voraussetzungen allenfalls daran, dass eine der Parteien am Ende doch nicht unbedingt regieren will, um dann genau dies den anderen vorzuwerfen.
Die Chancen von Katja Wolf (BSW) – gefühlte Wahrscheinlichkeit 40 Prozent
Katja Wolf wird neue Ministerpräsidentin, wenn das BSW stärker als die CDU abschneidet. Zudem müssen CDU, BSW und SPD oder Linke zusammen eine absolute Mehrheit im Thüringer Landtag erreichen. Letzteres ist sehr wahrscheinlich; Ersteres ist jedoch aktuell weniger wahrscheinlich, aber angesichts des knappen Abstands zwischen CDU und BSW nicht unmöglich. Allerdings wäre es sehr unwahrscheinlich, dass die CDU als Juniorpartner in eine solche Regierung einträte (vgl. Teil 1). Realisierbarer wäre in diesem Fall wohl nur eine Minderheitsregierung aus BSW und SPD, die von der CDU und den Linken (oder jeweils von Teilen aus beiden Fraktionen) gewählt und dann informell getragen wäre.
Die Chancen von Georg Maier (SPD) – gefühlte Wahrscheinlichkeit 10 Prozent
Georg Maier wird Ministerpräsident, wenn sich CDU und BSW auf keine Zusammenarbeit einigen können. Zudem müsste die SPD mehr als 5% erreichen. Letzteres ist angesichts der jüngsten Umfragewerte jedoch durchaus noch unsicher. Ersteres ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, könnte aber allein dadurch eintreten, dass das BSW stärker als CDU wird. Einigen sich CDU und BSW – aus welchen Gründen auch immer – nicht auf eine Zusammenarbeit bei der Regierungsbildung, dann hätte weder Mario Voigt noch Katja Wolf eine Mehrheit im Landtag sicher. Da sowohl die CDU als auch das BSW und ebenso die Linke eine Zusammenarbeit mit der SPD nicht grundsätzlich ausschließen, könnte in diesem Fall jede der Parteien in diesem „Notfall“ damit leben, eine SPD-Minderheitsregierung zu tolerieren. Bei der Regierungsbildung könnte aber alle darauf drängen, dass die SPD für einige Ministerposten „unabhängige Experten“ gewinnen müsse. Georg Maier wäre am Ende der lachende Dritte.
Die Chancen von Björn Höcke (AfD) – gefühlte Wahrscheinlichkeit 3 Prozent
Björn Höcke wird Ministerpräsident, wenn sich die anderen Parteien weder auf eine Mehrheits- noch auf eine Minderheitsregierung einigen können. Dazu könnte es kommen, wenn das BSW stärker als die CDU abschneidet. Zudem dürften sich die anderen Parteien weder auf eine von Katja Wolf oder von Georg Maier geführte Minderheitsregierung einigen können. Ersteres erscheint derzeit eher unwahrscheinlich, ist aber nicht unmöglich. Kommt es dazu, dann dürfte Zweiteres, die große Uneinigkeit unter den anderen Parteien, wer eine Minderheitsregierung in dieser Situation führen soll, dann vor allem in den ersten Wochen nach der Wahl drohen. Deshalb könnte die AfD in diesem Fall bereits sehr früh die Wahl von Björn Höcke zum Ministerpräsidenten auf die Tagesordnung des Thüringer Landtags setzen. Dieser hätte zwar in den beiden ersten Wahlgängen keine Aussicht auf eine absolute Mehrheit. Im dritten Wahlgang würden aber nur noch die meisten Stimmen ausreichen. Würden die anderen Parteien in diesem Wahlgang mehrere Gegenkandidaten aufstellen – etwas Mario Voigt und Katja Wolf – dann hätte Björn Höcke sehr gute Chancen, in diesem Dreikampf die meisten Stimmen zu erhalten, da er mit der AfD die größte Fraktion sicher hinter sich wüsste. Die anderen Parteien könnte zwar die Tagesordnung ändern, um es nicht zu diesem Dreikampf im dritten Wahlgang kommen zu lassen. Doch politisch wird es nicht einfach sein, wenn dies mehrfach so praktiziert werden müsste. Statt Georg Maier wäre es dann Björn Höcke, der sich als Dritter „ins Fäustchen lachen“ würde.
Die Chancen von Bodo Ramelow (die Linke): gefühlte Wahrscheinlichkeit 1 Prozent
Bodo Ramelow wird ziemlich sicher nicht noch einmal zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Denn die Linke wird vielleicht mehr als die Hälfte ihrer Stimmen im Vergleich zu 2019 einbüßen, AfD, CDU und wohl auch BSW werden sie in der Wählergunst übertreffen. Aber Bodo Ramelow wird sicher zunächst „geschäftsführend“ im Amt bleiben – rein rechtlich betrachtet kann dies sogar die ganze nächste Legislaturperiode andauern. Denn die Thüringer Landesverfassung kennt keine zeitliche Frist für die Bildung einer neuen Landesregierung, ebenso wenig begrenzt sie die Zeit einer bloß geschäftsführenden Landesregierung. Das kann solange anhalten, wie CDU, BSW und ggf. SPD keine Verständigung über eine neue Regierung erreichen. Zudem dürfte die AfD nicht auf eine Wahl des Ministerpräsidenten drängen. Je mehr Zeit nach der Wahl vergeht, desto wahrscheinlicher werden jedoch eine Verständigung unter den anderen Parteien oder Vorstöße der AfD zur Ministerpräsidentenwahl. Man könnte fast sagen, dass die Wahrscheinlichkeit für Bodo Ramelow, als Ministerpräsident im Amt zu verbleiben, jeden Tag nach der Wahl um wenigstens einen Prozentpunkt sinken wird. Dann bliebe er allenfalls noch einmal so lang geschäftsführender Ministerpräsident wie nach der Landtagswahl 2019. Und sollte sich die Geschichte tatsächlich auf diese Weise auf die Wiederholungsspur begeben, dann wäre wie schon 2019 sogar Thomas Kemmerich von der FDP als Ministerpräsident wieder denk- und wählbar, auch wenn seine FDP selbst an der 5%-Sperrklausel scheitern sollte (vgl. Teil 2). Denn der Ministerpräsident muss in Thüringen selbst nicht Mitglied des Landtags sein.