Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland in vielen Bereichen noch spürbar. Die „Wende“ ist noch nicht vollständig vollzogen – nicht im Lebensalltag, nicht in den Köpfen. Sie ist ein noch fortwährender Prozess, der weit über das geschichtsträchtige Jahr 1989/1990 hinaus wirkt, der die Gesellschaft seit drei Jahrzehnten prägt – und weiter prägen wird. Diese „lange Geschichte der ‚Wende‘“ war Untersuchungsgegenstand der gleichnamigen Forschungsgruppe unter der Leitung von Dr. Kerstin Brückweh, Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. WortMelder sprach mit der Historikerin über Alltagsgeschichte, Erinnerungsverschiebungen und leise Helden.
Frau Dr. Brückweh, Sie fragen mit Ihrer Forschung nicht nach dem vermeintlich „spezifisch Ostdeutschen“. Stattdessen fragen sie danach, wie Menschen die umfassende Systemwende nach 1989 in ihrem alltäglichen Leben erlebt und bewältigt haben. Damit sind Sie in Ihrer Forschung ganz nahe dran am „kleinen Mann“. Wie wichtig war Ihnen das?
Häufig liegt in der Erforschung großer Zäsuren der Fokus zunächst auf der Politik- und Wirtschaftsgeschichte – so war es auch bei den Ereignissen rund um die friedliche Revolution von 1989. Die vermeintlich seichteren Fragen nach dem Alltag und der Gesellschaft hinken dann hinterher. Aber gerade sie sind interessant und wichtig, wenn man erklären und verstehen will, warum es beispielsweise heute in Deutschland die Erfolgsgeschichten von Historikern aus der „alten“ Bundesrepublik gibt, wohingegen der sogenannte „kleine Mann“ in Ostdeutschland ganz andere Dinge erinnert und wichtig findet und somit auch zu einer anderen Bewertung der langen Geschichte der „Wende“ kommt. Hier fallen quasi die großen Erzählungen, die sogenannten Meistererzählungen, und die Erzählungen aus dem Alltag auseinander. Dem näher zu kommen, wie Menschen in ihrem Alltag einen alles umfassenden Systemwechsel erleben, gestalten und erfahren – in Ostdeutschland, aber auch anderswo – das interessiert uns. Noch ein Wort zum „kleinen Mann“: Ich mag die Formulierung nicht, weil sie aus meiner Sicht zu despektierlich ist, aber diese tatsächlichen und gefühlten Machtgefälle sind wichtig und ein Teil unserer Forschungen.
Wie nehmen Sie sich dieser Frage methodisch an? Mit welchen Mitteln arbeitet Ihre Forschung?
In unserer Forschungsgruppe „Die lange Geschichte der ,Wende‘. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989“ haben wir uns der Alltagsgeschichte gewidmet und sind Themen nachgegangen, die potenziell alle Ostdeutschen betrafen: Konsum, Schule, lokale politische Kultur und das Wohnen bzw. das Wohneigentum. Andere Themen wären natürlich auch möglich, aber das war unsere erste Auswahl. Wir haben diese Themen in verschiedenen ostdeutschen Dörfern, Kleinstädten und Großstädten lokal- oder mikrogeschichtlich untersucht. Das heißt auch, dass alle Personen berücksichtigt werden, die in diesen Räumen vorkommen. Bei meiner Untersuchung von Straßen, die ich Haus für Haus analysiert habe, wohnt bzw. wohnte dann eben auch der Funktionär neben dem Arbeiter. Wir haben dafür verschiedene Archivquellen aus der Zeit vor, während und nach 1989 verwendet. Außerdem haben wir sozialwissenschaftliche Forschungen, die in großem Umfang in den 1990er-Jahren durchgeführt wurden, zweitausgewertet, vor allem qualitative Interviews aus der Zeit. Wir haben aber auch lange Datenreihen, wie die Sächsische Längsschnittstudie, die schon ab 1987 erhoben wurde, analysiert und versucht, qualitative und quantitative Forschung zu verbinden – das ist aber noch ein weites Feld. Zusätzlich haben wir die Methode der „Oral History“ angewandt, also Interviews mit Zeitzeugen und -zeuginnen geführt.
Was müssen Historikerinnen und Historiker berücksichtigen, wenn Sie mit Zeitzeugen arbeiten? Wie schützt man sich etwa vor der Gefahr einer nostalgischen Verklärtheit oder aber davor, dass persönliche Erinnerung angesichts des weiteren Lebensweges nach 1990 verzerrt werden?
Durch die Vielfalt der Quellen verfügen wir über Einblicke in verschiedene Zeitschichten. Wir haben Quellen aus der DDR, aus der Kernzeit des Umbruchs 1989/90, aus den 1990er-Jahren und dann die Oral History Interviews von heute. Da gibt es tatsächlich wesentliche Unterschiede in der Erinnerung – das kennen alle Oral Historians. In unseren Forschungen wurde das besonders deutlich am Beispiel der Schule. Das konnte meine Kollegin aus der Sächsischen Längsschnittstudie entnehmen, für die regelmäßig dieselben Personen befragt wurden. Während 1989 erhebliche Kritik an der DDR-Schule geäußert wurde, wurde sie im Laufe der Zeit – zum Teil von ein- und derselben Person – immer positiver erinnert. Es geht uns aber nicht darum, quasi „falsche“ Erinnerungen oder „Verzerrungen“ aufzudecken. Vielmehr ist ja gerade erklärungswürdig, wo und warum diese Verschiebungen stattfinden, die über ein gewöhnliches Maß des „Die-Vergangenheit-durch-die-rosa-Brille-sehen“ hinausgehen. In unseren Forschungen zur langen Geschichte haben wir sehr starke Unterschiede festgestellt zwischen dem, was uns Zeitzeugen in Oral History Interviews erzählten – und dabei handelt es sich ja um eine ganz bestimmte Methode der Gesprächsführung – und dem, was Zeitzeugen bei öffentlichen Veranstaltungen oder vor Publikum erzählen. Auch das kennen Oral Historians, den Gesprächspartnern und -partnerinnen ist das aber oft nicht klar. Deshalb, aber auch weil die AfD zentrale Begriffe unseres Forschungsprojekts 2019 für ihre Wahlkampagne verwendet hat und wir gegen diese geschichtspolitische Vereinnahmung der „Wende“ empirisch belegte Fakten setzen wollten, sind wir mit unseren Forschungsergebnissen durch Ostdeutschland gereist und haben sie mit Menschen vor Ort diskutiert.
Gibt es generell so etwas wie ein Muster, das sich im Hinblick auf Emotionen, Hoffnungen und Enttäuschungen der betroffenen Menschen erkennen lässt?
Es gibt nicht „das“ Muster, sondern mehrere Muster. Wir haben deshalb immer wieder betont, dass es keine Meistererzählung aus der Perspektive des Alltags geben kann, sondern dass Differenzierung die neue Meistererzählung sein muss, dass also das Nebeneinander von mehreren Mustern ausgehalten werden muss. Vielfach ist ein Auseinanderfallen von Erwartungen an den Kapitalismus und die Bundesrepublik vor 1989 und den Erfahrungen der 1990er-Jahre zu erkennen. Interessant ist dann, wie dieses Auseinanderfallen begründet wird – da unterschieden sich die Menschen erheblich. Und auch verschiedene Themen und das Leben in der Stadt oder Dorf haben unterschiedliche Bedeutung im Leben von Menschen. Das Ankommen in der Konsumgesellschaft westdeutscher Herkunft war heftig, aber auch schnell abgeschlossen. Wohingegen andere Bereiche wie die Restitution von Wohneigentum nachhaltig die Erinnerungen – häufig negativ – geprägt haben. Das ist sehr gut nachzuvollziehen, wenn man sich überlegt, dass sich für Ostdeutsche ja alles auf einmal änderte. Das wird manchmal vergessen, wenn zum Beispiel mit Veränderungen im Ruhrgebiet verglichen wir. Es ist etwas ganz Anderes, wenn man die Arbeit verliert und zudem noch jahrelang darum bangen muss, ob man das Haus, das man teilweise jahrzehntelang gehegt und gepflegt hat, auch noch verliert. Der Alltag erscheint manchmal banal, aber doch strukturieren gerade die kleinen Routinen das Leben und prägen die Erinnerungen. Wenn in diesen Alltag ein Systemwechsel integriert werden muss, erfordert das vielfältige Anpassungen und bringt Unsicherheiten mit sich.
Gibt es in Ihrer Interaktion mit Zeitzeugen besondere persönliche Geschichten oder Erinnerungen an die Wendezeit, die Ihnen als Forscherin, aber auch als Mensch im Gedächtnis geblieben sind?
Ich habe definitiv Helden in meinen Quellen gefunden. Wenn mir zum Beispiel Menschen ihre Geschichten schildern, bei denen ich vor lauter Ungerechtigkeit meine möglichst objektive Haltung als Forscherin nur schwer wahren kann und (zumindest innerlich) ganz wütend werde. Und wenn mir diese Menschen dann sagen, „na ja, was mich angeht, ist das ein bisschen ungerecht, aber im Großen ist alles richtig gelaufen“, dann muss ich schon schlucken vor so viel menschlicher Größe.
Wir sind ja durch Ostdeutschland gereist und haben uns verschiedene Rahmen für Gespräche überlegt, bei denen wir durchaus die Leute, die sich gerne vor großem Publikum und am Mikrofon äußern, vor den Kopf gestoßen haben, weil wir das Podium zum Beispiel nicht für Fragen geöffnet haben. Aber wir wollten nicht die schon so oft öffentlich gehörten Erzählungen wieder und wieder hören. Sondern wir wollten auch diejenigen, die eine andere Geschichte und andere Einschätzungen haben, ermuntern, uns ihre Sicht zu erzählen. Wir wollten die leisen Stimmen hören und nicht die lauten. Das ist gelungen und war wirklich beeindruckend.
Thüringen im Besonderen und der Osten im Allgemeinen erleben derzeit politisch wie gesellschaftlich unruhige Zeiten, in denen es im öffentlichen Diskurs auch wieder darum geht, dass sich viele Ostdeutsche von der Politik aus Berlin nicht abgeholt fühlen. Ihr eigenes Forschungsprojekt trägt den Titel „Die lange Geschichte der ‚Wende‘“. Es drängt sich daher die Frage auf: Ist eben diese Wende noch gar nicht vollständig abgeschlossen?
In vielerlei Hinsicht sehe ich heute Themen und Probleme, die nicht mehr unmittelbar mit 1989/90 oder der DDR-Vergangenheit zu tun haben, zum Beispiel Digitalisierung, Globalisierung usw. Aber solange Menschen dies als eine Begründung anführen, ist die „lange Geschichte der ,Wende‘“ noch nicht vorbei. Außerdem gibt es neben der Ebene der Wahrnehmungen und Erinnerungen wirklich handfeste Unterschiede und Benachteiligungen Ostdeutscher gegenüber Westdeutschen, etwa beim Vermögen, die sich auch noch auf künftige Generationen auswirken.
Ich habe den Eindruck, dass im Moment Stereotype von Ost- und Westdeutschen noch einmal vertieft werden. Das finde ich sehr schade. Manchmal sogar von Ostdeutschen, die erst nach 1990 geboren sind. Wir versuchen, in unserer Forschungsgruppe ja auch zu betonen, wie viel Ostdeutsche in der Transformationszeit erreicht haben, und wir versuchen, Westdeutschen zu vermitteln, was Ostdeutsche in kurzer Zeit leisten mussten, wofür andere Jahrzehnte Zeit hatten. Unsere Ziele sind also ähnlich. Aber ich würde mich freuen, wenn mehr miteinander und weniger übereinander gesprochen wird, davon scheinen wir uns im Moment jedoch wieder zu entfernen.
Wann und wie werden Sie Ihre Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit präsentieren?
Wir sind im Januar 2020 auf eine Dialogreise zu den Untersuchungsorten gegangen und wir haben Zeitzeugen und Zeitzeuginnen ebenso wie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unsere Ergebnisse kommentieren lassen. Zugleich haben wir einen politischen Journalisten und eine bildende Künstlerin als Beobachtende mit auf die Reise genommen und uns quasi von ihnen evaluieren lassen. All das ist in dem Buch erhalten, das am 2. September im Ch. Links Verlag erscheinen wird. Am 28. Oktober werden wir es unter Corona-Bedingungen im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin präsentieren, aber auch schon vorher digital auf den Regionalbuchtagen des Börsenvereins. Ich bin gespannt, wie das Buch aufgenommen wird…