Bis Ende dieses Jahres sollen die drei letzten noch betriebenen Atomkraftwerke Deutschlands vom Netz genommen werden. So sieht es das 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vor, das 2011 nach den Ereignissen im japanischen Fukushima beschlossen wurde. Angesichts der Energiekrise, die der Krieg in der Ukraine ausgelöst hat, und das Näherrücken dieses Termins kreist die öffentliche Debatte nun um die Frage, ob abgeschaltete Kraftwerke reaktiviert werden können oder ob die Laufzeit der verbliebenen Meiler verlängert werden sollte. Letzteres forderten kürzlich auch zahlreiche Wissenschaftler*innen in der sogenannten „Stuttgarter Erklärung“. Einer der Unterzeichner ist Gerhard Wegner, Professor für Institutionenökonomie und Wirtschaftspolitik an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Einst demonstrierte er selbst gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf, doch in den vergangenen Jahrzehnten sei die Welt eine andere geworden. Wir müssen pragmatischer denken, fordert er deshalb in seinem Plädoyer FÜR die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken in Deutschland:
Die deutsche Energiepolitik ist seit mehr als 20 Jahren durch zahlreiche Strategiewechsel gekennzeichnet. Diese betreffen sowohl die Atomenergie als auch die Förderung der Erneuerbaren Energien. Allein sechs Novellen des ersten Gesetzes zur Förderung der Erneuerbaren Energien im Jahr 2000 bekunden, dass kostentreibende Fehlanreize den Gesetzgeber immer wieder zu Kurskorrekturen gezwungen haben. Ähnlich einer vor allem in den 1970er- und 80er-Jahre aktiven „Atomlobby“ entwickelte sich eine Lobby von prächtig verdienenden Betreibern erneuerbarer Energien, die sich keine Gedanken machen mussten, ob der von ihnen ins Stromnetz eingespeiste Strom gebraucht wurde und welche Kosten dabei entstanden. Diese gravierenden Fehlentwicklungen konnten nur unter großen Mühen und mit extrem langen Übergangsfristen korrigiert werden.
Die Atompolitik wiederum sah zunächst einen langfristigen Ausstieg aus der Atomenergie bei Laufzeitbegrenzung vor (2002), dann eine Rücknahme der Laufzeitbegrenzung durch den Regierungswechsel (2010), sodann einen erneuten forcierten Atomausstieg vor dem Hintergrund des Reaktorunglücks in Japan (2011). Besonders der zuletzt forcierte Atomausstieg durch die Merkel-Regierung im Jahr 2011 litt unter einem erheblichen Defizit an rationaler Begründung. So berief die Bundeskanzlerin zur Entscheidungsvorbereitung eine Kommission ein, der u.a. der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, der Präsident des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Alois Glück (CSU), und der Landesbischof der evangelischen Landeskirche in Baden, Ulrich Fischer, angehörten – gewiss respektable Persönlichkeiten, aber sachfremder konnte eine „Expertenkommission“ kaum besetzt sein, um über einen wichtigen Teil der künftigen deutschen Energiepolitik zu befinden.
Angesichts der schockierenden Bilder nach dem japanischen Reaktorunglück entstand das Bild einer unkontrollierbaren Energiequelle, die einen schnellen Ausstieg erzwingen würde. Auch der damalige Bundesumweltminister Röttgen sprach davon, dass sich in Fukushima das „Restrisiko“ der Atomenergie realisiert habe. Dem widersprach allerdings zu Recht das Bundesverfassungsgericht: Anders als in Deutschland stehen in Japan Atomkraftwerke auf Erdbeben gefährdetem Gebiet, wogegen sie sogar gesichert sind. Ungesichert waren sie gegen Tsunamis, obwohl diese statistisch alle 30 Jahre auftreten – hier wurde kein „Restrisiko“, sondern eine konkrete Gefährdung bewusst von der Regierung in Kauf genommen. Dass die Situation in Japan nicht auf Europa übertragbar ist, wurde auch allgemein verstanden – allerdings nur in unseren europäischen Nachbarländern, die keine vergleichbaren Kurswechsel vornahmen. In Deutschland drangen rationale Argumente nur in der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch, nicht jedoch im öffentlichen Diskurs, was zu erheblichen Entschädigungszahlungen der Kraftwerksbetreiber führte.
eine Strategie [...], die sich heute vor dem Hintergrund der aktuellen Lage als eine schwere Hypothek darstellt.
Mit dem Beschluss zum beschleunigten Atomausstieg, der Ende dieses Jahres abgeschlossen sein soll, war die deutsche Energiepolitik auf eine Strategie festgelegt, die sich heute vor dem Hintergrund der aktuellen Lage als eine schwere Hypothek darstellt. Der Ausstieg aus der Atomenergie bei gleichzeitigem, damals noch nicht konkret gefasstem Ausstieg aus Braun- und Steinkohle als Energieträgern bedeutete den Verzicht auf eine grundlastfähige Stromerzeugung. Diese konnte nur noch durch Gaskraftwerke bereitgestellt werden, welche zudem als regelbare Energie für Stromausfälle bei den erneuerbaren Energien („Dunkelflaute“) gebraucht wurden.
Inzwischen hat sich die Lage in mehrfacher Hinsicht entscheidend verändert. Noch 2011 ging die Bundesregierung davon aus, dass der Ausstieg aus der Atomenergie durch vermehrten Import russischen Erdgases vergleichsweise kostengünstig kompensiert werden könne. Die Sicherheit der Energieversorgung wurde nicht infrage gestellt. An dieser Beurteilung hielt die Bundesregierung auch fest, nachdem Russland mit der Krimannexion und der Besetzung der Ostukraine immer aggressiver die Friedensordnung in Europa bedrohte. Der Bau der Erdgas-Pipeline Nordstream II dokumentierte diese Sorglosigkeit, an der auch die jetzige Bundesregierung bis zuletzt festhielt. Die russische Politik der Bedrohung setzte aber bereits im Sommer 2021 das Gas als Waffe ein, um mit niedrigen Füllständen die Bundesregierung zum Anschluss an Nordstream II zu zwingen (was unnötig war, da die Bundesregierung ohnehin tun wollte, wozu sie Russland zwingen wollte). Damit verblieben der deutschen Energieversorgung nur noch Braun- und Steinkohle als grundlastfähige Energieträger.
Bei den gescheiterten Jamaika-Koalitionsverhandlungen 2017 drang die Verhandlungsdelegation der Grünen darauf, 20 größere Kraftwerksblöcke, die Kohle verstromen, vom Netz zu nehmen, während CDU und FDP lediglich die Hälfte angeboten hatten. Diese Forderungen waren maßgeblich von den alarmierenden Berichten des Weltklimarats zum Stand der Erderwärmung geleitet. Die Forderungen, welche in der anschließenden Großen Koalition dann gegenstandslos geworden waren, dokumentieren nachdrücklich, dass selbst im Jahr 2017 die Energiesicherheit immer noch als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, obwohl bereits viele Anzeichen dagegen sprachen. Nordstream II diente allein dem Ziel, die Ukraine als Durchleitungsland für Erdgas auszuschalten, allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sich Deutschland durch den Doppelausstieg aus fossilen Energieträgern und dem Atomausstieg in die gefährliche Abhängigkeit des russischen Gewaltregimes begeben hatte. Dieser Sachverhalt wurde freilich von den maßgeblichen politischen Verantwortungsträgern bis zuletzt konsequent ignoriert.
Der Strom von bereits amortisierten Atomanlagen ist der kostengünstigste überhaupt.
Der Weiterbetrieb der sechs Atomkraftanlagen (unter Einschluss der im Dezember 2021 abgeschalteten) bietet mehrere Vorteile, auf die die Bundesregierung angesichts der sich abzeichnenden Notlage und durch die Decke schießenden Energiekosten nicht verzichten sollte. Zwar hat der Wirtschaftsminister recht, dass man mit Atomstrom keine Heizungen betreiben kann. Aber die Atomanlagen können zumindest die zur Grundlast eingesetzten Gaskraftwerke entlasten. Zudem lässt sich eine Stromauskopplung von Kraft-Wärme-Anlagen vornehmen, welche nunmehr ausschließlich für die Wärmeproduktion eingesetzt werden können (was technisch nicht vollständig, aber überwiegend machbar ist). Atomstrom kann den fehlenden Strom der Kraft-Wärme-Kopplung dann kompensieren. Habecks Hinweis, dass man mit Strom nicht heizen könne, irritiert im Übrigen insofern, als die Energiewende diesen Umstand gerade ändern möchte; Heizen soll künftig ausschließlich über Strom (z.B. durch Wärmepumpen) erfolgen, wobei man sich vorstellt, diesen Strom durch grünen Wasserstoff bereitstellen zu können.
Hinsichtlich der Energiesicherheit bietet Atomstrom nach Untersuchungen des Weltenergierats eine sehr hohe Verlässlichkeit, worauf es derzeit entscheidend ankommt. Aber auch die Kostenbilanz fällt extrem günstig aus. Der Strom von bereits amortisierten Atomanlagen ist der kostengünstigste überhaupt und unterbietet selbst die Kosten Erneuerbarer Energien. Die von Katrin Göring-Eckardt (Bündnis90/Grüne) und anderen verbreitete Darstellung von angeblich extrem günstigen Kosten für Erneuerbare Energien hat einen entscheidenden Schwachpunkt. In dieser Rechnung werden nur die Stromgestehungskosten berücksichtigt, nicht aber die sogenannten Systemkosten, die bei der Integration in das Stromnetz anfallen (z.B. Back-up-Kosten für den Fall des Stromausfalls). Diese Systemkosten verteuern nicht nur den Grünstrom. Sie steigen auch mit wachsendem Zubau von Solar-, Windkraftanlagen etc.; denn es wird teurer, regelbare Anlagen bei Dunkelflauten vorzuhalten, was die Kapitalnutzungskosten der regelbaren Anlagen in die Höhe treibt. Der Zubau der Erneuerbaren Energien ist inzwischen in diesen kostenkritischen Bereich vorgedrungen. Hierin liegt auch der Grund, warum entgegen der behaupteten Kosteneffizienz erneuerbarer Energien („die Sonne schickt keine Rechnung“) tatsächlich Deutschland die höchsten Strompreise in Europa aufweist.
Die Systemkosten der erneuerbaren Energien würden mit dem Abschalten der Atomkraftwerke und weiterem Zubau nur noch weiter ansteigen. Umgekehrt kann aber Atomstrom durch Laufzeitverlängerung diese Systemkosten auffangen und damit auch die Kosten erneuerbarer Energien unter Kontrolle halten, abgesehen davon, dass Atomstrom (nach der CO2-Bepreisung von Kohlestrom) seinerseits der kostengünstigste Strom überhaupt ist. Versorgungssicherheit und Kostenkontrolle für erneuerbare Energien bilden somit entscheidende Vorzüge eines Weiterbetriebs der Atomanlagen. Auf ihren Lösungsbeitrag sollte nicht fahrlässig verzichtet werden.
Bleibt das Problem der Endlagerung von Atommüll. Hier liegt sicherlich der entscheidende Einwand gegen die Nutzung der Atomenergie. Jedoch: Für den bisherigen Atommüll müssen ohnehin Endlagerstätten gesucht werden. Der Weiterbetrieb der Atomanlangen schafft hier kein zusätzliches Entsorgungsproblem, wie der Bundeswirtschaftsminister in der Debatte zumindest anfangs noch behauptet hat.
Eine persönliche Bemerkung: Der Autor dieser Zeilen demonstrierte als Göttinger Student vor gut 40 Jahren bei eisiger Kälte in Brokdorf mit etwa 80.000 Demonstranten gegen den Bau des jetzt stillgelegten Atomkraftwerks. Die Erderwärmung war damals noch nicht als Problem erkannt, schadstoffarme Kohlekraftwerke galten als gangbare Alternative. Die Erkenntnisse haben sich in der Zwischenzeit geändert, weshalb der Autor seit etwa 20 Jahren seine radikale Ablehnung der Atomkraft zugunsten einer pragmatischeren Haltung aufgegeben hat. Dazu sollten sich auch Politikerinnen und Politiker der Grünen – von denen einige damals Seite an Seite mit dem Autor demonstrierten – aufraffen.
Prof. Dr. Gerhard Wegner
Inhaber der Professur für Institutionenökonomie und Wirtschaftspolitik
gerhard.wegner@uni-erfurt.de