Was bedeutet es, wenn Grüne und FDP bei der Thüringer Landtagswahl 2024 an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern sollten? "WortMelder" hat bei André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt, nachgefragt. In loser Folge schreibt er hier über die Landtagswahl am 1. September – in Teil 2 über die Auswirkungen der Fünf-Prozent-Sperrklausel auf die Regierungsbildung und das Regieren in Thüringen.
Wenigstens zwei der derzeit im Thüringer Landtag vertretenen Parteien müssen nach den aktuellen Umfragen um den Wiedereinzug bangen. Sowohl die FDP als auch die Grünen hätten zuletzt keine 5% der Wahlberechtigten mehr erreichen können. Mindestens 5% der abgegebenen Stimmen sind jedoch nötig, damit eine Partei mit Abgeordneten in den Landtag einziehen kann. Parteien, die weniger Stimmen bekommen, bleibt so der Einzug in den Landtag versperrt. Das trifft auch immer Kleinstparteien, die sogenannten „Sonstigen“. Insgesamt weisen die jüngsten Umfragen darauf hin, dass bis zu 10% aller abgegebenen Stimmen auf Parteien fallen könnten, die es am Ende nicht in den Landtag schaffen. Ebenso bedeutete dies, dass deren Wählerinnen und Wähler durch keine von ihnen gewählte Partei im Landtag repräsentiert wären. Ihre Stimme wäre dann ‚verschenkt‘. Einige der mit diesen Parteien sympathisierenden Wählerinnen und Wähler fragen sich deshalb, ob sie dieses Risiko der verschenkten Stimme eingehen oder vielleicht besser eine Partei wählen sollen, die sicher in den Landtag kommen wird.
Je mehr Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, desto niedriger ist die tatsächliche Hürde zur Regierungsbildung
Wenn neben den sonstigen Parteien diesmal auch FDP und Grüne an der Fünf-Prozent-Sperrklausel scheitern, würden unter Umständen über die Verteilung aller Abgeordnetenmandate nur 90% der Wahlberechtigten entschieden haben. Für eine Mehrheit der Abgeordneten im Landtag würden in diesem Fall schon 45% der Wahlstimmen reichen. Das könnten CDU und BSW allein zusammen erreichen, wenn sie jeweils noch ein bis zwei Prozentpunkte mehr bekämen, als die jüngsten Umfragen ihnen prognostizierten. Dann müssten nur zwei Parteien einen Koalitionsvertrag oder eine Tolerierung aushandeln; die SPD wäre als dritter Partner nicht mehr nötig (vgl. Teil 1). Ähnlich wahrscheinlich könnte es sein, dass die Linke und/oder die AfD davon profitieren. In diesem Fall könnten beide zusammen auch auf 45% der Wahlstimmen kommen. Dann würde es nicht für eine Regierung aus CDU, BSW und SPD reichen. Da die CDU weiterhin Zusammenarbeit mit der Linken und der AfD ausschließt, stünde Thüringen vor der gleichen Situation wie schon 2019 – keine politische Mehrheit ist möglich. Eine neue Minderheitsregierung müsste gebildet werden.
Je mehr Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, desto niedriger ist die tatsächliche Hürde für eine Sperrminorität
Dass nur 90% aller Wahlstimmen für die Sitzverteilung im Landtag entscheidend wären, falls Grüne und FDP die Fünf-Prozent-Hürde nicht nehmen, senkt aber nicht nur das Niveau für die Regierungsbildung von 50% auf 45%. Es wird auch einfacher, ein Drittel aller Abgeordneten zu erreichen. Dafür würden im Wahlergebnis dann bereits 30% der Stimmen reichen. Nach den jüngsten Umfragen wäre dies das Ergebnis, mit dem die AfD rechnen kann. Im Landtag hätte sie damit mehr Macht als bisher. Denn einige wichtige Entscheidungen kann der Thüringer Landtag nur treffen, wenn mindestens zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen. Erlangt die AfD also auf diesem Weg schon mit 30% der Stimmen mehr als ein Drittel der Mandate, könnte die Verfassung nur mit ihrer Zustimmung geändert werden. Ebenso könnten Verfassungsrichter nur zusammen mit der AfD ins Amt gewählt werden. Aber auch bei der Berufung von sonstigen Richterinnen und Richtern auf Lebenszeit würden die anderen Parteien im Landtag auf die AfD angewiesen sein. Denn dies geschieht durch den Richterwahlausschuss des Landtags, dessen Mitglieder eine Zweidrittelmehrheit im Landtag benötigen. Da dies in der Thüringer Landesverfassung festgelegt ist, ließe sich diese Anforderung ebenfalls nur mit Zustimmung der AfD ändern – gegen ihr Veto ließe sich niemand wählen. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Vetomacht wächst also, je weniger Parteien im Landtag vertreten sein werden.
Verwirft der Thüringer Verfassungsgerichtshof die Fünf-Prozent-Hürde?
Die Fünf-Prozent-Hürde kann also dazu führen, dass faktisch die 50-Prozent-Hürde für die Regierungsbildung auf 45% und die Hürde für die Vetomacht von 33,33% auf 30% gesenkt würde. In Thüringen war es deshalb bereits 2004 möglich, dass die CDU mit 43% der Stimmen mehr als 50% der Sitze im Thüringer Landtag erlangen und so eine Alleinregierung bilden konnte. Damals scheiterten Grüne und FDP an dieser Hürde; die AfD und das BSW gab es damals noch nicht. So waren im Thüringer Landtag am Ende nur drei Parteien vertreten: CDU, PDS (heute: Die Linke) und SPD. Die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) hat u.a. deshalb gegen diese Ungleichbehandlung bei der Mandatsverteilung von Parteien, die weniger als 5% der Stimmen erlangen, beim Thüringer Verfassungsgerichtshof im Juni 2024 eine Klage gegen die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Landtagswahlen in Thüringen eingereicht. Das Bundesverfassungsgericht hat vergleichbare Klagen gegen die bei Bundestagswahlen ebenfalls vorgesehene Fünf-Prozent-Hürde bisher vor allem damit abgelehnt, dass die Wahl auch auf eine stabile, auf Mehrheiten beruhende Regierungsbildung aus dem Parlament heraus abzielt. Dies hat in der Vergangenheit so schwer gewogen, dass Karlsruhe zum Wohle einer Mehrheit für die Regierungsbildung die Fünf-Prozent-Klausel vertretbar erschienen ist (vgl. zuletzt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 - 2 BvF 1/23 -, Rn. 1-293 hier: Rn. 241). Nachdem wir in Thüringen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Minderheitsregierung hatten, die über eine ganze Legislaturperiode regiert hat, hat dieses Argument zumindest historisch an Gewicht verloren. Doch im jüngsten Urteil zum neuen Wahlrecht für die Bundestagswahlen erklärt das Bundesverfassungsgericht erst vor wenigen Wochen zu diesen tatsächlichen Änderungen nur lapidar: „Die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung […] hat auch angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen rechtlichen und tatsächlichen Änderungen Bestand“ (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 - 2 BvF 1/23 -, Rn. 1-293 hier: Rn. 240). Sollte dies der Thüringer Verfassungsgerichtshof jedoch anders sehen, dann würden ungefähr 1,2% der Stimmen reichen, damit eine Partei einen von 88 Sitzen im Thüringer Landtag erhalten kann. Für die Angst seine Stimme bei der Wahl einer sogenannten „Kleinstpartei“ zu verschenken, bestünde dann weniger Anlass. Auch die 50-Prozent-Hürde zur Regierungsbildung sowie die 33,33-Prozent-Hürde für die Vetomacht, ließen sich dann ebenfalls nur mit 50% bzw. 33,33% der Sitze nehmen – Sein und Sollen wären zumindest wieder nah beieinander.