Alles Blödsinn!? (Teil 2)

Einblicke , Vorgestellt

"Guter Unterricht sollte zum individuellen Lernstil von Schüler*innen passen." // "In kleinen Klassen lernen Schüler*innen besser" // "Jungen sind in Mathe, Naturwissenschaften und Co. von Natur aus besser als Mädchen." // "Mit Klassenwiederholung können Schüler*innen mangelnde Leistungen aufholen." // "Privatschulen sind besser als öffentliche Schulen" // Oder wie wäre es hiermit: "Jungen sind in der Schule benachteiligt, weil es dort mehr Lehrerinnen als Lehrer gibt."
Das haben Sie so oder so ähnlich auch schon gehört? Vermutlich, denn solche Narrative gibt es im Bildungsbereich eine ganze Menge. Aber lassen sie sich auch wissenschaftlich belegen oder handelt es sich dabei schlicht um "Bildungsmythen"?

Jana Asberger wollte es genau wissen. Die studierte Psychologin ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Professur für Bildungsforschung und Methodenlehre, Universität Erfurt und beschäftigt sich mit Überzeugungen im Bereich der Bildung und des Unterrichts an Schulen. Sie fragt dabei unter anderem wie man Bildungsmythen erkennt und wie man sie am besten aufklären kann. Und inzwischen kennt sie eine ganze Reihe althergebrachter Glaubenssätze, die Lehrkräfte im Unterricht getrost ignorieren können. Ihr Wissen teilt sie nun auch mit einer breiten Öffentlichkeit – unter anderem in dem jetzt veröffentlichten Dossier "Bildung" der Bundeszentrale für politische Bildung und im Podcast "Besserwissen", den sie zusammen mit Madeleine Müller und Marcus Berger an der Universität Erfurt produziert.

Lesen Sie hier ihre Beiträge!
Teil 2: In kleinen Klassen lernen Schüler*innen besser

Die Klassengröße ist ein Dauerbrenner bildungspolitischer Diskussionen. Kleinere Klassen sind zum Beispiel eine zentrale Forderung der Gewerkschaft Erziehung und Unterricht (GEW), die Lehrkräfte in Berlin seit 2021 wiederholt dazu aufgerufen hat, für bessere Arbeitsbedingungen zu streiken. Die Annahme, dass Schüler*innen in kleinen Klassen grundsätzlich besser lernen, ist in der Öffentlichkeit weit verbreitet. Oft wird begründet, dass Schüler*innen in kleinen Klassen mehr individuelle Unterstützung bekommen, bessere Leistungen erbringen und Lehrkräfte weniger Belastung erleben. Auf den ersten Blick erscheint dieser Erklärungszusammenhang sehr einleuchtend. Auch innerhalb der Bildungsforschung wird über die Effekte kleiner Klassen diskutiert. Eines machen die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen jedoch deutlich: Dass kleinere Klassen grundsätzlich zu besseren Leistungen von Schüler*innen führen, ist eine grobe Vereinfachung.

Zur Rolle der Klassengröße gibt es einen umfangreichen internationalen Forschungsstand, der bis in die 1970er-Jahre zurückgeht (Filges u.a., 2018; Glass & Smith, 1978; Green & Iversen, 2022; Hattie, 2013; Mosteller, 1995). Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass kleinere Schulklassen die Interaktion zwischen Schüler*innen und Lehrkraft verbessern, die Unterrichtsbeteiligung von Schüler*innen erhöhen und zu besseren Lernleistungen führen (z.B. Etim u.a., 2020; Mosteller, 1995). Diese Auswirkungen zeigten sich vor allem in der Grundschule und bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund oder niedrigem sozioökonomischen Status. Gleichzeitig kritisieren andere Wissenschaftler*innen, dass kleinere Klassen nicht kosteneffizient sind und im Gegensatz zu anderen Maßnahmen nur wenig dazu beitragen, die Schulleistungen der Schüler*innen zu verbessern (Bowne u.a., 2017; Leuven & Løkken, 2017; Li & Konstantopoulos, 2017).

In einer umfassenden Metaanalyse, die die Ergebnisse von 164 Studien unterschiedlicher Länder zum Einfluss der Klassengröße zusammenfasste, kam Hattie (2013) in einer viel beachteten Studie zu dem Schluss, dass eine Verminderung der Klassengröße von 25 auf 15 Schüler*innen nur einen kleinen Effekt (Effektstärke d = .13) auf die Leistung der Schüler*innen hat. Demnach erweist sich der Einfluss unterschiedlicher Klassengrößen, wie sie in deutschen Schulen üblicherweise auftreten (und nur das lässt sich empirisch untersuchen), als eher gering. Ein paar Schüler*innen mehr oder weniger machen offenbar keinen spürbaren Unterschied für den Lernerfolg. Wenn man bedenkt, dass eine flächendeckende Absenkung von Klassengrößen in Deutschland schon um einige wenige Schüler*innen aufgrund der dafür zusätzlich benötigten Lehrkräfte immense Kosten nach sich ziehen würde (eine der wenigen bildungsökonomischen Schätzungen ergibt im Jahr 2010 allein für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Reduzierung der Schüler*innenzahl von 26 auf 24 zusätzliche Kosten von 700 Millionen Euro jährlich; A. Burchardt: "Kleine Klassen bringen wenig", Tagesspiegel vom 20.04.2010), erscheint dies – gerade angesichts chronisch knapper öffentlicher Finanzmittel und vor dem Hintergrund des aktuellen Lehrkräftemangels – wenig ratsam. Würde man dieselben Mittel für zielgerichtetere pädagogische Maßnahmen einsetzen, wäre wohl eine größere Wirkung zu erwarten. Die Metaanalyse von Hattie (2013) ergab einige andere vielversprechendere Einflussgrößen für den Lernerfolg von Schüler*innen, wie zum Beispiel kooperatives Lernen, das Aufstellen von Lernzielen (Advanced Organizers), gute Klassenführung, wiederholendes Lernen oder Feedback geben.

Es stellt sich dennoch die Frage, warum empirische Untersuchungen nur kleine Effekte von kleinen Klassen auf die Leistung von Schüler*innen zeigen, obwohl die Idee kleinerer Klassen naheliegend ist und vielversprechend erscheint. Eine Erklärung dafür liegt vermutlich in der Unterrichtsgestaltung: Es liegt auf der Hand, dass eine kleine Klasse nur dann die erwünschte positive Wirkung für die Lernentwicklung der Schüler*innen bringen kann, wenn das damit verbundene Potenzial für eine stärker individualisierte, das heißt auf Lernvoraussetzungen und -bedarfe der einzelnen Schüler*innen ausgerichtete, Unterrichtsgestaltung von den Lehrkräften tatsächlich genutzt wird. Allerdings nutzen Lehrkräfte kleine Klassen kaum für mehr Interaktion mit den Schüler+innen, mehr Gruppenarbeiten oder mehr Feedback (Hattie, 2013). Wenn man Lehrkräfte dafür schulen würde, Unterricht für kleine Klassen zu gestalten, könnten Unterrichtsstrategien, die auf individualisierten Unterricht abzielen, eher zum Tragen kommen. Die bloße Verringerung der Klassengröße scheint wenig zu ändern – weder am Unterricht noch an den Leistungen der Schüler*innen.

Gleichzeitig ist der Wunsch nach einer Absenkung der Klassengröße aus Sicht von Lehrkräften gut nachvollziehbar. Lehrkräfte stehen nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Heterogenität ihrer Schüler*innen, der Inklusion, der Integration von Geflüchteten, der Bearbeitung von Folgen der Corona-Pandemie und nicht zuletzt zunehmender Verwaltungsaufgaben unter allseitigen Herausforderungen. Sie erhoffen sich, dass kleinere Klassen Entlastung bringen, da weniger Unterrichtsstörungen auftreten, die Laustärke im Klassenzimmer geringer ist und es weniger Schüler*innen gibt, die überblickt werden müssen, Korrekturen und Feedback erhalten. Angesichts der großen Verantwortung, die Lehrkräfte tragen, liegt es im gesellschaftlichen Interesse, zumutbare Arbeitsbedingungen zu schaffen und die Gesundheit von Lehrkräften im Blick zu behalten.

Zusammengefasst finden sich die hohen Erwartungen, die an kleine Klassen geknüpft sind, empirisch allerdings nicht bestätigt. Eine allgemeine Aussage darüber, dass eine kleine Klasse besser sei als eine große Klasse, kann anhand der wissenschaftlichen Daten und Forschungslage nicht eindeutig getroffen werden. Vielmehr sollte der Einfluss von Klassengröße vor dem Hintergrund der Komplexität von Schulunterricht beurteilt werden. Das bedeutet, dass Entscheidungsträger*innen Aspekte wie Schülermerkmale, Unterrichtsstrategien und Lehrkräftegesundheit und ihre Wechselwirkungen sowohl untereinander als auch mit einer potenziellen Veränderung der Klassengrößen berücksichtigen sollten.

 

Weitere Beiträge veröffentlichen wir in loser Folge ebenfalls an dieser Stelle. (Hinweis: Diese Texte wurden erstmals unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autorin: Jana Asberger für bpb.de)

Oder lauschen Sie einfach den Folgen im "Besserwissen"-Podcast.Danach sind Sie definitiv schlauer.

Zum Weiterlesen...
  • Asberger, J., Futterleib, H., Thomm, E., & Bauer, J. (2022). Wie erkennt man Bildungsmythen? Sieben Heuristiken zum Selbsthinterfragen und Weitersagen. In G. Steins, B. Spinath, S., Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Hrgs.). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Berlin: Springer.
  • Bauer, J. & Asberger, J. (2022). Was Lehrkräfte im Unterricht getrost ignorieren können: Lernstile von Lernenden. In G. Steins, B. Spinath, S., Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Hrgs.). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Berlin: Springer.
  • Asberger, J., Thomm, E., & Bauer, J. (2021). On predictors of misconceptions about educational topics: A case of topic specificity. PloS ONE. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0259878. Open Data and open materials: osf.io/pnj6k/
  • Asberger, J., Thomm, E., & Bauer, J. (2020). Empirische Arbeit: Zur Erfassung fragwürdiger Überzeugungen zu Bildungsthemen: Entwicklung und erste Überprüfung des Questionable Beliefs in Education-Inventars (QUEBEC). Psychologie in Erziehung und Unterricht. doi: 10.2378/peu2019.art25d.