Verzerrte Erinnerungen

Corona und die Folgen , Einblicke
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Wie die gesellschaftliche Polarisierung unsere Erinnerung an die Corona-Pandemie verzerrt und damit die Vorbereitung auf künftige Krisen erschwert, zeigen Forschende aus Deutschland, Österreich und den USA jetzt in einem soeben erschienenen Beitrag im renommierten Fachjournal Nature. Unter den Autor*innen ist mit Prof. Dr. Cornelia Betsch auch eine Wissenschaftlerin der Universität Erfurt.

Im Mai 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation den globalen Corona-Gesundheitsnotstand aufgehoben und damit eine Phase der Evaluation eingeleitet. Hierbei werden innerhalb aber auch vergleichend über verschiedene Länder hinweg die Effektivität und Angemessenheit politischer Maßnahmen von der Maskenpflicht bis zum Lockdown bewertet. Ziel dieses Prozesses sollte es sein, eine bessere Vorbereitung auf zukünftige Krisen zu ermöglichen. Eine exakte Aufarbeitung der Pandemie erfordert jedoch zunächst einen möglichst präzisen Rückblick auf die Vergangenheit, insbesondere auf die Frage, wie unsere damaligen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen unsere künftigen Einstellungen prägen könnten.

In mehreren umfassenden Studien hat nun ein Forschungsteam aus Bamberg, Chicago, Erfurt und Wien untersucht, wie retrospektive Erzählungen historischer Ereignisse der Coronapandemie durch Wahrnehmungen der aktuellen Situation verzerrt sein können. Insbesondere interessierte die Forschenden, wie unterschiedliche Einstellungen die Verzerrung der Erinnerungen beeinflussen. Dafür betrachteten sie vor allem, ob die Befragten gegen Corona geimpft oder ungeimpft waren und wie sehr sie sich mit diesem Impfstatus identifizierten. Das überraschende Ergebnis: je nachdem, wie sehr sich Geimpfte beziehungsweise Ungeimpfte mit ihrem Impfstatus identifizieren, sind die Erinnerungen in unterschiedliche Richtungen verzerrt.

„In einigen unserer Studien beantworteten die Befragten aus Deutschland und Österreich Fragen zu ihren Risikowahrnehmungen, ihrem Schutzverhalten und ihrem Vertrauen in Regierung und Wissenschaft zu zwei Zeitpunkten, erstmals im ersten Jahr der Pandemie und ein zweites Mal zum Jahreswechsel 2022/2023. In der zweiten Befragung wurden sie auch gebeten, sich an ihre Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im ersten Jahr der Pandemie zu erinnern. So konnten ihre Erinnerungen mit den tatsächlich gegebenen Antworten verglichen werden“ erklärt Philipp Sprengholz von der Universität Bamberg, einer der beiden Erstautoren des Forschungsartikels im Fachmagazin Nature. Über mehrere Studien mit über 10.000 Befragten konnten die Forschenden so ermitteln, inwieweit die Erinnerungen an die eigenen Angaben aus der Vergangenheit von aktuellen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen abhingen und ob sich Geimpfte und Ungeimpfte in ihren Erinnerungen unterscheiden.

Sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte zeigten Erinnerungsverzerrungen, allerdings erstaunlicherweise in entgegengesetzte Richtungen. So überschätzten beispielsweise Geimpfte ihr damals wahrgenommenes Risiko einer Infektion und ihr Vertrauen in die Wissenschaft, während beides von Ungeimpften im Rückblick tendenziell unterschätzt wurde. Da sich die Erinnerungen teilweise verbesserten, wenn die Befragten Geld für besonders akkurate Erinnerungen erhielten, schließen die Forschenden, dass die Erinnerungsverzerrungen zumindest teilweise motiviert sind und nicht allein durch bloßes Vergessen erklärt werden können.

Darüber hinaus zeigen die Studienergebnisse, dass bei einer stärkeren Unterschätzung der damaligen Risikowahrnehmungen, Schutzverhalten und Vertrauen in die Regierung und Wissenschaft, politische Maßnahmen rückblickend als weniger angemessen wahrgenommen wurden. In einer Studie mit Befragten aus insgesamt zehn Ländern waren negativere Bewertungen der politischen Maßnahmen während der Pandemie auch mit einem stärkeren Wunsch verbunden, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen für ihr Handeln in der Pandemie zu bestrafen und die gesamte politische Ordnung zu zerschlagen. Wenig überraschend gaben diese Befragten auch an, dass sie nicht beabsichtigen, Bestimmungen in zukünftigen Pandemien zu folgen. Insgesamt waren diese Intentionen in den einzelnen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt. Während nur 19% der Befragten in Schweden Politiker*innen für ihr Handeln während der Pandemie bestrafen wollten, waren es in Mexiko 49%. Ähnlich sah es mit dem Wunsch aus, Wissenschaftler*innen zu bestrafen, der von 12% (Schweden) bis 27% (Italien) der Befragten geäußert wurde. An einer Zerschlagung des gesamten politischen Systems waren zwischen 6% (Deutschland) und 15% (Italien) interessiert. Zwischen 49% (Japan) und 84% (Mexiko) waren bereit, sich an Bestimmungen in zukünftigen Pandemien zu halten (siehe Grafik oben).

„Die Ergebnisse zeigen, dass es systematische Unterschiede darin gibt, wie Menschen die Pandemie erinnern, obwohl sich ihre damaligen Einschätzungen oftmals gar nicht so stark voneinander unterschieden“ fasst der zweite Hauptautor Luca Henkel von der University of Chicago die Ergebnisse zusammen. Die verzerrte Erinnerung führe zu einer polarisierten Wahrnehmung der Vergangenheit, die das Potenzial hat, die aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Polarisierung aufrechtzuerhalten und die Vorbereitung auf kommende Krisen zu behindern. Cornelia Betsch von der Universität Erfurt und vom Bernhard Nocht Institut Hamburg ergänzt: „In Zukunft müssen wir über die kurzfristigen Effekte politischer Maßnahmen zur Eindämmung von Pandemien hinausblicken und auch langfristige Folgen für den sozialen Zusammenhalt berücksichtigen.“

Weitere Studien sollen nun untersuchen, wie sich die Verzerrung von Erinnerungen und die gesellschaftliche Polarisierung im Laufe der Zeit gegenseitig beeinflussen und wie diese Dynamik in verschiedenen Ländern variiert. Dabei sollen auch andere Krisen wie etwa die Klimakrise in den Blick genommen werden. Robert Böhm von der Universität Wien: „Außerdem wollen wir Wege zur Verringerung der Polarisierung erforschen. Eventuell lässt sich die Identifikation von Geimpften und Ungeimpften mit ihrem Impfstatus reduzieren. Damit könnte sich die Motivation verringern, die Erinnerungen überhaupt zu verzerren und somit die Aufarbeitung der Pandemie verbessert werden.“

Ansprechpartnerin:

Inhaberin der Professur für Gesundheitskommunikation
(Philosophische Fakultät)
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