Gesundheitsexpert*innen sind sich einig: Regelmäßige und ausreichende Bewegung ist entscheidend für ein gesundes Leben. Sich fit zu halten, schützt nicht nur vor Krankheiten wie Diabetes und Adipositas, auch der Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe ist dabei nicht zu unterschätzen. Gerade das Kindesalter ist ein zentraler Lebensabschnitt für die Bewegungsförderung. Regelmäßige Bewegung trägt überdies zu einem gesunden Körpergewicht bei und fördert die physische sowie geistige Leistungsfähigkeit. Gerade das Kindesalter ist dabei ein zentraler Lebensabschnitt für die Bewegungsförderung. Seit Juli 2022 unterstützt das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (formals Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport) deshalb mit bisher insgesamt 271.500 Euro den Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaften der Universität Erfurt, um das thüringenweite Programm „Bewegte Kinder = Gesündere Kinder“ (BeKiGeKi) wissenschaftlich zu begleiten und so bewegungsbezogene Kompetenzen von Kindern im Grundschulalter zu fördern. Nun steht fest, dass das Erfolgsprogramm fortgeführt und das Forschungsprojekt bis Ende 2025 erneut mit über 50.000 Euro vom Land finanziert wird.
Beim 20-Meter-Sprint würde er als Basketballer wohl am besten abschneiden, erzählt Dr. Florian Bähr, wenn er an die Einzeltests des Bewegungschecks denkt, den jedes Kind der dritten Klassen im Sportunterricht in Thüringen absolviert. Als Leiter des Forschungsprojekts „Bewegte Kinder = Gesündere Kinder“ ist Bähr von Anfang an dabei, als Sport- und Bewegungswissenschaftler an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät leitet er das Projekt an der Universität Erfurt seit 2022. BeKiGeKi, so wird es liebevoll genannt, gibt es schon acht Jahre. Es soll dabei helfen, geeignete Maßnahmen und passende Angebote zur Förderung der motorischen Fähigkeiten von Mädchen und Jungen zu entwickeln. Seit 2017 haben thüringenweit bereits mehr als 60.000 Schüler*innen aus knapp 500 Schulen am Test teilgenommen. Der jährliche Check ist seit dem Schuljahr 2022/2023 für alle Grundschüler*innen der 3. Klasse verpflichtend und besteht aus sechs Übungen. Überprüft werden die Ausdauer, Bein- und Armkraft sowie die Koordination, Schnelligkeit und der Gleichgewichtssinn der Kinder.
Individuelle Profile der sportlichen Leistungsfähigkeit
Bähr und sein Team sind für die Auswertungen der anonymisierten körperlichen Fitnesstests zuständig. Noch bis Ende Dezember wurde in den Schulen getestet, jetzt beginnt an der Universität Erfurt die Aus- und Bewertung der manuell ausgefüllten Exceltabellen der Schulklassen. Mithilfe der Open-Source-Software R werden die enormen Datenmengen verarbeitet, Bähr und sein Team schnüren dann für jede Schule und jede*n Schüler*in ein im wortwörtlichen Sinne exklusives Paket: Die Leistungsprofile und evidenzbasierten Handlungsempfehlungen zur Bewegungsförderung für Schule und Eltern werden ausgedruckt verschickt. Für Bähr bedeutet das, mit einem einmaligen riesigen Datenschatz arbeiten zu können. Mit jeder neuen Kohorte kommen ca. 15.000 Datensätze pro Jahr hinzu, im ersten Jahr noch waren es lediglich 1000 Datensätze.
Die Bewegungschecks können auch sportlich nicht aktiven Kindern Erfolgserlebnisse verschaffen, zeigen sie doch individuelle Stärken auf. Bei der nächsten Auswertung gelingt dies bildlich noch besser durch die Kennzeichnung mit Tier-Icons. Je mehr Tiere das Kind sammeln konnte, desto sportlicher war es bei den Tests. Für besonders gute Leistungen gibt es grafisch zusätzlich einen Pokal. Die Auswertung des Bewegungs-Checks bietet Lehrer*innen eine Möglichkeit, die Kinder zu motivieren und sie für ihre sportlichen Stärken zu sensibilisieren.
Neben der aktuellen körperlichen Fitness der Kinder stehen auch landesweite Entwicklungstrends der Drittklässler im Zentrum der Forschung, wie z. B. Einflüsse geografischer und sozioökonomischer Faktoren sowie die Körperkonstitution. Durch die verpflichtenden Tests wird das Bild von der körperlichen Verfassung und der Fitness der Kinder in Thüringen mit jedem Jahr klarer. Dass sie in der dritten Klasse stattfinden, liegt an der kurz darauf einsetzenden Pubertät; in den darauffolgenden Jahren ändert und manifestiert sich für die Heranwachsenden viel körperlich, aber auch psychisch. Daher ist hier aus präventiver Sicht ein wichtiges Moment des Anreizes und der Sensibilisierung für die sportliche Bewegung von Kindern.
Sport schützt vor Krankheiten. Ein Kind, das gut in Mathe ist, kann später als Ingenieur arbeiten. Ein Kind, das gut in Deutsch ist, kann dieses Fach später vielleicht unterrichten. Wenn diese Kinder später jedoch krank werden, weil sie keinen Zugang zum Sport erfahren haben, laufen sie Gefahr, ihre Berufung nicht ausführen zu können, was auch Auswirkungen auf uns als Gesellschaft hat. Das ist besonders mit Blick auf den demografischen Wandel relevant.“
Florian Bähr steht in einem engen Forschungsaustausch mit der Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaften an der Universität Potsdam, wo das Brandenburger Schwesterprojekt geleitet wird. Regelmäßig entstehen gemeinsame wissenschaftliche Publikationen zur Entwicklung und Evaluation der Bewegungsförderung von Drittklässler*innen. „Erstaunlich ist, dass trotz der unterschiedlichen Studienteilnehmenden in zwei verschiedenen Bundesländern und dazu noch unter anderen Versuchsbedingungen die Alters- und Geschlechtseffekte nahezu deckungsgleich sind. Fachleute sprechen hier von konzeptioneller Replikation“, sagt Bähr. So schneiden beispielsweise Mädchen, hier wie dort, in der Gleichgewichtsübung grundsätzlich besser ab als Jungen. Warum das so ist, wollen die Wissenschaftler*innen noch herausfinden. Wegen der hohen Übertragbarkeit haben bereits weitere Bundesländer Interesse am Bewegungs-Check angemeldet, weitere bundeslandübergreifende bzw. eine deutschlandweite Vergleichbarkeit ist ein langfristiges Ziel von Bähr und seinem Team.
Sportliche Aktivierung förderbedürftiger Kinder durch Schnupper-Angebote
Die Anzahl übergewichtiger Kinder und eine geringere Ausdauerleistungsfähigkeit sind seit den 1970er/80er-Jahren bis in die 2000er-Jahre hinein gewachsen, eine weitere Zunahme wurde mit Beginn der Corona-Pandemie verzeichnet. Zwar zeigen beim Bewegungs-Check ca. 60 Prozent der Kinder eine unbedenkliche Entwicklung, ungefähr 20 Prozent jedoch ein aus gesundheitlicher Sicht bedenkliches Fitness-Niveau. In mehreren Landkreisen ist fast jedes 5. Kind übergewichtig. Weitere 20 Prozent erweisen sich dagegen als überdurchschnittlich sportlich. Florian Bähr ist es deshalb wichtig, dass BeKiGeKi differenziert auf die unterschiedlichen Bedarfe der Kinder eingeht. So werden die Kinder, die beim Bewegungs-Check Höchstleistungen erzielten, zur „Talentiade“ eingeladen, um sich mit den Besten des Jahrgangs zu messen.
Motivation für Sport ist so unterschiedlich wie die Kinder selbst. Manche wollen den Wettkampf, andere wollen Spaß haben und wieder andere motiviert das soziale Miteinander. Es liegt an uns, den Kindern diese Perspektiven auf Sport zu eröffnen, damit sie sich ein Leben lang gerne bewegen.“
Die „Talentiade“ des Landessportbunds ist eine landesweite Veranstaltung des Programm-Partners für sportbegeisterte Kinder in allen fünf Schulamtsbezirken, die beim Bewegungs-Check überdurchschnittliche motorische Leistungen erzielt haben. Manchmal führt der Weg dann an ein Sportgymnasium, auch die Begabungsförderung soll laut Bähr immer ein Anliegen bleiben, denn trotz der Zunahme an übergewichtigen Kindern gebe es nicht weniger talentierte Kinder.
Für alle anderen Kinder richtet der Landessportbund gemeinsam mit den Kreis- bzw. Stadtsportbünden und örtlichen Vereinen „Tage des Sports und der Gesundheitsförderung“ aus. Bei diesen Sportfesten und ihren Mitmachangeboten werden Familien eingeladen, die Vielzahl an Sportarten ihrer Region besser kennenzulernen und mit der Bewegungsempfehlung für ihr Kind im Gepäck vielleicht sogar gleich einen passenden Sportverein zu finden, bei dem das Kind sich gern aktiv betätigt. Denn so, und das schätzt auch Bähr sehr, lernen die Kinder ungezwungen und ohne Leistungsdruck Sportarten und Trainer*innen jenseits des Schulsports kennen und mögen. Mit diesen Aktions- und Schnuppertagen wird den Kindern der Zugang auf ein bewegungsintensives und gesundes Aufwachsen vereinfacht – ob Grundschüler*innen mit Defiziten oder jungen Talenten.
Gute Investition: Für mehr Bewegung sensibilisieren
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts erreichen in Thüringen 69 Prozent der Kinder im Alter zwischen drei und 17 Jahren nicht das von der WHO empfohlene Minimum einer Stunde an täglicher Bewegung, um Knochen und Muskeln zu stärken; im Bundesdurchschnitt sind es sogar noch mehr. Eine entscheidende Prognose für ein gesundes Leben gibt die Ausdauerfähigkeit bereits im Kindesalter. Gerade die Vereinszugehörigkeit oder das Sporttreiben im Rahmen einer Schul-AG sind in diesem Alter ausschlaggebende Faktoren, weiß Florian Bähr. Seine Forschungsergebnisse zeigen: Übergewichtige Kinder, die Mitglied im Sportverein sind, schneiden in ihrer Laufleistung insgesamt besser ab als übergewichtige Kinder, die nicht im Verein sind. Die Auswertungen des Bewegungs-Checks zeigen auch, dass die Ausdauerleistungen von Kindern systematisch sinken, wenn sie aus einem sozial schwächeren Umfeld und/oder strukturärmeren ländlichen Regionen kommen.
Unsere Daten zeigen, das von der Corona-Pandemie vor allem ‚fitte‘ Schulen betroffen waren. Das betont die Wichtigkeit der Teilhabe an sportlichen Ressourcen für alle Kinder, unabhängig von ihrem Wohnort oder ihrem sozialen Background.“
Welche Rahmenbedingungen also braucht es, um ausreichend Angebote zu schaffen, von denen auch Kinder aus benachteiligten Regionen und ärmeren Haushalten profitieren? „Wichtig ist es, sich zu bewegen“, sagt Bähr: „Fast die Hälfte der Kinder sind außerhalb des Schulsports noch nicht im organisierten Sport aktiv. Hinzukommt, dass Sport oft eines der ersten Unterrichtsfächer ist, die bei Lehrkräftemangel ausfallen. Um die körperliche Konstitution der Kinder präventiv und langfristig zu stärken, brauchen wir mehr Bewegungsförderangebote und mehr Trainer*innen, die auch angemessen entlohnt werden. Zudem vielfältigere Kinder-Sportangebote durch die Vereine und eine dritte Wochenstunde Schulsport in Thüringer Grundschulen."
Die Bewegungs-Checks machen es seiner Sicht deutlich, dass die Probleme in manchen Landkreisen vielschichtig sind und diese dadurch langfristig abgehängt würden, wenn nicht gegengesteuert werde. Die Analyse, das Leistungsprofil einer Schule sowie die entsprechenden Aktivitätsempfehlungen könnten helfen, Schulleitungen von einem erhöhten Sportbedarf zu überzeugen, auch um ausreichend Argumente für eine finanzielle Förderung zur Verbesserung der Rahmenbedingungen zu haben. In den Kommunen wurden bereits erste Bewegungscoachs mit einer durch den Landessportbund geförderten Lizenz ausgebildet, um förderbedürftigen Kindern den Spaß am gemeinsamen Sporttreiben zu vermitteln. Und genau das treibt auch Florian Bähr in seiner Forschung an:
Ich freue mich, wenn es mir gelingt, dass Kinder ihren Zugang zum Sport finden, jenseits des Anspruchs, immer die Besten sein zu müssen. Wichtig ist die Motivation, sich zu bewegen und die eigene gesunde Zukunft damit bewusst zu fördern."
Florian Bähr und sein Team zeigen mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit jedes Jahr aufs Neue, wie es um die körperliche Konstitution der Drittklässler in Thüringen bestellt ist – und leisten mit ihrer Datenauswertung einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung für die Relevanz der physischen Fitness und die Selbstwirksamkeit sowie Risikowahrnehmung der Kinder in Bezug auf ihre eigene Gesundheit. Die körperliche Fitness hat Auswirkungen auf die gesamte Leistungsfähigkeit und ist ein wichtiger Indikator für ein gesundes Leben. Dass mit Beginn des Projekts BeKiGeKi der Ausbau des Sportförderangebots Fahrt aufnimmt, ist daher eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.