Selten hing die Öffentlichkeit so an den Lippen der Wissenschaft wie in den Tagen von Corona. Virologen werden nicht einfach zu Shooting Stars, sondern regelrecht zu neuen Propheten stilisiert, befinden der Neutestamentler Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer und Dr. Anne Rademacher, Leiterin des Seelsorgeamtes im Bistum Erfurt. Im Podcast „Hörenswertes im Bistum Erfurt“ beleuchten sie die Entwicklungen rund um das Virus aus der Perspektive der Bibel und des Neuen Testamentes.
„Wahrscheinlich erleben manche Virologen sogar ähnliche Schicksale wie Propheten“, urteilt Thomas Bauer. „Weil sie Dinge ‚verkünden‘, die nicht gehört werden wollen.“ Damit nehmen Virologen die typisch prophetischen Funktionen des Mahnens und des Erinnerns wahr, denn Zusammenhänge zu durchschauen und die Menschen vor drohenden Gefahren zu warnen, sei ein wesentlicher Teil des prophetischen Wirkens, erinnert der Bibelwissenschaftler. Umgekehrt bedeute diese Stilisierung aber auch, dass manch einer sein Heil an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hänge, während er auf die erlösende Heilsbotschaft wartet: „Das Unheil ist abgewendet.“
Antworten auf dieses konkrete Unheil in Form des Coronavirus‘ SARS-CoV-2 kann die Bibel derweil nur in geringem Maße geben, urteilt Bauer offen: „Ich finde es eher hilfreich, zu sagen – und auch einzugestehen –, dass man Antworten nicht kennt. Vielleicht ist es auch das, was Menschen in gewissen Situationen brauchen, dass man ihnen gegenüber sowohl als Repräsentant von Theologie als auch von Kirche eingesteht: Wir wissen die Antwort auch nicht. Wir wissen nicht, warum es so ist. Wir zweifeln genauso.“
Dass eben diese Zweifel dabei sogar in Wut auf einen Gott umschlagen kann, dessen Handeln sich nicht erschließt, ist für den Theologen dabei gut nachvollziehbar: Man darf auch wütend sein auf „diesen Gott, der nicht nur unser Leben, sondern auch das Leben von anderen Menschen in dieser Art und Weise durchkreuzt. Auch in den Glückserwartungen und in den Heilshoffnungen, die man hat.“ Umso wichtiger sei es jedoch, in der aktuellen Situation nicht allein die Bibel als Richtschnur für das individuelle sowie gesellschaftliche Handeln zu nehmen, sondern die Meinungen und Einschätzungen ausgewiesener Fachleute anzuerkennen. Bauer: „Es gibt die Situationen, in denen der Christ und die Christin für das glückende und gelingende Leben für bestimmte Handlungen mehr auf Virologen hören muss als auf das Neue Testament“.