Nachgefragt: Welches Trauma brachte die Teilung Indiens vor 75 Jahren mit sich, Frau Dr. Framke?

Gastbeiträge
Karte Indien, 1922

Mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft vor 75 Jahren zerfiel der indische Subkontinent in die Staaten Pakistan und Indien. Begleitet wurden die Staatsgründungen von religiös motivierter Gewalt zwischen Muslimen und Hindus sowie von Flucht und Vertreibung. Erst spät begann die Aufarbeitung dieser prägenden Ereignisse, weiß Dr. Maria Framke. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Globalgeschichte der Universität Erfurt und forscht unter anderem zur Geschichte Südasiens. „WortMelder“ hat bei ihr nachgefragt: Welches Trauma brachte die Teilung Indiens mit sich und wie tief ist dieses in der indischen Kultur noch heute verankert, Frau Dr. Framke?

Mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft entstanden am 14. August 1947 mit Pakistan und einen Tag später mit Indien zwei unabhängige Nationalstaaten. Obgleich ein Grund zur Freude brachte die Teilung des Subkontinents, Partition genannt, aber unsagbares Leid. Die genaue Grenzziehung der beiden neuen Staaten wurde erst am 17. August 1947 verkündet, ein Vorgang, der zu riesigen Flüchtlingsströmen und Chaos führte. So verließen Hindus und Sikhs Pakistan in Richtung Indien und Muslime brachen von Indien in Richtung Pakistan auf. Die kommunalistischen Ausschreitungen, die die Partition über Monate begleiteten – gemeint sind damit Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften, wobei es aber oftmals um politische und ökonomische Macht ging – wüteten besonders schlimm im Punjab im Nordwesten des Subkontinents. Es kam aber auch in Bengalen im Osten und in anderen Gebieten Nordindiens zu Gewaltausbrüchen. Heute schätzt man, dass bis zu eine Million Menschen starben. Gleichzeitig wurden etwa 12 Millionen Menschen vertrieben bzw. flohen in den jeweils anderen Staat.

...vor allem die gegen Frauen gerichtete Gewalt während der Partition war von traumatischer Natur."

Die Partition brachte großes Leid mit sich. An der Gewalt waren Angehörige aller Gemeinschaften beteiligt. Sikhs und Hindus griffen Muslime an, Muslime wendeten sich gegen Sikhs und Hindus. Weder Pakistan noch Indien gelang es in den ersten Wochen die Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Das lag unter anderem am gleichzeitig beginnenden Abzug der britischen Truppen und an den teilweise gut organisierten Gruppen von Gewalttätern, zu denen auch ehemalige, inzwischen demobilisierte Soldaten gehörten. Bis Ende 1947 gelang es aber beiden Regierungen, die Gewalt einzuschränken. Die zwei neuen Staaten, die viel von den administrativen Strukturen der Kolonialverwaltung übernommen hatten, brachen nicht zusammen. Mithilfe einer eingespielten Beamtenschaft und den Armeen wandten sich Indien und Pakistan auch zügig der Betreuung der Flüchtlinge zu, die aber doch vielerorts eher rudimentär blieb. Trotzdem konnten sie so ihre Autorität und die Legimitation der postkolonialen Staatlichkeit sicherstellen. Pakistan griff dabei anfänglich auf die Hilfe britischer Beamter zurück, die auf dem Subkontinent verblieben, da es im Gegensatz zu Indien den zentralen Regierungsapparat neu aufbauen musste.

Neben der oftmals dramatischen Flucht und dem schwierigen Ankommen in der neuen Heimat, war vor allem die gegen Frauen gerichtete Gewalt während der Partition von traumatischer Natur. Frauen verkörperten in den Augen der Gesellschaft die Ehre der Familie, der Gemeinschaft und des Nationalstaates. Sie wurden belästigt, vergewaltigt, verstümmelt, entführt, zwangsverheiratet oder auch von den Mitgliedern der anderen Gemeinschaften getötet. Um einem solchem Schicksal zu entgegen, töteten sich manche Frauen selbst. Die Logik des Patriarchats erwartete gewissermaßen von ihnen Märtyrerinnen zu werden, eine Vorstellung, die viele verinnerlicht hatten. Jedoch wurden Frauen auch von ihren männlichen Verwandten umgebracht, um der Gewalt der anderen zuvorzukommen und die eigene und die Ehre der Familie zu bewahren.

Nachdem Pakistan und Indien die Ordnung in ihren Territorien wiederhergestellt hatten, machten sie sich an die Suche und Rückführung entführter Frauen. Nach Schätzungen wurden etwa 40.000 bis 50.000 Frauen und Mädchen während der Ausschreitungen entführt, zum Teil auch konvertiert und mit Angehörigen der jeweils anderen Gemeinschaft zwangsverheiratet. Die Entführungen bewegten die Gemüter in beiden Gesellschaften. Insbesondere für Hindus, die Indien als ein Land ansahen, in dem Frauen die Reinheit der Nation verkörperten, rief ihre Verschleppung Entsetzen hervor. Beide Staaten folgten in den nächsten Jahren in ihren Such- und Rückführungsaktion einer kommunalistischen Logik: muslimische Frauen gehörten demnach nach Pakistan, Hindu- und Sikhfrauen nach Indien. Die Umsetzung gestaltete sich jedoch langwierig und schwierig, und in etlichen Fällen erfolgte sie gegen den Willen der Frauen, die sich mit der neuen Situation arrangiert hatten und bleiben wollten.

Eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik und den Traumata gibt es hingegen erst seit etwa 25 Jahren."

Viele der traumatischen Partition-Erfahrungen, insbesondere die Gewalt gegenüber Frauen, waren weder in den Familien noch in den Gesellschaften Südasiens über Jahrzehnte ein Thema. Eine Ausnahme bildeten literarische Arbeiten, z. B. die Werke von Khuswant Singh, Saadat Hasan Manto oder Bhisham Sahni. Diese stellten eindrücklich und teilweise schon seit den späten 1940er-Jahren den Verlust der ehemaligen Heimat, die Gewalt zwischen Nachbarn und das Grauen jener Monate dar. Eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik und den Traumata gibt es hingegen erst seit etwa 25 Jahren. Das wachsende historische Interesse führte zur Auswertung vorhandener Quellen und zu einer Reihe von Publikationen. Gleichzeitig begannen Zeitzeug*innen, insbesondere Frauen, ihr Schweigen zu brechen. Ihre Erfahrungen wurden von Ritu Menon, Kamla Bhasin und Urvashi Butalia gesammelt und in zwei wegweisenden Büchern (Borders and Boundaries; The other side of silence) eindrücklich wiedergegeben und kontextualisiert. Einen weiteren Schub erfuhr die wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik im Rahmen des 70. Jahrestages der Partition 2017. Immer mehr betroffene Menschen berichten seitdem von ihren Erlebnissen in Zeitzeugenprojekten. Ihre Familien, die jahrzehntelang ahnungslos geblieben waren, kommen zum ersten Mal mit dieser Geschichte in Berührung. Auch das Forschungsinteresse hat sich erheblich erweitert. Historische Arbeiten untersuchen inzwischen nicht nur die Teilungserfahrungen in den beiden hauptsächlich betroffenen Regionen Punjab und Bengalen, sondern auch in anderen Teilen Indiens und Pakistans. Auch werden die Langzeitwirkungen der gewaltvollen Teilung, u.a. Fragen von Staatsbürgerschaft und Wohnbaupolitik sowie Themen wie humanitäre Hilfe und die Entwicklung von Sozialarbeit in den Blick genommen. Seit 2017 gibt es außerdem ein Partition Museum in Amritsar im indischen Teil des Punjabs, dem zentralen Ort für die Sikhs.

Die Teilung des Subkontinents legte – und auch das ist ein bis heute kaum bewältigtes Trauma – den Grundstein für einen langwierigen bilateralen Konflikt. Der Streit um Kaschmir hat bisher zu drei Kriegen und wiederholten Scharmützeln zwischen Indien und Pakistan geführt. Der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir wurde bis 1947 von Maharaja Hari Singh regiert. Während der Herrscher hinduistischen Glaubens war, war die Mehrheit der Bevölkerung des Fürstenstaates muslimisch. Wie im Fall der anderen südasiatischen Fürsten sollte auch Hari Singh eine Entscheidung treffen, ob Kaschmir Indien oder Pakistan beitreten würde. Er hegte jedoch zunächst die Hoffnung, dass Kaschmir ein unabhängiger Staat werden könne. Als dann pakistanische Freischärler in das Gebiet des Fürstenstaates eindrangen, um vollendete Tatsachen zugunsten Pakistans zu schaffen, wandte sich der Maharaja hilfesuchend an Delhi. Ohne den Willen der Bevölkerung einzuholen, akzeptierte er im Oktober 1947 den Beitritt Kaschmirs zur Indischen Union. Im Gegenzug entsandte die indische Regierung ihre Streitkräfte in die Region. Der erste Kaschmirkrieg endete mit einem von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand, der zu einer De Facto-Aufteilung Kaschmirs zwischen den beiden Ländern führte. Die 1949 festgelegte Waffenstillstandlinie entspricht auch heute noch der sogenannten Line of Control, der faktischen Grenze zwischen Pakistan und Indien.  Die noch immer ungeklärte Lage – beide Staaten beanspruchen nach wie vor das gesamte Gebiet für sich –, aber auch die wiederholte, teils gewaltsame Durchsetzung des indischen Hoheitsanspruchs im indischen Teil Kaschmirs, zuletzt die Aufhebung des Autonomiestatus für die Region, sind hochaktuelle Spätfolgen der 1947 durchgeführten Staatsteilung. Die damit verbundenen Traumata der Kashmiris werden von der breiten indischen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Auch hier bleibt noch viel Aufarbeitung zu tun.

Abb.: Karte mit indischem Subkontinent, 1922.

Kontakt:

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Hidden histories: Frauen in ländlichen Entwicklungsprogrammen in Indien, c. 1920–1966“
(Historisches Seminar)
Lehrgebäude 4 / Raum 114