Nachgefragt: Welchen Einfluss kann das neue Lehrschreiben von Papst Franziskus auf Kirche, Wirtschaft und Politik nehmen, Frau Prof. Mack?

Gastbeiträge

Gerade hat Papst Franziskus seine Enzyklika "Fratelli tutti - Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft" veröffentlicht. Darin widmet er sich drängenden Themen unserer Zeit -  z.B. der Corona-Pandemie, der Klimakrise, Populismus, Migration und Krieg. Welchen Einfluss kann das Lehrschreiben auf Kirche, Wirtschaft und Politik nehmen? „WortMelder“ hat Elke Mack, Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik an der Universität Erfurt, um eine Einschätzung gebeten…

"Papst Franziskus hat mit der neuen Enzyklika 'Fratelli Tutti' die globale Gemeinschaft  zwischen allen Menschen in den Mittelpunkt seiner Botschaft gestellt. Der Untertitel besagt bereits, worum es dem Papst wirklich geht, nämlich darum, alle Menschen und Völker in Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft zu vereinen. Er richtet sich deshalb an alle Menschen guten Willens, nicht nur an die Brüder, wie es der Titel auf den ersten Blick leider vermuten lässt. Für alle weltoffenen Menschen lohnt es sich deshalb einen Blick in die neue Enzyklika zu werfen.

Prof. Dr. Elke Mack
Prof. Dr. Elke Mack

Was ist das Wichtigste? Es ergeht mitten in der Coronakrise ein dezidierter päpstlicher Aufruf an alle Menschen, sich unabhängig von ihren Nationalitäten, Hautfarben und Nähebeziehungen tatsächlich als Geschwister zu verstehen, weil wir nämlich als Menschen alle vernetzt sind und weil sich niemand alleine retten kann - weder in sozialer, politischer, ökonomischer noch ökologischer Hinsicht. Wir sind als Teil der einen Menschheit verbunden durch unsere gleichen Nöte, Bedürfnisse, aber auch durch unsere gleiche Würde und unsere menschlichen Rechte, die jedem Individuum zustehen. In dieser dritten Enzyklika von Papst Franziskus geht es deshalb vor allem um die theologische Begründung einer kosmopolitischen und multilateralen Sicht auf die Welt und die hieraus erwachsende, unmissverständliche Aufforderung zu globaler Solidarität unter allen, gleichermaßen würdigen Menschen. Aus dieser menschlichen Verwandtschaft, die nicht diskriminierend, sondern in Anerkennung der Schwächsten und Ärmsten verstanden wird, folgt für den Papst eine ethische Pflicht, dass sich die Menschheit friedlich im Rahmen eines globalen Zusammengehörigkeitsbewusstseins vereinigt und ein klares Bewusstsein gegen jegliche Feindschaft entwickelt. Dies ist verbunden mit der Ächtung gewaltsamer Auseinandersetzungen, der Verwerflichkeit von herabwürdigendem Rassismus und ethnischer sowie nationaler Überheblichkeit. Der Papst geht entgegen früherer Lehren der Kirche nicht mehr davon aus, dass es einen gerechten Krieg unter Menschen geben kann. Er weist auf weltweite ökonomische und politische Unterdrückung, Hunger und absolute Armut, Sklaverei und Menschenhandel hin, die es immer noch in erschreckendem Ausmaß gäbe. Unmissverständlich fordert er eine adäquate Antwort auf humanitäre und ökologische Krisen, von denen, die dies leisten können.

Der einzige Weg, diese globalen Probleme zu meistern, sei es, das christliche Liebesgebot universal zu verstehen. Das bedeutet, gemäß des Beispiels des barmherzigen Samariters, Verantwortung füreinander zu übernehmen – auch gegenüber Fremden. Diese schließt selbstverständlich die Achtung vor Armen, Flüchtenden und Migranten ein, ebenso wie die Achtung von anderen Religionen und den Respekt vor den Menschenrechten aller. Theologisch denkt Papst Franziskus diesen ethischen Ausruf gänzlich vom Hauptgebot des Christentums her, das die Liebe zu Gott und zu allen Mitmenschen aufgrund ihrer Würde empfiehlt – und das weltweit. Diese ethische Anerkennung ist in seinen Augen nicht beliebig, sondern sie verpflichtet uns! Denn wir könnten - auch auf globaler Ebene - nicht zulassen, dass einzelne Menschen oder ganze Länder im Elend verbleiben. Er sieht eine Pflicht der Menschheit, gerade der wohlhabenden, allen Menschen zu einer nachhaltigen menschlichen Entwicklung zu verhelfen. Dies soll jedoch nicht im Rahmen eines platten Hilfsparadigmas erfolgen, sondern in gleichberechtigter Zusammenarbeit, mit dem Ziel der Selbstständigkeit aller.

Um deutlich zu machen, wie vernetzt die Welt in den Augen des Papstes ist, verwendet er das Bild des Polyeders, in dem sich die Unterschiede in Religion, Sprachen, Kulturen, Traditionen und Weltanschauungen wechselseitig ergänzen, aber doch die eine Menschheit abbilden. Das Christentum würde missverstanden, dass es ausreiche nur im privaten Raum gut zu anderen Menschen zu sein. Vielmehr fordert es im Sinne einer universalen Moral die Übernahme globaler Verantwortung für die ganze Menschheit. Papst Franziskus übernimmt hier nicht nur für die Katholische Kirche die Rolle des Weltgewissens wie kaum ein anderer Papst vor ihm."