Herbst 1989. Während sich die Deutsche Demokratische Republik auf die Feier ihres 40. Jahrestages vorbereitet, brodelt im Volk ein wachsender Unmut gegenüber dem „Arbeiter-und-Bauern-Staat“. Insbesondere in Leipzig formiert sich zunehmend Protest: Bereits seit den frühen 1980er-Jahren gibt es in der dortigen Nikolaikirche die sogenannten „Friedensgebete“. Sie wenden sich gegen Polizeigewalt, staatliche Geheimdienste und die Verfolgung Andersdenkender. Unter dem Eindruck offenkundiger Wahlfälschungen erstarkt seit Mai 1989 die Bürgerbewegung der DDR weithin. Die Friedensgebete finden infolge dessen mehr und mehr Zuspruch. Während am 4. September 1989 noch einige hundert Bürgerinnen und Bürger zum Gebet zusammengekommen waren, fanden am 9. Oktober Tausende den Weg in Leipzigs Kirchen. Viele von ihnen keine Christen. Doch warum? Was sprach Menschen ohne jegliches religiöse Bekenntnis an dem Konzept der Friedensgebete an? Wie wurden sie gestaltet, um auch kirchenfernen Menschen die Teilhabe zu ermöglichen? Welche Rolle haben damit die christlichen Kirchen in der Friedlichen Revolution insgesamt gespielt? „WortMelder“ hat bei Dr. Martin Fischer, Kirchenhistoriker an der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Erfurt (FKZE), nachgefragt …
„Mit der Friedlichen Revolution von 1989 sind auch die Friedensgebete verbunden, die in zahlreichen katholischen und evangelischen Kirchen in der gesamten DDR veranstaltet wurden. Sie sind ein Grundpfeiler für die Ereignisse im Herbst 1989. Die Kirchen waren die ersten Orte, in denen sich Protest artikulieren konnte. Mit ihrem steten Aufruf zur Gewaltfreiheit trugen sie zudem zur Friedfertigkeit bei, die brennenden Kerzen wurden zu deren sichtbaren Zeichen.
Im kollektiven Gedächtnis sind vor allem die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche geblieben. Vor dem Hintergrund der Zuspitzung des Kalten Krieges, verbunden mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen in beiden Teilen Deutschlands, fand dort seit dem 13. September 1982 jeden Montag um 17 Uhr ein von verschiedenen Gruppen und Gemeinden gestalteter Gottesdienst statt, der nur durch die Sommerferien unterbrochen wurde. Mit Ausnahme der zehntägigen Friedensdekade rund um den Buß- und Bettag mit bis zu 1.000 Beteiligten, blieb dies in der Regel in den ersten Jahren nur ein kleiner Kreis von etwa 20 bis 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Die ersten Friedensgebete in der DDR gab es sogar schon einige Jahre früher – und zwar in Erfurt. Als Reaktion auf die 1978 in den Schulen eingeführte Wehrerziehung als obligatorisches Unterrichtsfach, entstand auf Initiative von acht betroffenen Müttern in der ersten Adventswoche 1978 in der Erfurter St. Lorenzkirche das Ökumenische Friedensgebet. Der liturgische Ablauf war schlicht und bestand meist aus einem oder wenigen Liedern, dem Vaterunser, dem franziskanischen Gebet ‚Herr, mach mich zum Werkzeug Deines Friedens‘ und aktuellen Fürbitten sowie Informationen über aktuelle Entwicklungen. Seit dem 7. Dezember 1978 findet es bis heute jeden Donnerstag um 17 Uhr statt.
Das Erfurter Friedensgebet war vor 1989 jedoch kein ausgesprochener Versammlungsort Oppositioneller. Anders in Leipzig, denn nachdem es im Zusammenhang mit der jährlichen staatlich organisierten Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin am 17. Januar 1988 zu Verhaftungen gekommen war, strömten nun zunehmend auch Menschen zu den Friedensgebeten, die die DDR verlassen wollten. Die Teilnehmerzahlen bewegten sich fortan im dreistelligen Bereich. Immer wieder kam es zu Schweigemärschen in der Leipziger Innenstadt. Nach der gefälschten Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 folgte eine erhöhte Polizeipräsenz rund um die Nikolaikirche. Als nach der Sommerpause am 4. September 1989 nach dem Friedensgebet rund 1.200 Menschen demonstrierten, wurden ihre Plakate ‚Für ein offenes Land mit freien Menschen‘ niedergerissen, in den Folgewochen kam es zu Verhaftungen. Die SED-Presse bezeichnete die Demonstranten als ‚Rowdies‘, woraus später auf den Demonstrationen der Ruf entstand: ‚Wir sind keine Rowdies! Wir sind das Volk!‘.
Woche für Woche nahm die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu. Ab dem 2. Oktober 1989 fand das Friedensgebet parallel in bis zu sechs weiteren großen Kirchen statt. Im Anschluss daran demonstrierten 10.000 Menschen auf dem Leipziger Stadtring. Der liturgische Ablauf der Friedensgebete erwies sich dabei als genial, denn er war auf Menschen ausgerichtet, die noch nie etwas mit der Kirche zu tun hatten. Es gab Elemente wie ‚Stimmen der Betroffenheit‘ in dem die Teilnehmer sich wiederfinden konnten. Es gab wenige Lesungen und immer wiederkehrende Lieder oder einfache Kanons zum Mitsingen, so dass jemand, der, wenn er ein zweites Mal das Friedensgebet besuchte, sich sagen konnte: Das kennst du, hier kannst du mitmachen, hier gehörst du dazu. Auf diese Weise hörten vielleicht Tausende erstmals die Botschaft der Bergpredigt: ‚Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben‘ (Mt 5,5). Viele sprachen vielleicht das erste Mal in ihrem Leben ein Vaterunser.
Dass Tausende auf die Straßen gingen, war der Staatsmacht ein Dorn im Auge, weshalb in der Woche darauf, am 9. Oktober 1989, mit dieser vermeintlichen ‚Konterrevolution‘ Schluss gemacht werden sollte. Mehr als 8.000 Volkspolizisten, Kampfeinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Angehörige der Betriebskampfgruppen und NVA-Soldaten standen bereit, in den Krankenhäusern waren extra Blutkonserven bereitgestellt worden. Es gilt als ‚Wunder von Leipzig‘, dass es nicht zu einem Blutvergießen kam. An jenem Montag demonstrierten nach den Friedensgebeten mehr als 70.000 Menschen (Schätzungen anhand von Fotos gehen sogar von bis zu 120.000 Menschen aus), die Bilder davon gingen um die Welt.
Wenige Wochen später kam es auch in Erfurt zu Demonstrationen. Das Friedensgebet vom 19. Oktober 1989 wurde von katholischen und evangelischen Theologie-Studenten gestaltet. Am Ende forderten sie die Kirchenbesucher auf, sich an einem ‚Gang der Betroffenheit‘, der als Schweigemarsch gedacht war, zu beteiligen. Ungefähr 200 meist junge Leute zogen mit brennenden Kerzen von der Lorenzkirche zur Andreasstraße, wo sich die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit befand. Vor der Andreaskirche stellten sie ihre Kerzen ab und hielten eine kurze Andacht. In der Woche darauf kamen am 26. Oktober 1989 nach den Friedensgebeten, die nun zusätzlich auch in der Predigerkirche stattfanden, zur ersten Großdemonstration auf dem Domplatz 40.000 Erfurterinnen und Erfurter.“