Das Konzept der Freiwilligkeit ist eine bedeutende Komponente in einer Demokratie: die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger für oder gegen etwas aus freien Stücken heraus. Diktatorische Staatsformen dagegen werden mit Zwang in Verbindung gebracht. Dabei zeigt ein Blick in vergangene Diktaturen, dass auch sie von einem Maß an Freiwilligkeit abhängen. Genauso kann in einer demokratischen Gesellschaft der freie Wille allein kaum die Grundlage des sozialen Miteinanders bilden. Freiwilligkeit repräsentiert also mitnichten nur das gegensätzliche Handlungsmotiv von Zwang. Vielmehr ist Freiwilligkeit ein komplexes, facettenreiches Gefüge, das viele gesellschaftliche Formen durchzieht. In der aktuellen Debatte um die Corona-Schutzmaßnahmen und besonders die Corona-Impfpflicht scheint das nur allzu häufig vergessen zu werden. Wissenschaftler*innen der Forschungsgruppe „Freiwilligkeit“ der Universität Erfurt diskutierten nun in einem interdisziplinären Workshop über „Freiwilligkeit in Zeiten der Pandemie“ und beleuchteten die Debatte aus unterschiedlichen Perspektiven. Mit dem Ergebnis: Freiwilligkeit bleibt auch in schweren Zeiten einer freiheitlichen Gesellschaft ein zentrales Moment, aber sie muss differenzierter betrachtet werden. Was macht Freiwilligkeit also aus und was bedeutet sie für die Impfpflicht-Debatte? Das hat „WortMelder“ bei Prof. Dr. Jürgen Martschukat, Sprecher der Forschungsgruppe, nachgefragt.
Wer nur flüchtig hinschaut oder gern in klaren Kategorien denkt, versteht Freiwilligkeit leicht als politisches Prinzip einer Gesellschaft, die in der Autonomie eines freien Individuums gründet, das für sich und das Kollektiv gute und richtige Entscheidungen trifft. Freiwilligkeit erscheint dabei als Gegenteil von Zwang und Zwang als Handlungsmaxime einer diktatorischen Gesellschaft, die die Menschen unterjocht. Diese Zuspitzung auf Freiwilligkeit vs. Zwang, Demokratie vs. Diktatur begegnet uns auch immer wieder in der gegenwärtigen Auseinandersetzung über die Impfpflicht. Allerdings ist Freiwilligkeit komplizierter, und in der politischen und alltäglichen Praxis kommt sie meist weniger eindeutig daher, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Aus der Arbeit unserer Forschungsgruppe „Freiwilligkeit“ heraus, rege ich zu einer stärkeren Differenzierung an, und dies vor allem in drei Punkten.
Erstens ist Freiwilligkeit situativ. Das bedeutet, dass freiwilliges Entscheiden und Handeln in ein vielfältiges Set an Bedingungen eingebunden ist und mit Konsequenzen einhergeht, die sich von Situation zu Situation unterscheiden. Die situativ changierenden Bedingungen und Konsequenzen einer Wahl oder einer Handlung haben großen Einfluss darauf, in welchem Maße wir diese als freiwillig empfinden. Folglich ergibt es in der Regel wenig Sinn, die Frage der Freiwilligkeit in der politischen und gesellschaftlichen Praxis kategorisch als Frage nach einem „entweder ... oder“ anzugehen. Dies wird auch deutlich, wenn wir berücksichtigen, dass als entscheidendes Kriterium für die Freiwilligkeit einer Handlung oft herangezogen wird, dass zu einer Handlungsoption eine akzeptable Alternative existieren müsse. Was jedoch als akzeptable Alternative empfunden wird, hängt eben stark von den Handlungsbedingungen und möglichen Konsequenzen einer Entscheidung in einer spezifischen Situation ab. Auch die historischen Erfahrungen, die jemand bis dahin gemacht hat, spielen dafür eine wichtige Rolle.
Deutlich wird, wie Freiwilligkeit mit Entscheidungsbedingungen und -konsequenzen verwoben und eher graduell als kategorisch zu verstehen ist.
In der Corona-Praxis wird die Bedeutung von Handlungsbedingungen und -konsequenzen für eine Impfentscheidung zum Beispiel durch die verschiedenen Zugangsregelungen im öffentlichen Leben von 3G über 2G bis zu 2G+ deutlich. Im Herbst 2021 eingeführt, waren diese nie nur darauf ausgerichtet, die Sicherheit der Menschen zu verbessern. Vielmehr hatten sie immer auch das Ziel, die Impfbereitschaft zu steigern und die Zahl freiwilliger Impfungen zu erhöhen, was auch (bedingt) funktionierte. Wo nur noch Geimpfte und Genesene (2G) Restaurants und Kneipen besuchen durften, waren die Entscheidungsbedingungen für eine Impfung ebenso wie die Alternative zur Impfwahl (zu Hause bleiben) so verändert, dass die Impfbereitschaft bald zunahm. Deutlich wird, wie Freiwilligkeit mit Entscheidungsbedingungen und -konsequenzen verwoben und eher graduell als kategorisch zu verstehen ist. Entsprechend kann Freiwilligkeit über eine Veränderung genau dieser Bedingungen auch gelenkt bzw. ermöglicht werden. Mit Blick auf 2G war in den Medien auch von einer „Impfpflicht durch die Hintertür“ die Rede.
Zweitens ist Freiwilligkeit normativ. Freiheitliche Gesellschaften richten an ihre Bürger*innen durchaus die Erwartung, dass sie ihr Leben durch freiwillige Handlungen erfolgreich bestreiten, und das aus bestem Wissen und Gewissen heraus: Wir sollen uns für unsere Bildung und unseren Job engagieren, uns aktiv um unsere Gesundheit kümmern, uns also gut ernähren, fit halten und so weiter. Dabei geht es nicht nur darum, freiwillig zu agieren, sondern auch darum, freiwillig und gern genau das zu tun, was als gut und richtig für uns und die Gesellschaft gilt. Freiwilligkeit ist also auch ein ethisches Kriterium für die Bewertung einer Handlung: Wer freiwillig (und nicht gezwungenermaßen) die „richtigen“ Entscheidungen trifft, zeigt die Bereitschaft und die Fähigkeit, in einer freiheitlichen Gesellschaft als Staatsbürger*in zu funktionieren. Wer dies nicht tut, ist „außen vor“. Hier wird abermals die oben bereits angesprochene Verbindung zur Situativität und Bedingtheit von Freiwilligkeit deutlich: Denn politische Programme und Kampagnen haben häufig das Ziel, die Entscheidungsarchitektur so zu verändern, dass die Menschen zu den freiwilligen Entscheidungen hingeführt werden, die als „richtig“ gelten. In unserer Forschungsgruppe sprechen wir auch vom „Regieren über Freiwilligkeit“. Mit „Regieren“ meinen wir nicht nur das, was politische Mandatsträger*innen tun, sondern all die Diskurse, Programmatiken und Praktiken, die Bürger*innen in ihren Entscheidungen lenken und sozial erwünschtes Handeln ermöglichen sollen.
Ein Beispiel für das „Regieren über Freiwilligkeit“ in den Zeiten von Corona sind die Impfbusse, die die Impfung zu den Menschen bringen, wenn diese nicht zur Impfung kommen. Ein weiteres Beispiel wäre das Angebot einer übersichtlichen Webpage zur Wissensvermittlung und Information, die dabei zugleich das Ziel verfolgt, die Menschen von den Vorteilen einer Impfung zu überzeugen, und dies ohne dass sie bemerken, wie sie überzeugt und geführt werden. Insgesamt beklagen Expert*innen, dass in der Corona-Krise beim Regieren über Freiwilligkeit noch deutlich Luft nach oben ist. Vor allem die Informations- und Wissensvermittlung hat bislang an Klarheit und kommunikationswissenschaftlich geschulter Kompetenz zu wünschen übriggelassen.
Wenn wir das Impfen als sozialen Vertrag verstehen wollen, dann müssen wir bedenken, dass viele der unerreichbaren Impfgegner*innen den sozialen Vertrag ohnehin als längst gebrochen ansehen.
Die normative Dimension der Freiwilligkeit zeigt sich vor allem darin, dass sich Ungeimpfte oft gegängelt und zunehmend gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen, weil sie eine andere als die gesellschaftlich erwartete Entscheidung getroffen, also nicht freiwillig im sozial erwünschten Sinn gehandelt haben. Dabei gilt rund ein Drittel derjenigen, die bislang die Impfung verweigert haben (in Deutschland 25%), als „unerreichbar“ für alle Führungs- und Überzeugungsbemühungen. Wiederum ein Großteil dieser „Unerreichbaren“ gehört zu denjenigen, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ohnehin zunehmend an den Rand gedrängt gefühlt haben in einer Gesellschaft, die auf Freiwilligkeit setzt, dabei aber den existenziellen und normativen Druck so hoch werden lässt, dass sie „Gewinner*innen“ und „Verlierer*innen“ schafft. Entsprechend gibt es deutliche Schnittmengen der Gruppen der Impfgegner*innen und der jüngeren populistischen und ethnonationalistischen Bewegung, die der Marginalisierungserfahrung ein neues Gefühl des Miteinanders und des „wir“ gegen „sie“ entgegensetzt. Deren parteipolitisches Sprachrohr, die Alternative für Deutschland, hat die Impfpolitik der Bundes- und Landesregierungen von Anfang an sabotiert. Zugleich ist die Gruppe der Impfgegner*innen bekanntermaßen politisch divers und versammelt Menschen von rechts und links, die sich in einer Gegnerschaft zu Globalisierung und Neoliberalismus wähnen und zugleich einer diffusen Staatsphobie das Wort reden. Wenn wir das Impfen als sozialen Vertrag verstehen wollen, dann müssen wir bedenken, dass viele der unerreichbaren Impfgegner*innen den sozialen Vertrag ohnehin als längst gebrochen ansehen. Das ungeimpft Sein wird zu einer Form des Widerstands gegen „das System“. Das Impfen, dies betont auch der Historiker Malte Thiessen, ist seit seiner Erfindung vor über zwei Jahrhunderten eine Projektionsfläche, auf der ganz andere Themen verhandelt werden.
Drittens operieren auch Diktaturen über Freiwilligkeit, und nicht nur freiheitliche Gesellschaften. Dies zeigt ein differenzierterer und weniger kategorialer Blick. So befasst sich die historische Forschung (auch in unserer Forschungsgruppe) mit der Frage, inwieweit zum Beispiel die gesellschaftlichen und politischen Systeme des Nationalsozialismus und der DDR nur deshalb funktionieren konnten, weil willige Bürger*innen aus den unterschiedlichsten Motiven heraus mitmachten.
Zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur über die Freiwilligkeit des Mitmachens nicht immer in der erhofften Eindeutigkeit möglich ist, bedeutet mitnichten, Demokratie und Diktatur über einen Kamm zu scheren und der willkürlichen Negierung von Unterschieden das Wort zu reden. Ein historisch genauer Blick auf die komplexen Bedingungsverhältnisse und Wirkungsweisen von Freiwilligkeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen hat nichts mit den kruden Verzerrungen der Wirklichkeit zu tun, die in den Auseinandersetzungen über das Impfen gegen COVID-19 bisweilen geäußert werden. Im Gegenteil: Es bedeutet, genau hinzuschauen. Impfgegner*innen, die von einer Corona- oder Gesundheitsdiktatur schwadronieren, sich als Opfer von Diffamierung und Verfolgung durch einen Zwangsstaat stilisieren, sich gar mit Sophie Scholl vergleichen oder einen gelben Stern mit dem Schriftzug „ungeimpft“ anheften, verhöhnen schlichtweg die Opfer menschenverachtender Gewaltherrschaft und verkennen völlig die politischen Bedingungen ihrer Existenz.
Dabei zeigt ein genauerer Blick auf Freiwilligkeit, dass Freiwilligkeit eben nie bedingungslos, der Unterschied von gelenkter Freiwilligkeit und Pflicht eher graduell und auch eine Impfpflicht kein Zwang ist.
Was bedeutet das alles nun für die Frage der Impfpflicht? Zum einen sollte man festhalten, dass die Impfquote in Deutschland derzeit bei 75% liegt. Das Regieren über Freiwilligkeit funktioniert also bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen. In manchen Bundesländern ist die Quote höher, in anderen niedriger. Hier wäre genau darauf zu schauen, wie sich die Bedingungen freiwilligen Entscheidens und Handelns unterscheiden. Ein solcher historisch, soziologisch und politisch informierter Blick würde auch Rückschlüsse auf die unterschiedliche Akzeptanz einer Impfpflicht zulassen, die ja auch unter Geimpften nicht ungeteilt ist, und zudem die Vielschichtigkeit innerhalb der Gruppe der Impfgegner*innen noch deutlicher aufzeigen und berücksichtigen.
Weiterhin sollten wir uns vor Augen führen, dass Widerstand gegen eine Impfpflicht historisch nicht neu ist, sondern seit der ersten Einführung der Pockenimpfpflicht im Jahr 1874 existiert. Seitdem haben die diversen deutschen Diktaturen und Demokratien über mehr als ein Jahrhundert hinweg freiwillige und verpflichtende Impfpolitiken miteinander kombiniert. Erst vor einigen Jahrzehnten, als Epidemien in westlichen Gesellschaften ausgestorben schienen und sich die Menschen zunehmend immun fühlten, wurde Freiwilligkeit in der BRD und dann im vereinten Deutschland zum dominanten Entscheidungsmodus einer Gesellschaft, die sich auf diese Weise auch ihrer liberalen Grundwerte versicherte. Dass eine Impfpflicht in der COVID-Krise zunächst explizit ausgeschlossen wurde, unterstreicht, dass diese offenbar als unpassendes Instrument in einer (neo)liberalen Gesellschaft erschien, die sich über Freiwilligkeit als politisches Prinzip definiert. Dazu gehört auch, dass deren Gesundheitssystem vorzugsweise auf die Fürsorge und Selbstverantwortung der Patient*innen anstelle von medizinischer oder gar politischer Direktive setzt (dass man noch 2019 eine Masern-Impfpflicht beschlossen hatte, fand in der Debatte keine Berücksichtigung).
Umso mehr schien die jüngste politische Hinwendung zu einer Impfpflicht einen kategorialen Wandel der Gesundheits- und Gesellschaftspolitik zu signalisieren. Dabei zeigt ein genauerer Blick auf Freiwilligkeit, dass Freiwilligkeit eben nie bedingungslos, der Unterschied von gelenkter Freiwilligkeit und Pflicht eher graduell und auch eine Impfpflicht kein Zwang ist. Letzteres wird in den jüngsten Debatten zwar immer wieder betont, aber nur selten verständlich erläutert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat es in der Tagesschau vom 19. Januar 2022 zumindest versucht. Auf Bedenken der Ärzt*innenschaft, Patient*innen qua Impfpflicht in die Praxen zu zwingen sei kontraproduktiv, antwortete er: „Ich glaube, dass Ärzte jeden impfen sollten: Denjenigen, der geimpft werden will, weil er der Impfpflicht nachkommt, und denjenigen der sich ganz freiwillig impfen lässt. Es wird ja niemand gegen seinen Willen geimpft, selbst die Impfpflicht führt ja dazu, dass man sich am Ende freiwillig impfen lässt.“ Alles klar?