Die Krise in der Ukraine bestimmt in diesen Tagen die außenpolitische Berichterstattung Deutschlands, geht es doch hier um einen Konflikt, der geopolitisch und wirtschaftlich brisant ist und der dazu noch in unmittelbarer europäischer Nachbarschaft schwelt. Russland als „Aggressor“ und die Ukraine als „Opfer“ großrussischer territorialer Motive – das ist der Haupttenor der aktuellen Äußerungen in Politik und Medien in Deutschland. Viele sehen die alleinige Verantwortung für die aktuelle militärische Eskalation bei Russland. Außenministerin Anna-Lena Baerbock gibt klar zu verstehen, dass Deutschland an der Seite der Ukraine steht, weiß aber um die Bedeutung des Dialogs mit Russland (im sogenannten Normandie-Format) und hat – um diesen nicht zu gefährden – Waffenlieferungen an die Ukraine zunächst eine Absage erteilt. Das trifft auf Unverständnis in dem osteuropäischen Land, das sich angesichts eines enormen militärischen Aufmarsches Russlands an seiner Grenze real bedroht fühlt. Wladimir Putin betont immer wieder rein defensive Motive für sein militärisches Vorgehen. Größtenteils wird das – auch angesichts der Krim-Annexion 2014 – angezweifelt. Frank Ettrich ist Professor für Strukturanalyse moderner Gesellschaften an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und forscht zu Transformationsprozessen in Osteuropa. Als Soziologe denkt er etwas anders über den Ukraine-Russland-Konflikt als manche Politikwissenschaftler*innen. „WortMelder“ hat ihn um seine persönliche Einschätzung gebeten und nachgefragt: „Russland und der Ukraine-Konflikt – Ist das nur ‚Säbelrasseln‘ oder schon gefährlicher Neoimperialismus, Prof. Ettrich?“
Ich bin dankbar für diese Fragestellung. Man nehme es mir nicht übel, wenn ich sie vor allem als Ausdruck einer inzwischen weitverbreiteten Bewertung eines auch mich ängstigenden Konfliktes ansehe, in dem es, und das ist das einzige, worin ich mir bei diesem Konflikt sehr sicher bin, keine einseitige „Schuldzuweisung“ geben kann. Viele öffentliche Verlautbarungen sind nicht nur unverkennbar von russophoben Untertönen imprägniert, die sich überschlagenden Meldungen über Gegenmaßnahmen gegen eine offensichtlich immer näher rückende weitere Aggression Russlands gegen die Ukraine drohen m.E. in eine offene russophobe Hysterie umzuschlagen. Wenn große westliche Staaten damit beginnen, ihre Botschaften in Kiew teilweise abzuziehen, dann muss die Lage schon fast der Situation in Afghanistan kurz vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban ähneln, wo die Evakuierung des Botschaftspersonals und anderer Kräfte 2021 leider viel zu spät einsetzte.
In der überhitzen „Debatte“ über den „großrussischen Chauvinismus“ und „großrussischen Revanchismus“, die von immer neuen „Drohungen“ und Sanktionen gegen Russland oder „Putin“ angesichts der offenbar sichtlich feststehenden russischen Invasion der Ukraine durchsetzt ist, wird verblüffenderweise nur die Hauptfrage nie aufgeworfen: Ist eine neuerliche Aggression gegen die Ukraine überhaupt das Ziel Russlands?
Die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten postsowjetischen Staaten Russland und Ukraine wären auch ohne den „Ukraine-Konflikt“ oder die „Ukraine-Krise“ entmutigend genug.
Russland gilt seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 als „revisionistische“ Macht, also als ein Akteur im internationalen Staatensystem, der auch in Bruch seiner völkerrechtlichen Selbstbindung staatliche Grenzen verletzt und verschiebt. Die Ukraine, ein souveräner Staat, der die An- und Einbindung in die westliche Wirtschaft- und Sicherheitsarchitektur anstrebt, ist das Opfer dieser Aggression. Lässt sich daraus schlussfolgern, dass Russland ein „neo-imperialistischer“ Staat ist, der sich nach der Einverleibung der Krim und der de facto-Unterstützung der sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk weitere Teile der Ukraine oder gar die ganze Ukraine einverleiben will? Das wäre doch offen die Frage, wenn man Russland „Neoimperialismus“ unterstellen will. Ich halte das schlicht für absurd und kann keinen einzigen Grund ausmachen, der diese Vorgehensweise Russlands erklären würde. Halt, einen könnte man möglicherweise anführen und er wird auch in unseren Medien immer wieder mit einem Putin-Zitat ins Feld geführt: Putins vielmals zitierte Aussage über den Zusammenbruch der Sowjetunion als größter geopolitischer Tragödie des 20. Jahrhunderts. Man kann diese Aussage als Ausdruck des irrationalen Phantomschmerzes einer ehemaligen Supermacht des Kalten Krieges interpretieren, die heute bestenfalls eine „Regionalmacht“ (B. Obama) mit geradezu einschüchternd beängstigenden demografischen, wirtschaftlichen, sozialen Problemen ist, auf die sie innenpolitisch mit autokratischer Versteinerung und außenpolitisch mit Aggression reagiert.
Die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten postsowjetischen Staaten Russland und Ukraine wären auch ohne den „Ukraine-Konflikt“ oder die „Ukraine-Krise“ entmutigend genug. Russland und die Ukraine teilen eine lange vorsowjetische und die gesamte Geschichte der Sowjetunion. Unglücklicherweise wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die in vielfacher Weise existierende Verflechtung der beiden Staaten nicht für den Aufbau einer gutnachbarschaftlichen und friedlichen gleichberechtigten Zukunft genutzt. Wie in fast allen Fällen von postkommunistischem „nation building“ waren auch im Fall des Souveränwerdens von Russland und der Ukraine die mehr oder eher weniger gelungenen formellen Demokratisierungsprozesse und die Integration in die globalen Märkte mit der Revitalisierung eines ethnischen Nationalismus verbunden, der sich vor allem in einem Sprachennationalismus manifestiert. Im Falle des Verhältnisses von Russland und der Ukraine hat das dazu geführt, dass die bisherige durchaus leidvolle ukrainische Nationalgeschichte als eine Geschichte russischer Unterdrückung dargestellt und insbesondere die gemeinsame sowjetische Erfahrung einfach als besonders extreme Periode russischer Unterjochung (Holodomor) aufgefasst wird. Während Teile der ukrainischen Eliten einen russophoben ethnischen Nationalismus zur Staatsdoktrin zu machen versuchen (in Zeiten des Aussterbens der Printmedien können in der Ukraine ab sofort russischsprachige Zeitungen nur noch erscheinen, wenn sie zugleich in ukrainischer Sprache gedruckt werden), kann die russische Seite in ihrem geopolitischen Anspruch auf Großmachtgeltung und ihrem Denken in Einflussphären nicht anerkennen, dass die heutige Ukraine ebenso ein souveräner Staat ist, wie dies für Russland selbst gilt.
Aber die „Ukraine-Krise“ oder der „Ukraine-Konflikt“ ist eben nicht primär der Konflikt zwischen zwei souveränen postsowjetischen Staaten. Vielmehr handelt es sich nach meiner Auffassung um ein Wiederaufflammen des Kalten Krieges, diesmal als Konfrontation zwischen Russland und dem von US-amerikanischen Interessen und Zielen dominierten westlichen Verteidigungsbündnis NATO. Und der Gegenstand dieses Konfliktes ist im Grunde seit 30 Jahren die aus der Sicht der russischen Eliten unbeirrt voranschreitende NATO-Osterweiterung. Nachdem in jüngster Vergangenheit die Diskussion über den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens an Intensität zugenommen hat und der Generalsekretär der NATO Stoltenberg 2021 mit einem Statement zumindest den Eindruck erweckte, diese neuerliche Runde der NATO-Osterweiterung sei beschlossene Sache, konfrontierte Russland am 17. Dezember 2021 die USA und die NATO mit einem Forderungskatalog, der im Kern die schriftliche Zusicherung verlangt, dass die NATO keine weiteren Staaten an den unmittelbaren Grenzen Russlands mehr zu Mitgliedern macht und dass die zunehmende Aufrüstung der Länder an der Grenze Russlands durch NATO-Länder gestoppt wird. Verbunden waren diese Forderungen mit der Erwartung einer Antwort bis zum 14. Januar – ein Termin, der inzwischen verstrichen ist. Dies ist insofern wichtig hervorzuheben, als das von Russland mit 100.000 bis 120.000 Soldaten auf seinem Territorium, medial übrigens sehr aufwendig und umfänglich dokumentierte „Säbelrasseln“ bisher keine weitere Zuspitzung erfahren hat.
Bei den schriftlichen Forderungen beruft sich Russland – wie schon häufiger – auf den Abschlussbericht des OSZE-Gipfeltreffen 1999 in Istanbul, den ich mit dem entscheidenden Passus zitieren möchte: „Jeder Teilnehmerstaat hat dasselbe Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Teilnehmerstaat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen.“ Eine fast gleichlautende Formulierung findet sich noch einmal im Abschlussdokument des OSZE-Gipfeltreffens im Dezember 2010 im kasachischen Astana (heute: Nur-Sultan). Es ist insbesondere der letzte Satz des zitierten istanbuler OSZE-Dokuments, auf das sich die russische Außenpolitik vor Dezember 2021 und seither beruft, um das russische „Ultimatum“ an die NATO und die damit einhergehenden militärischen Drohgebärden, die sich aber bisher eben alle tunlichst auf das russländische Territorium beschränken, zu legitimieren. Es ist offensichtlich, dass Russland die schon seit längerem ablaufenden Kooperationen und Verflechtungen zwischen dem westlichen Verteidigungsbündnis und Ländern wie der Ukraine oder Georgien und die tatsächlich oder vermeintlich angestrebte weitere Erweiterungsrunde der NATO als Festigung von Sicherheit „auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten“, nämlich Russlands, ansieht.
Nun muss man zunächst klar festhalten, dass Russland 2008 und 2014 selbst den handfesten Eindruck erweckt hat, es sorge gegebenenfalls für seine „Sicherheit“ auf Kosten der territorialen Integrität und der „Sicherheit anderer Staaten“. Der Georgien-Russland-Krieg 2008 und die einseitig als „unumkehrbar“ vollzogene russische Krim-Annexion spielen so lange eine unverzichtbare Rolle bei der Bewertung der außen- und militärpolitischen Strategie des postsowjetischen Russlands unter Präsident Putin, solange nicht eindeutig geklärt ist, dass die militärische Aggression von Russland ausging und sich damit ein „neoimperialistisches“ Muster russischer Außen- und Militärpolitik abzeichnet.
Das heutige Russland unter seinem „paläokonservativen“ Präsidenten Putin praktiziert nun spätestens seit 2014 eine höchst aggressiv-gewaltsame Taktik, um die weitere Osterweiterung der NATO zu torpedieren...
Seitens der NATO und des Westens werden die Schritte der NATO-Osterweiterung in der Regel mit zwei Argumenten gerechtfertigt: Zum einen besteht der Westen darauf, dass es niemals eine Zusage an die damals noch existierende Sowjetunion gegeben habe, den Geltungsbereich der NATO nicht auf Staaten des zerfallenden sowjetischen Einflussbereiches zu erweitern. Dies ist, so kann man heute sagen, insofern richtig, als es keine schriftlich fixierten, also vertraglichen Zusicherungen gegeben hat. Es ist insofern falsch, als die inzwischen vorliegende Memoiren-Literatur an den entsprechenden Gesprächen beteiligter historischer Akteure mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nahelegen, dass entsprechende mündliche Zusicherungen seitens der USA und des Westens gegeben wurden. Wenn man das gegenwärtige Beharren der russischen Seite auf schriftlichen Garantien begreifen will, muss man diesen Punkt und die russländische Interpretation, damals betrogen worden zu sein, im Auge haben. Das zweite Argument des Westens besteht konstant darin, darauf zu verweisen, dass jeder souveräne Staat frei seine Bündnisse wählen kann, wobei in der Regel nicht problematisiert wird, dass Bündnisse nicht jeden Aufnahmeantrag automatisch akzeptieren müssen. Das heutige Russland unter seinem „paläokonservativen“ Präsidenten Putin praktiziert nun spätestens seit 2014 eine höchst aggressiv-gewaltsame Taktik, um die weitere Osterweiterung der NATO zu torpedieren: Der Bürgerkrieg in der Ostukraine verhindert nach NATO-Statuten die Aufnahme der Ukraine in das westliche Bündnis. So scharf man nun den Bürgerkrieg in der Ostukraine verurteilen muss, lässt sich dieser Einsatz militärischer Gewaltmittel nicht als eine „neoimperialistische“ Strategie zur Wiederherstellung einer Rumpf-Sowjetunion interpretieren.
Seit der Zuspitzung des Konfliktes mit Russland im Dezember 2021 lassen sich nun zwei politische Prozesse beobachten, von denen allerdings nur einer optimistischer stimmen kann.
Zum einen hat nach einem fast vollständigen Erliegen der diplomatischen Kontakte mit Russland die Diplomatie zur friedlichen Beilegung des Konfliktes an Fahrt aufgenommen, ohne bisher substantielle Fortschritte gemacht zu haben. Die Wiederaufnahme des „Normandie-Formats“ in der vergangenen Woche lässt hoffen, dass eine konstruktive Lösung erzielt werden kann. Das stimmt optimistischer. Die größte Hürde dabei sehe ich darin, dass die „NATO“ und der „Westen“ nicht bereit sein werden, die von Russland aus den erwähnten Gründen geforderte schriftliche Zusage zu geben. Hier kann man nur hoffen, aber das ist auch Spekulation, dass den von Russland vorgetragenem Sicherheitsbedürfnis anders entsprochen werden kann.
Zum anderen, und das stimmt pessimistischer, hat gerade im Januar 2022 eine westliche de facto-Aufrüstung der Ukraine eingesetzt, die von 5000 Soldatenhelmen über „Verteidigungswaffen“ bis hin zu weiteren punktuellen Stationierungen von amerikanischen und NATO-Militärkontingenten reicht. Die Aufstockung von militärischen Potenzialen birgt immer auch die Gefahr der partiellen Verselbstständigung militärischer Gewalt.
Es bleibt zu hoffen, dass die neue Bundesregierung ihre bisher erkennbar differenziertere und geschichtsbewusstere Politik gegenüber Russland und vor allem auch der Ukraine beibehalten kann...
Ein grundlegendes Theorem meines Faches, der Soziologie, ist das Thomas-Theorem. Es besagt in etwa: Wenn Menschen ihre Situationen als wirklich definieren, sind sie wirklich in ihren Konsequenzen. Auch Staaten werden nur zu Akteuren des internationalen Systems durch das von Situationsdefinitionen geleitete Handeln ihrer politischen Eliten. Wenn man sich die Reden von Vertretern der russländischen Eliten wie Präsident Putin oder Außenminister Lavrow genauer ansieht, dann kann man ohne die übliche Kaffeesatzleserei intentionalistischer Erklärungen („Was will Putin?“, „Putins Kalkül“, etc.) davon ausgehen, dass die tatsächliche oder vermeintliche NATO-Osterweiterung von diesen als wirkliche Bedrohung der äußeren Sicherheit der ohnehin vulnerablen Staatlichkeit und Territorialität Russlands angesehen wird. Das ist möglicherweise eine falsche Situationsdefinition, aber es ist keine „neoimperialistische“. Sie ist im Kern defensiv und entspricht durchaus der subalternen Stellung Russlands in der internationalen Sicherheits- und Militärarchitektur.
Es bleibt zu hoffen, dass die neue Bundesregierung ihre bisher erkennbar differenziertere und geschichtsbewusstere Politik gegenüber Russland und vor allem auch der Ukraine beibehalten kann und sich nicht der Forderung der „Falken“ im westlichen Bündnis beugt, die komplexe Konfliktsituation an der Westgrenze Russlands durch Aufrüstung („Waffenlieferungen“) und de facto gewaltsame Mittel zu befrieden. Es gibt seit 1989–91 keinen geopolitischen Konflikt, der mit dieser Strategie konstruktiv befriedet oder gar „gelöst“ werden konnte!