Nachgefragt: "Scheitert die Inklusion an der Realität, Herr Professor Benkmann?"

Gastbeiträge
Prof. Dr. Rainer Benkmann

Seit 2014 haben Schüler mit Unterstützungsbedarf Anspruch auf einen Platz an einer Regelschule, wenn Eltern nicht wollen, dass ihr Kind auf eine Förderschule geht. Ziel ist es, dass Kinder mit Behinderung gemeinsam mit Kindern in ihrem Alter lernen sollen, um besser in die Gesellschaft integriert zu werden und sich später besser auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden zu können. Soweit die Theorie. Die Realität scheint bislang eine andere Sprache zu sprechen: Lehrer und Eltern beklagen passende Konzepte und mangelndes Personal. Rainer Benkmann, Professor für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Universität Erfurt, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Inklusion. „WortMelder“ hat nachgefragt: „Scheitert der Inklusionstraum an der Realität, Herr Professor Benkmann?“

„Ob man in diesem Zusammenhang von einem Traum reden sollte, sei mal dahingestellt. Träume werden keine Realität, täuschen etwas vor oder sie zerplatzen. Vertreter*innen der inklusiven Pädagogik reden von einer Vision im Sinne einer richtungsweisenden Zukunftsidee, die einen Diskurs über Ziele und Wege ermöglicht und an der wir unser Handeln im Sinne einer Weiterentwicklung pädagogischer Theorie und Praxis zur Inklusion orientieren. Und mit Verlaub, Inklusion ist doch nicht dann schon gescheitert, weil es Beispiele von nicht gelungener Praxis gibt. Wenn die Normativität des Faktischen alleiniger Maßstab pädagogischer Praxis wäre, ließe sich das Bildungssystem kaum noch verbessern, vor allem nicht gerechter gestalten, obwohl wir nicht erst seit PISA wissen, dass durch die hohe soziale Selektivität der Schulstruktur Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Milieus, aus denen die meisten Schüler*innen mit Beeinträchtigungen kommen, diskriminiert werden. Das deutsche Schulsystem stellt keine Chancengleichheit her und löst damit nicht das Versprechen ein, das Artikel 3 unseres Grundgesetzes zusichert. Im Übrigen ließen sich viele Beispiele längst gelungener Inklusion in anderen Ländern und in Deutschland anführen.

Natürlich sind die ständigen Klagen über schlechte Rahmenbedingungen in der Schule ernst zu nehmen und misslingenden Entwicklungen ist auf den Grund zu gehen. Aber, wie gesagt, es gibt genügend Best-Practice-Beispiele, auch wenn Rahmenbedingungen den Erwartungen nicht entsprechen. Gegenwärtig lässt sich geradezu ein Hype gegen Inklusion beobachten. Von Skeptikern der Inklusion wird dies befeuert und von konservativer Bildungspolitik aufgegriffen. Sie befürchten, dass die Struktur des gegliederten Schulsystems auf dem Prüfstand steht und die Leistungsentwicklung Schaden nimmt. Die erste Befürchtung ist berechtigt, soll durch eine veränderte Schulstruktur vermehrt Chancengleichheit hergestellt werden; die zweite ist unberechtigt: Eine negative Leistungsentwicklung in inklusiven Schulklassen konnte nicht festgestellt werden.

Aktuell stellen sich jedoch ganz andere Fragen, wenn man sich entsprechende Fakten ansieht: Hätte der Anstieg der Inklusionsquote nicht einen bedeutsamen Rückgang der Exklusionsquote, also des Anteils der Schüler*innen an Sonderschulen, erwarten lassen? In wenigen Bundesländern, z.B. Bremen und Schleswig-Holstein, ist dieser Rückgang zwar zu verzeichnen, bundesweit jedoch ist die Exklusionsquote von 2008 bis 2015 gerade mal von 4,9% auf 4,4%, also um 0,5%, gesunken. Der Anteil der Inklusionsquote erhöhte sich von 1,1% auf 2,7%, also auf 1,6%. Ja, wer wird denn nun eigentlich in der allgemeinen Schule inkludiert? Die Sonderschüler*innen können es nicht sein, wenn man an die geringfügige Veränderung der Exklusionsquote von 0,5% denkt. Es erklärt sich damit, dass seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 sonderpädagogische Förderschwerpunkte vermehrt in der allgemeinen Schule diagnostiziert werden. Dazu neigen Lehrkräfte heute eher, weil daraus nicht mehr automatisch eine Sonderschulüberweisung erfolgt und vor allem zusätzliche sonderpädagogische Ressourcen akquiriert werden. Die Erhöhung der Inklusionsquote von 2,7% ist darauf zurückzuführen, dass Kinder und Jugendliche nun sonderpädagogische Förderung erhalten, die weiterhin die allgemeine Schule besuchen. Auf diese Weise erhöhen sich nominell Inklusionsquote und -anteile, ohne dass es faktisch weniger Sonderschüler*innen gibt. Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist es aber, kein Kind mehr vom allgemeinen Bildungssystem zu exkludieren. Ein Teil der Öffentlichkeit und Bildungspolitik empört sich folglich über eine Entwicklung, die mit der Inklusion von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderschwerpunkten kaum etwas zu tun hat.

Abschließend sei gesagt, dass man es sich zu einfach macht, stellte man die allgemeine Schule für die vermehrte behinderungsspezifische Etikettierung von Kindern und Jugendlichen an den Pranger. Ein seit vielen Jahren unterfinanziertes Bildungssystem nutzt jede Möglichkeit, zusätzliche Ressourcen zu bekommen. Nach einer aktuellen Studie zur Bildungsfinanzierung bedarf es eines zusätzlichen Finanzbedarfs in Höhe einer stattlichen zweistelligen Milliardensumme für das Bildungssystem. Das fehlende Geld erklärt die teils desaströsen Verhältnisse in Schulen und das Burnout eines Teils ihres Personals. Und nun kommt auch noch Inklusion dazu, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Vor allem Eltern, Lehrkräfte und Schulleiter*innen machen sich mit Hilfe dieses Themas Luft, weil sie wissen, dass damit aktuell die größte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt werden kann. Dabei bleibt oft unberücksichtigt: Die Misere des deutschen Bildungssystems existierte schon lange vor der Einführung der Inklusion.“