Nachgefragt: „Haben die Invasion Russlands in die Ukraine und der laufende Krieg auch einen religiös-kulturellen bzw. orthodox-christlichen Hintergrund?"

Gastbeiträge
Nachgefragt-Teaser

In der Rubrik „Nachgefragt“ liefert der Forschungsblog „WortMelder“ regelmäßig Statements von Wissenschaftler*innen der Universität Erfurt zu aktuellen Themen. Diesmal blicken wir auf den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine und auf den religiös-kulturellen Hintergrund des gesamten Konflikts, der unter anderem mit der dort herrschenden orthodox-christlichen Tradition viel zu tun hat. Die Invasion Russlands in die Ukraine hat nämlich eine solche religiöse Dimension, die oft in den Medien vernachlässigt oder sogar völlig ignoriert wird. Wir haben bei Vasilios N. Makrides, Professor für Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Uni Erfurt, nachgefragt: „Haben die Invasion Russlands in die Ukraine und der laufende Krieg auch einen religiös-kulturellen bzw. orthodox-christlichen Hintergrund?“

"Die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine überschlagen sich in diesen Tagen, denn der russische Angriff auf die Ukraine monopolisiert weitestgehend das internationale Interesse. Wie erwartet, stehen im Vordergrund (geo-)politische, strategische, ökonomische, militärische, globale und andere Dimensionen des Themas. Dabei wird oft übersehen, dass dieser vielschichtige Konflikt auch eine religiöse Dimension aufweist, die mit der jahrhundertealten orthodox-christlichen Tradition dieses gesamten Raumes in Osteuropa verbunden ist. Zwar gab die Orthodoxie sicherlich nicht den Anlass für die jetzige Invasion, doch ihre Bedeutung im Hintergrund des Konflikts darf nicht vernachlässigt werden. Leider übersehen viele säkulare Akteure und Kommentatoren im Westen sowie ein Großteil der westlichen Medien einfach diesen Hintergrund. Sie versuchen, Vladimir Putins Motivationsgründe und Denkmuster zu entschlüsseln und denken dabei, es gehe bei diesem Krieg hauptsächlich um einen alten KGB-Agenten, der von einer neuen UdSSR träumt, die er wiederherstellen möchte. Insofern drehen sich die Diskussionen um die Reaktionen und Sanktionen der NATO und der EU, um Energiefragen, um die Rolle der russischen Oligarchen im Westen oder um einen möglichen Atomkrieg. Jedoch übersieht man oft dabei die immense Rolle, die die mächtige Orthodoxe Kirche Russlands in postsowjetischer Zeit im öffentlichen Leben spielt und wie sie die russische Innen- und Außenpolitik zu einem erheblichen Grad mitbestimmt. Darüber hinaus ist der Faktor 'Orthodoxie' auf zahlreichen Ebenen ein nicht zu unterschätzender Faktor im postsowjetischen Russland. Ohne Berücksichtigung dieses Umstandes sind die post-1991-Entwicklungen in Russland einschließlich des aktuellen Krieges in der Ukraine nicht völlig nachvollziehbar. Hierzu einige erläuternde Bemerkungen: 

Zuerst sollte der gesamte russische Kontext in postsowjetischer Zeit näher unter die Lupe genommen werden. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte zu einem ideologischen Vakuum. Deshalb gab es eine ganze Menge von unterschiedlichen und zum Teil konkurrierenden geopolitischen Szenarien und Vorschlägen (z.B. neu-eurasische, neu-slawophile oder auch pro-westliche) über den künftigen Kurs des Landes. Die erste postsowjetische Dekade war eine Übergangsphase für Russland, in der viele Länder, Akteure und Beobachter (insbesondere in der westlichen Welt) eine zunehmende Annäherung Russlands, trotz aller Probleme, an den Westen prognostizierten und zudem versuchten, ihren Einfluss auf die dortigen Entwicklungen auszuüben. Zu jener Zeit war es hauptsächlich die neu erstarkte Russische Orthodoxe Kirche, die Widerstand gegen solche pro-westliche Pläne leistete. Jedoch scheiterten die erhoffte Demokratisierung und Liberalisierung Russlands nach westlicher Art. Die ganze Situation begann sich allmählich zu ändern, unter anderem als Putin im Jahr 2000 an die Macht kam. Der Abstand zum Westen wurde größer und größer, wobei die antiwestlichen Richtungen aller Art (auch unter dem Einfluss der Russischen Kirche) sich vermehrten. Es ging um eine Zeit, in der sich eine neue Identität und Rolle Russlands im globalen Zeitalter artikulierten, und zwar mit klaren antiwestlichen Orientierungen. Neue 'Visionen' über eine quasi-messianische Sendung Russlands in der Welt, gekoppelt mit apokalyptischen Szenarien, blühten in diversen orthodoxen Kreisen und Ideologen, die den dekadenten Westen scharf kritisierten und dämonisierten (siehe dazu das 15. Heft der 'Erfurter Vorträge' von 2016).

Zweitens: Einen entscheidenden Wendepunkt in dieser Entwicklung markierte die Wahl des neuen Patriarchen Kirill als Oberhaupt der Russischen Kirche im Jahr 2009. Dies führte zu einer noch engeren Verbindung zwischen Staat und Kirche mit Blick auf die Zukunft Russlands und in Abgrenzung zum Westen. Es ging um eine offene Sakralisierung der Politik, teilweise nach byzantinischem und zaristischem Vorbild. Die gemeinsamen öffentlichen Auftritte von Putin und Kirill, die ihre enge und innige Beziehung symbolisierten, waren keine Seltenheit. In diesem Rahmen wurde die Ideologie über die 'Russische Welt' (Russkij mir) verfestigt, die entscheidend die Zukunft Russlands prägen sollte. Es gibt seit 2007 eine gleichnamige Stiftung, vom Kreml gegründet und offiziell finanziert, zur Förderung der russischen Sprache und Kultur im Ausland – wie etwa das Goethe-Institut. Jedoch gibt es ein damit verbundenes, breiteres Verständnis der 'Russischen Welt' als geopolitische Ideologie, die unter anderem von der Russischen Kirche stark propagiert wird. Hierbei geht es hauptsächlich um die länderübergreifende, geschichtlich begründete spirituelle Einheit insbesondere von Russland, Ukraine und Belarus, aber auch der russischsprachigen Völkergruppen aus den ex-sowjetischen Republiken oder in anderen Teilen der Welt. Diese 'Russische Welt' sollte idealerweise ein gemeinsames politisches Hauptzentrum, eine Kirche und eine Kultur haben. Darüber hinaus wurde eine deutliche Grenze zwischen der 'Russischen Welt' und dem Westen gezogen. Das Wertesystem der 'Russischen Welt' wird unter anderem dem 'korrupten, säkularen und dekadenten Wertesystem' des Westens entgegengesetzt, das für seine 'Sittenwidrigkeit und seinen moralisch gefährlichen Niedergang' von der politischen und kirchlichen Führung Russlands wiederholt angeprangert wird. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Russische Kirche international als die prominenteste Vertreterin von 'traditionellen Werten' auftritt und entsprechende transnationale und transreligiöse Allianzen zu schmieden versucht. In diesem Rahmen wird die Orthodoxie sowohl als geopolitische Waffe als auch als Instrument von 'soft power' benutzt. Die Machtansprüche des Moskauer Patriarchats um eine Führungsrolle in der Welt der Orthodoxie zeugen einerseits von solchen geopolitischen Ambitionen, die der traditionellen panorthodoxen Rolle des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel entgegengesetzt sind. Die Gründung einer Dreifaltigkeitskathedrale und eines russisch-orthodoxen spirituellen und kulturellen Zentrums mitten in Paris in der Nähe des Eiffelturms im Jahr 2016  ist andererseits ein klares Zeichen von der 'soft power'-Dimension des ganzen Themas.

Drittens: Diese Vision von einer 'Russischen Welt' beinhaltet, wie bereits erwähnt, auch die Ukraine, die eine zentrale Stelle im relevanten russischen Diskurs einnimmt. Aus diesem Grund lässt sich gut erklären, warum die pro-westliche Orientierung der Ukraine (insbesondere nach dem Euromaidan, 2013-14) dem russischen Staat und der Kirche überhaupt nicht gefiel. Putin betonte selbst in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 an die russische Nation, die Ukraine sei für Russland kein bloßes Nachbarland, sondern unveräußerlicher Teil der eigenen Geschichte, der Kultur und des geistigen Raums. Die Orthodoxie wurde dabei als ein verbindendes Element erachtet, das auf die Christianisierung der Kiewer Rus’ zurückgeht. Dieselbe religiöse Metaphorik hatte Putin auch in seiner Rede vor der russischen Duma im März 2014 nach der Krim-Annexion sowie in seinem Aufsatz vom 12. Juli 2021 'Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern' benutzt. Dies belegt schließlich, dass die 'Russische Welt' nicht nur innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation existiert, sondern auch viele Millionen Menschen einschließt, die außerhalb derer leben, nicht zuletzt in der Ukraine. Dasselbe behauptet auch die Russische Kirche, die ihre Verantwortung jenseits der Grenzen der Russischen Föderation bei Völkern sieht, die die russische spirituelle und kulturelle Tradition als Grundlage ihrer nationalen Identität akzeptieren. Kiew ist insofern keine randständige Stadt, sondern 'die Mutter der russischen Städte', eine Art russisches 'Jerusalem' (so Patriarch Kirill 2019). Das ganze Thema bekommt dementsprechend eine starke sakrale Legitimation in der russischen religiösen Vorstellungs- und Geschichtswelt. So kann man gut verstehen, warum das Moskauer Patriarchat die 2019 von Konstantinopel erklärte Autokephalie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche am schärfsten kritisierte und seine Beziehungen zu Konstantinopel abbrach. Das Patriarchat von Konstantinopel sei – so die Argumentation – ein Instrument der US Außenpolitik bereits in der Zeit des Kalten Krieges, aber auch in postkommunistischer Zeit geworden. Es ist kein Zufall, dass die russische politische Führung (z.B. Außenminister Sergej Lawrow) auch diese Meinung teilt und die russischen kirchlichen Interessen öffentlich unterstützte. Andererseits verwundert es nicht, dass Patriarch Kirill die Invasion in die Ukraine nicht verurteilte und Putins Aktionen zu unterstützen scheint, auch wenn er gleichzeitig für den Frieden betet. Sein Diskurs bezog sich hier auf die 'bösen Kräfte', die die Einheit der Rus’ und der Kirche gefährden und die für den Konflikt verantwortlich sind. Es ist nicht schwer zu erahnen, wer dahinter zu verstehen ist: der Westen. 

Viertens: Was will Putin mit der Invasion in die Ukraine erreichen? Er will nicht die Sowjetunion wiederherstellen, wie es in vielen westlichen Medien bis zum Überdruss wiederholt wird. Er beklagte natürlich mehrmals den Untergang der UdSSR, aber er ist kein Nostalgiker des Bolschewismus. Er hat auch nicht den Verstand verloren, indem er einen solchen Krieg in Europa angefangen hat. Er versteht sich hauptsächlich als ein neuer Autokrat, ein Selbstherrscher mit einer religiös untermauerten Ideologie – die Autokratie in Russland blickt übrigens auf eine jahrhundertealte Tradition zurück und hat auch einen klaren byzantinischen und zaristischen Hintergrund. Die ganze Symbolik seiner jüngsten Fernsehansprachen, so etwa mit dem doppelköpfigen Adler auf dem Banner, deuten auf solche kaiserlichen Verbindungen unmissverständlich hin. Prinzipiell will Putin ein neues 'Russisches Reich' gemäß der Ideologie der 'Russischen Welt' schaffen. Vielleicht mag dies als eine romantische Vision erscheinen, doch sicherlich will er ein neues 'Großrussland' schaffen, das vom Westen abgegrenzt ist und eine selbstständige, souveräne und stolze Politik auf der Weltbühne betreibt, immer mit Respekt für die eigene Geschichte, Kultur und orthodoxen Werte. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass er es nicht bei der Ukraine belassen wird, denn es gibt eine beträchtliche Zahl von Russischsprachigen in unmittelbarer Nähe (z.B. in den Baltischen Staaten). Seine Handlungsweise ist insofern nicht diejenige eines säkularen politischen Akteurs. Religiöse Motive und Überzeugungen, auch wenn in anscheinend diffuser Form, spielen eine wichtige Rolle in seiner Denkwelt. Die Stadt Kiew und andere Städte im Süden der Ukraine, wie Cherson, verbunden mit der Taufe der Kiewer Rus’ im Jahr 988, haben daher eine herausragende symbolische Bedeutung für ihn (und auch für die Kirche und das russische kollektive Gedächtnis). Die Invasion in die Ukraine, zusammen mit der Fokussierung auf die Eroberung solcher Städte, könnte daher als eine Art 'spirituelle Reise' zu den Quellen der russischen Geschichte, Orthodoxie und Kultur gedeutet werden.

Fünftens: Interessanterweise ist Putins antiwestliche, religiös bedingte Vorgehensweise auch jenseits der Grenzen Russlands in unterschiedlichen Kontexten beliebt – dasselbe gilt auch für die Russische Kirche in ihrem Engagement für die weltweite Verteidigung traditioneller Werte. Dies betrifft nicht nur mehrheitlich orthodoxe Länder, wie etwa Serbien, wo erhebliche antiwestliche Strömungen präsent sind und zwar wegen der Kriegserinnerungen aus den 1990er-Jahren. Es gibt traditionalistische und konservative Akteure und Organisationen in westlichen Ländern selbst (auch in den USA), die Putin und das orthodoxe Russland als ideales Beispiel erachten und zwar für die Bekämpfung der eigenen Dekadenz und des moralischen Verfalls des Westens (z.B. wegen des exzessiven Liberalismus, Individualismus, Pluralismus, Relativismus, Konsumerismus und Säkularismus sowie der Freizügigkeit und der Genderrevolution). Viele dieser Akteure sind westliche Konvertiten zur Orthodoxie, die ein radikalisiertes Verständnis von ihr vertreten und verbreiten, oftmals in einem antimodernen, apokalyptischen und sektiererischen Rahmen. In dieser Ära von neuen Kulturkämpfen werden autoritäre Führer wie Putin beliebter und als Hoffnung für die Rettung von uralten, wahren Werten und den geistigen Grundlagen der menschlichen Existenz erachtet. In seiner Fernsehansprache vom 24. Februar 2022 mit der Kriegserklärung gegen die Ukraine hatte Putin übrigens die sich aggressiv verbreitenden westlichen 'Pseudowerte' erneut scharf kritisiert, die zur Entartung der menschlichen Natur führen und die die russischen traditionellen Werte ernsthaft bedrohen. Auch wenn er in den vergangenen Tagen wegen der Invasion in die Ukraine international massiv kritisiert wird, wird er gleichzeitig – zusammen mit der russischen Orthodoxie – von solchen Sympathisanten im Westen nicht als Feind, sondern als Hoffnungsträger für eine mögliche Rettung der angeblich stets verfallenden westlichen Zivilisation gepriesen."

Bildnachweis: Gemeinsame öffentliche Auftritte von Putin und Kirill, die ihre enge und innige Beziehung symbolisierten, waren keine Seltenheit. (Foto: Wikimedia Commons)

Kontakt:

Inhaber der Professur für Orthodoxes Christentum
(Philosophische Fakultät)
Lehrgebäude 4 / Raum E11
Sprechzeiten
nach Vereinbarung per E-Mail
zur Profilseite