Vor einem halben Jahrtausend, im Jahr 1522, erschien das sogenannte "Septembertestament": Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments in deutscher Sprache, dessen 500. Jubiläum in diesem Jahr unter dem Motto „Welt übersetzen“ thüringenweit gefeiert wird. Zwar wissen wir heute von 18 früheren deutschen Versionen anderer Übersetzer, dennoch gilt Luthers Werk als bahnbrechend – griff er doch als Vorlage nicht auf die lateinische Übersetzung des frühchristlichen Kirchenvaters Hieronymus zurück, sondern auf die Urfassungen in Hebräisch, Aramäisch und Griechisch. Und: Er strebte keine wortwörtliche Übersetzung an wie die früheren Übersetzer, sondern eine, die dem zeitgemäßen Sprachgebrauch entsprechen sollte. „Dem Volk aufs Maul schauen“ war ihm dabei Vorgehensweise und Ziel zugleich. Das Ergebnis sei deshalb auch als eine Luther’sche Bibelauslegung zu verstehen, sagt Dr. Daniel Gehrt von der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt (FBG). Dort liegen seit 300 Jahren mit den Luther-Autografen bedeutende Fragmente Luthers epochalen Werks. Zum Beispiel das eigenhändige Druckmanuskript des alttestamentarischen Buchs Jeremia, das letzte Korrekturen, Änderungen in Wortwahl und umgestaltete Formulierungen enthält, die der Reformator noch machte, bevor es beim Drucker eingereicht wurde. Ein bedeutender Schatz in den Sammlungen der FBG, der im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Bücher bewegen“ (vom 9. April bis zum 19. Juni 2022) im Original zu sehen sein wird. Als Reformationsexperte und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften kennt Daniel Gehrt die Jeremia-Übersetzung „in- und auswendig“. Ein Gespräch über eine schöpferische Leistung, die uns bis heute prägt...
Herr Dr. Gehrt, Ihnen sind schon unzählige Schätze bei Ihrer Arbeit an der Forschungsbibliothek Gotha durch die Hände gegangen. Was ist das Besondere an Luthers Jeremia-Übersetzung?
Einerseits bereichert sie unsere Reformationshandschriften natürlich ungemein und trägt dazu bei, dass diese eine der bedeutendsten Sammlungen ihrer Art in der Bundesrepublik Deutschland ist. Darüber hinaus ist es aber vor allem die philologische Leistung Luthers, die das Manuskript widerspiegelt. Die Bibel aus dem Hebräischen, Aramäischen und Griechischen in ein gebräuchliches, allgemeinverständliches und gleichwohl gutes Frühneuhochdeutsch zu übersetzen, war für Luther und seine Kollegen eine Herkulesaufgabe. Die von Luther eigenhändig überlieferten Fragmente der Druckmanuskripte für Jeremia (und Jesus Sirach) lassen den komplexen Entstehungsprozess plastisch nachvollziehen. Die handschriftlichen Anmerkungen zeugen von den fast endlosen Erwägungen, die damit verbunden waren, die Heilige Schrift möglichst wort- und sinngetreu wiederzugeben. Es verwundert mich, dass alles überhaupt korrekt gesetzt werden konnte, ohne die Manuskripte vorher in Reinschrift zu bringen.
Sie sprechen von „seinen Kollegen“. Stimmt unser Bild Luthers als jener zur Einsamkeit verdammter Verfolgter, der seine Isolation auf der Wartburg oder der Veste Coburg nutzt, um allein ein Mammutwerk zu übersetzen, gar nicht?
Man kann Luther schon die Hauptleistung zuschreiben. Dennoch muss die „Lutherbibel“ als ein kollektives Arbeitsergebnis verstanden werden. Luther hat dieses Werk nicht allein hervorgebracht, sondern viele von seinen Kollegen in Wittenberg und anderorts waren ebenfalls an der Entstehung und den fortwährenden Verbesserungen der Übersetzung beteiligt.
Eins-zu-eins-Übersetzungen sind ja meist kaum lesbar. Übersetzung bedarf deshalb immer auch einer sprachlichen Anpassung, zum Teil sogar einer gewissen Freiheit zur Interpretation. Wie viel Luther steckt denn letztlich in Luthers Bibel?
Luthers Übersetzung entspricht seinem persönlichen Verständnis der Heiligen Schrift. Dabei hat er bestimmte Akzente gesetzt, die zum Teil kontrovers waren. Das berühmteste Beispiel ist die Hinzufügung des Adverbs „allein“ in Röm 3,28: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“. Obwohl ein entsprechendes Wort im altgriechischen Urtext nicht vorkommt, entschied sich Luther für die Ergänzung, um die Aussage zu verstärken bzw. deutlicher zu machen. So unterstrich er einen der Grundpfeiler seiner reformatorischen Theologie: Der Mensch werde allein durch den Glauben vor Gott gerecht, und nicht auch durch Werke. Das Beispiel zeigt, dass die Lutherbibel grundsätzlich als eine lutherische Interpretation der Bibel angesehen werden kann.
Es gibt ja viele Zitate von Luther, die wir heute noch nutzen oder zumindest als geflügelte Worte kennen. War sich Luther denn bewusst, dass er auch sprachlich etwas Epochales schuf, oder war sein Ziel tatsächlich vorrangig, dass auch das einfache Volk die Bibel lesen kann?
Ich denke beides. In seinem Vorwort zu Jesus Sirach beschreibt Luther die besondere Herausforderung, die die Übersetzung dieser willkürlich erscheinenden und leicht missdeuteten Kompilation von Weisheitssprüchen für ihn darstellte. Nach seiner Meinung übertrafen seine Leistungen alle vorhergehenden griechischen, lateinischen und deutschen Übersetzungen dieses Buchs. Er verglich seine Arbeit bildhaft mit der Wiederherstellung und Reinigung der zerstreuten Fetzen eines zerrissenen und zertretenen Briefs.
Das zeugt von einem gewissen Selbstbewusstsein. Heute wissen wir seine Leistung natürlich zu schätzen. Wie sahen das denn seine Zeitgenossen?
Auch die erkannten seine sprachschöpferische Leistung an. Die Übersetzung wurde rasch nach ihrer Vollendung 1534 kanonisch. Dies manifestierte sich unter anderem dadurch, dass lutherische Pfarrer beim Predigen darauf achteten, Bibelstellen wortwörtlich nach dieser Übersetzung wiederzugeben. So befinden sich zum Beispiel in der Forschungsbibliothek Gotha mehrere Hunderte lateinisch verfasster Predigtentwürfe des thüringischen Theologen Johann Gerhard mit Bibelstellen nach Luthers deutscher Übersetzung. Gerhard empfahl seinen Theologiestudenten übrigens, sich intensiv mit Luthers Übersetzung zu beschäftigen, nicht nur aus exegetischen Gründen, sondern auch um ihren Sprachstil zu verbessern.
Apropos Johann Gerhard, er verhalf der Lutherbibel ja noch zusätzlich zum Siegeszug…
Ja, Gerhard wirkte in den letzten Jahren seines Lebens federführend an einer kommentierten Ausgabe der Lutherbibel, die unter der Patronage des Weimarer und ab 1640 Gothaer Herzogs Ernst I. stand. In runden Klammern befinden sich zahllose Erläuterungen zu einzelnen Wörtern und Phrasen an den entsprechenden Stellen im Text. Das Manuskript dieses sogenannten „Ernestinischen Bibelwerks“ befindet sich zusammen mit dem Nachlass von Gerhard in der Forschungsbibliothek Gotha und galt von seiner Erstauflage 1641 bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als führende kommentierte deutsche Bibelausgabe für lutherische Exegese.
Alles in Allem, wie könnte man die Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung für das Hier und Jetzt zusammenfassen?
Das ist eine sehr komplexe Frage, die ich als Historiker an dieser Stelle gar nicht allein beantworten kann. Je nach Kirchen- und Staatszugehörigkeit oder persönlicher Glaubensauffassung kann sie beispielsweise einen ganz anderen Stellenwert einnehmen. Aber fest steht: Ihre Bedeutung für die lutherische Konfessionskultur und die deutsche Sprachkultur ist kaum zu überschätzen.
Abb.: Luthers Übersetzungsmanuskript zum Propheten Jeremia. [Veste Coburg, 1530]. Chart. B 142, Bl. 6r. (Ausschnitt) © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)