6. Oktober 2018. Am Rande des Hambacher Waldes in der Nähe von Buir, Kerpen, in Nordrhein-Westphalen versammeln sich rund 50.000 Menschen und protestieren gegen die Rodung des Waldes und den Braunkohletagebau. Die Demonstration wird damit zur bis dato größten Anti-Kohle-Demonstration Deutschlands und bildet der Höhepunkt der Proteste um den Hambacher Wald.
Wie alles begann
Der Hambacher Wald war ursprünglich der größte Wald Nordrhein-Westfalens und zeichnet(e) sich durch hohe Biodiversität sowie das Vorkommen seltener Tier- und Pflanzenarten aus. Dennoch wurde der Wald über Jahrzehnte Stück für Stück gerodet um die Kohle unter dem Wald zu fördern. Für die Kohlebagger musste nicht nur ein Großteil des Waldes weichen, sondern auch Dörfer, deren Bewohner*innen enteignet und zwangsumgesiedelt wurden. Gegen diese Praxis regte sich bereits in den 1970er-Jahren Widerstand, zunächst ohne Unterstützung von Umweltorganisationen. Eine Ausnahme bildet hierbei der BUND Nordrhein-Westphalen, der schon frühzeitig versuchte, die Rodungen zu stoppen. Was auf lokaler Ebene begann, entwickelte sich zu einem internationalen Netzwerk aus Organisationen und engagierten Einzelpersonen. Die so entstandene Hambach-Bewegung vereint gemeinsame Ziele: der Erhalt des Hambacher Waldes und der rasche Kohleausstieg Deutschlands.
Eine besondere Form des Widerstands „feierte“ diesen Monat ihr 10-jähriges Bestehen: die Waldbesetzung. Durch den Bau von Baumhäusern und der dauerhaften Bleibe im Wald erhofften sich die Besetzer*innen den Hambacher Wald vor weiteren Rodungen zu schützen. In den Jahren 2012 und 2014 war es insgesamt zu drei Räumungen der Baumhäuser gekommen, jedoch besetzten die Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb von Monaten den Hambacher Wald erneut. Die Proteste für den Erhalt des Hambacher Waldes liefen lange unter dem Radar der Öffentlichkeit. Das änderte sich im September 2018 als im Hambacher Wald die nächste Rodungssaison bevorstand und der Tagebaubetreiber RWE ankündigte den Wald erst zu räumen und dann zu roden. Diese Ankündigung trat eine Welle von Demonstrationen los und motivierte viele Personen, sich der Waldbesetzung oder einer der anderen Protestformen anzuschließen. Die Demonstrationen für den Hambacher Wald erreichten am 6. Oktober 2018 ihren Höhepunkt, als sich 50.000 Menschen am Rande des Waldes versammelten.
Die Symbolik des Hambacher Waldes
Der Hambacher Wald ist weit über das Rheinische Braunkohlerevier zum Symbol für den Widerstand gegen den Braunkohletagebau und die Kohleverstromung sowie für eine rasche Energiewende und eine ambitionierte deutsche Klimapolitik geworden. Diese Symbolik des Hambacher Waldes leitet sich aus unterschiedlichen Narrativen in der Hambach-Bewegung und darüber hinaus ab. Die Aktivisten und Aktivistinnen verfolgen sechs Narrative mit unterschiedlichen Schwerpunkten: (1) Naturschutz, (2) Klimaschutz, Klimapolitik und Klimabewegung, (3) Kohleförderung und Energiepolitik, (4) Politikstrukturen in Deutschland, (5) Macht der Zivilgesellschaft, (6) alternative Lebensformen und systemischer Wandel.
Das ersten Narrativ fokussiert die ökologischen Werte des Waldes mit sehr alten Bäumen, sowie die Zerstörung von Ökosystemen, anstatt diese unter Schutz zu stellen. Der Naturschutz steht in diesem Narrativ im Vordergrund.
Das zweite Narrativ hebt den Klimaschutz und die Klimapolitik hervor und betont, dass der Hambacher Wald aus klimapolitischer Sicht nicht gerodet werden dürfe. Hierbei wird Bezug genommen auf die internationale Klimabewegung und die internationale Aufmerksamkeit, die die geplante Rodung des Waldes bekam: Es besuchten internationale Pressevertreter*innen den Wald und ausländische Zeitungen wie beispielsweise die New York Times berichteten über die Proteste.
Das dritte Narrativ geht in eine ähnliche Richtung. Aus einer energiepolitischen Perspektive stellt es den Konflikt zwischen Kohlebagger gegen Wald in den Vordergrund. Das Narrativ ist eine klare Kritik an der Kohleförderung und der deutschen Energiepolitik.
Die Narrative vier bis sechs gehen über die ökologischen und energiepolitischen Betrachtungsweisen hinaus und haben ihren Fokus auf politischen und sozialen Aspekten. Das vierte Narrativ kritisiert die politischen Strukturen, welche dazu führen würden, dass Konzerninteressen über die Interessen der Zivilgesellschaft gestellt werden. Das fünfte Narrativ bezieht sich auf die Macht der Zivilbevölkerung. Die Proteste im Hambacher Wald hätten gezeigt, dass friedvoller Protest sich auszahlen könne. Das sechste Narrativ bezieht sich auf alternative Lebensformen und einen geforderten Systemwandel, der über den Wald hinausgeht.
Die verschiedenen Narrative, die sich teilweise überschneiden, beschreiben die Symbolkraft des Hambacher Waldes aus unterschiedlichen Perspektiven sowie die Beweggründe, aus denen sich Aktivisten der Bewegung anschlossen. Es zeigt sich auch, dass die Bedeutung des Waldes innerhalb der Bewegung variiert. Trotz unterschiedlicher Narrative und Ansichten, vereint die Engagierten das gemeinsame Ziel, den Hambacher Wald vor der Zerstörung zu bewahren und die weitere Ausdehnung des Tagebaus zu verhindern.
Neben den Narrativen innerhalb der Bewegung gibt es auch Narrative außerhalb der Bewegung. Diese änderten sich mit der Zeit erheblich. Zu Beginn des Protestes gab es kaum öffentliche Wahrnehmung für die Problematik und die Besetzung des Hambacher Waldes wurde als „Ökoterrorismus“ denunziert. Die Bedeutung des Hambacher Waldes ist in der Breite der Gesellschaft eng mit den Besetzerinnen und Besetzern des Hambacher Waldes und der breiten Hambach-Bewegung verknüpft. Aus anfänglicher Skepsis wurde Bewunderung für die Baumwerke im Wald und für die Ausdauer, mit der die Aktivisten versuchten, den Wald zu retten. Daraus resultierte in vielen Menschen der Wunsch, die Hambach-Bewegung zu unterstützen. Darüber hinaus führte auch die offizielle Begründung für die Räumung des Waldes – Brandschutz – zu vermehrter Unterstützung. Dass Brandschutz nur der Vorwand war, unter dem es RWE gestattet wurde die Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Wald zu holen, wurde im September 2021 durch das Verwaltungsgericht Köln bestätigt.
All dies führte zu einer breiten Unterstützung der Hambach-Bewegung, die sich nicht nur an der Demonstration am 6. Oktober 2018 deutlich zeigte, sondern auch durch viele Solidaritätsproteste fernab des Hambacher Waldes in Deutschland und im Ausland wie zum Beispiel in Prag.
Proteste für den Wald, Verhandlungen in Berlin & Prozess in Münster
Parallel zu den fortdauernden Protesten im Rheinland und den Bemühungen der Räumung durch RWE, tagte in Berlin die sogenannte Kohlekommission (offiziell: Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“). Im Sommer 2018 von der deutschen Bundesregierung einberufen, erarbeitete die Kommission Vorschläge, wie und wann der Kohleausstieg in Deutschland vollzogen werden könne. Die Kommission setzte sich aus Wissenschaftler*innen, Nichtregierungsorganisationen, Industrieverbänden, Gewerkschaftsvertreter*innen, Lokalpolitiker*innen sowie weiteren Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen. Die vertretenen Umweltverbände sowie die Vertreterinnen der Zivilgesellschaft brachten die Frage des Erhalts des Hambacher Waldes mit an den Verhandlungstisch und so schaffte es dieser auch in die Abschlusserklärung, welche im Frühjahr 2019 veröffentlicht wurde: „Die Kommission hält es für wünschenswert, dass der Hambacher Forst erhalten bleibt“. Ebenfalls parallel zu den Räumungs- und Rodungsvorbereitungen verhandelte das Oberverwaltungsgericht Münster über die Zukunft des Hambacher Waldes und fällte am 5. Oktober 2018 das vorläufige Urteil, dass die Inanspruchnahme von bewaldeten Flächen des Hambacher Waldes derzeit nicht zulässig sei. Obwohl dieses Gerichtsurteil später revidiert wurde, führte es zu einem vorläufigen Rodungsstopp im Hambacher Wald.
Das gestiegene Interesse an den Themen Kohleausstieg und Klimawandel in der deutschen Öffentlichkeit begründet sich also auf mehreren parallel stattfindenden Prozessen. Zusätzlich war der Sommer 2018 ein sehr langer und heißer Sommer, wodurch das Thema Klimawandel und Folgen des Klimawandels auch in Deutschland spürbar wurden.
Zehn Jahre später: Die Bedeutung für die Anti-Kohle-Bewegung in Deutschland
Heute, zehn Jahre nach der ersten Besetzung des Hambacher Waldes, ist der deutsche Kohleausstieg im Jahr 2038 beschlossene Sache. Die Empfehlungen der Kohlekommission aus dem Jahr 2019 wurden – wenn auch in abgeschwächter Form – in Gesetzen verankert und die Ampel-Regierung möchte laut Koalitionsvertrag sogar „den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorziehen“. Die Hambach-Bewegung konnte durch ihre anhaltenden Proteste und Klagen erreichen, dass die geplante Fläche für den Braunkohletagebau Hambach reduziert wurde, wodurch weniger Braunkohle gefördert werden wird und der Hambacher Wald gerettet werden kann.
Dennoch ist es im Rheinischen Kohlerevier nicht ruhig geworden: Die Kohlebagger, von Betroffenen auch „Heimatfresser“ genannt, graben unermüdlich weiter und so ist auch die Anti-Kohle-Bewegung weiterhin aktiv. Durch die Rettung des Hambacher Waldes vor weiteren Rodungen – um den Wald langfristig zu schützen fordern Umweltverbände die Ausweisung des Waldes als Naturschutzgebiet sowie eine Vernetzung der Waldfläche mit nahegelegenen Wäldern – hat sich der Protest auf die weiterhin von Enteignungen und Zwangsumsiedlungen betroffenen Dörfer verlagert. Der Erhalt der betroffenen Dörfer erschien vielen Einwohnerinnen und Bewohnern vor 2018 undenkbar. Durch die Erfolge im Kampf um den Hambacher Wald schöpften sie jedoch Hoffnung und es formierte sich das Bündnis „Alle Dörfer bleiben“, welches für den Erhalt der vom Tagebau betroffenen Dörfer in ganz Deutschlang kämpft. Zusammen mit vielen Aktivistinnen und Aktivisten der Hambach-Bewegung protestieren Anwohner*innen und Mitglieder der Klimagerechtigkeitsbewegung nun für den Erhalt der Heimat im Rheinischen Kohlerevier und in den anderen deutschen Revieren. Das Bündnis konnte bereits erste Erfolge erzielen, der Kampf und die Proteste halten aber weiterhin an.“
Die Autorin dieses Textes, Almut Mohr, ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt und forscht zu sozial-ökologischen Bewegungen und Energiewenden, insbesondere zum Kohleausstieg.