Im Durchschnitt haben nicht einmal 10% aller Katholikinnen und Katholiken in Deutschland zuletzt den Gottesdienst am Sonntag besucht. Eine solch geringe Zahl gibt Anlass dazu, über den Charakter liturgischer Feiern neu zu verhandeln, befindet Prof. Dr. Benedikt Kranemann, Liturgiewissenschaftler an der Universität Erfurt. Für „Theologie Aktuell“, den Blog der Katholisch-Theologischen Fakultät, kommentiert er, welcher Form der Gottesdienst in einer pluralen Gesellschaft bedarf und wie die Liturgie damit zur Erneuerung der katholischen Kirche beitragen muss. Hier gibt es einen Auszug aus seinem Beitrag:
„‚Viele sind davon enttäuscht und gelangweilt‘, ließ sich vor wenigen Tagen der Sprecher des Diözesanrats im Bistum Rottenburg-Stuttgart, Johannes Warmbrunn, bei katholisch.de zitieren. Er bezog seine Kritik auf die Glaubensverkündigung – also auch auf die Liturgie. Kurz darauf lag eine Broschüre mit der Statistik der katholischen Kirche für 2018/19 auf dem Tisch. 9,3% der Katholiken haben demnach im Bundesdurchschnitt zuletzt den Gottesdienst am Sonntag ‚wahrgenommen‘. Eine wirklich schlechte Nachricht, die durch den Jahr für Jahr zu lesenden Nachsatz ‚eine Zahl, die sich neben Teilnehmerzahlen sonstiger Veranstaltungen wie Sport oder Museumsbesuch sehen lassen kann‘, nicht aufgewogen wird. Wie enttäuscht und gelangweilt sind die Menschen beim Sport und im Museum, wie sehr in der Liturgie?
Das Dilemma ist rasch umrissen: Die katholische Kirche begreift sich wesentlich aus der Liturgie. Das gehört zu ihrem Selbstverständnis. Die entsprechenden Konzilstexte, Hirtenbriefe, theologischen Traktate, die dieses immer wieder proklamiert haben, müssen nicht zitiert werden. Es gibt viele Gründe, warum Menschen den Gottesdienst nicht mehr (regelmäßig) feiern mögen. Aber die Frage muss mindestens gestellt werden, ob es nicht auch an der Art und Weise liegt, wie sich die Kirche hier präsentiert. Stimmt die Qualität noch? Überzeugen die Formate der Liturgie? (…)
Sport treibt man am Sonntag, um fit zu bleiben oder Freunde zu treffen. Ins Museum geht man, um sich kulturell zu bereichern. Warum feiert man Gottesdienst? Primär weil man getauft ist, sein Christsein deshalb am Sonntag neu aus dem stärkten möchte, was hier verkündet wird, und (auch) darin seine Taufe leben möchte. Da sollte anderes als Langeweile angesagt sein, da reicht ‚in the long run‘ nicht nur ein ‚wahrnehmen‘ der Liturgie. Es bedarf einer Kirche und Gemeinschaft, die sich begeistern lässt von dem, was in der Liturgie zugesagt wird, und die gemeinsam für sie Verantwortung trägt. Dafür gibt es Voraussetzungen in der Kirche, sie muss man wieder und wieder aufrufen: Die katholische Kirche muss gerade ihren Gottesdienst qualitativ deutlich erneuern und dabei stärker zu einer partizipativen und offenen Kirche finden, wenn sie Menschen begeistern, mindestens interessieren will. (…)
Wenn es heute um eine dringende Erneuerung der Kirche geht, spielt die Liturgie eine wesentliche Rolle. Was hier Feier für Feier erfahren wird, schreibt sich in das Gedächtnis der Kirche wie des Einzelnen ein. Ein wesentlicher Aspekt: Liturgie muss heute als Gemeindegottesdienst gefeiert werden. Das verlangt das Recht der Getauften. Das ist eine Konsequenz pastoraler Klugheit. Bei immer weniger Ordinierten wird es überhaupt nicht anders gehen. Wenn im Gottesdienst immer nur ein Gegenüber von ordiniertem Priester und Gemeinde erlebt wird – Ausnahmen in Rechnung gestellt –, verdeutlicht dies ein bestimmtes, letztlich verengtes Kirchenbild. Eine solche Kirche enttäuscht und treibt Menschen aus den Gottesdiensten heraus. Gemeinschaft in der Liturgie ist ein Qualitätsmerkmal.
Wenn die Qualität nicht stimmt, zieht das Kirche und Glauben nach unten. Wenn dagegen im Gottesdienst erfahren werden kann, wie die Feiernden das gottesdienstliche Geschehen gemeinschaftlich tragen, fördert dies eine andere Form des Miteinanders in der Kirche und eine andere Glaubwürdigkeit des Gottesdienstes wie der Kirche. Die Rollenverteilung in der Liturgie, die Art und Weise des Sprachgebrauchs, die Raumanordnung, selbstverständlich die Frage, wer wie Verantwortung für die Liturgie wahrnehmen kann, sind hier relevante Aspekte. Das ist ein Plädoyer dafür, nach der Qualität einer Liturgie zu fragen, die Ausdruck einer partizipativen Kirche sein soll. (…)
Christsein in einer pluralen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Lebensformen wie Formen der Vergemeinschaftung, ihren ganz verschiedenen Verbindlichkeiten, mit denen man sich Initiativen, Gruppen usw. anschließt, verlangt nach unterschiedlichen und qualitätsvollen Formen des Gottesdienstes. Niemand stellt die Eucharistiefeier in Frage, der die Bedeutung von Wortgottesdiensten oder verschiedenen Liturgien mit exponierten Zeichenhandlungen hervorhebt. Sie können ein ‚klassisches‘ Format besitzen, können ein ‚Update‘ erfahren haben, können neu konzipiert werden. (…)
Die Kirche kann in einer pluralen Gesellschaft, wenn sie mit dem Evangelium Menschen nahe sein will, auf diese Toleranz nicht verzichten. Dafür sind die Lebensweisen, auch von Katholikinnen und Katholiken, im Alltag viel zu disparat. Um dem Menschen wie dem Evangelium gerecht zu werden, spricht alles für ein weites Kirchen- und Liturgieverständnis: gemeinschaftlich verantwortete Liturgie, regional verankert, situativ gestaltet. (…)“