Bis Ende dieses Jahres sollen die drei letzten noch betriebenen Atomkraftwerke Deutschlands vom Netz genommen werden. So sieht es das 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vor, das 2011 nach den Ereignissen im japanischen Fukushima beschlossen wurde. Angesichts der Energiekrise, die der Krieg in der Ukraine ausgelöst hat, und das Näherrücken dieses Termins kreist die öffentliche Debatte nun um die Frage, ob abgeschaltete Kraftwerke reaktiviert werden können oder ob die Laufzeit der verbliebenen Meiler verlängert werden sollte. Letzteres forderten kürzlich auch zahlreiche Wissenschaftler*innen in der sogenannten „Stuttgarter Erklärung“. Soll Deutschland also wirklich den Atomausstieg rückgängig machen? Nein, sagt Professor Dr. Andreas Goldthau, Energieexperte und Direktor der Willy Brandt School of Public Policy der Uni Erfurt. Das schaffe auch keine Energiesicherheit, argumentiert er in seinem Plädoyer GEGEN die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken in Deutschland:
Die gegenwärtige Debatte um eine Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke verkennt die Realitäten. Eine Reversion des Atomausstiegs würde in der gegenwärtigen Energiekrise nicht helfen. Und mehr Energiesicherheit schafft es auch nicht.
Drei Gründe sind hier maßgebend. Zum ersten: Die Laufzeiten der drei verbleibenden Anlagen kann man verlängern, es löst jedoch fundamentale technische Fragen nicht. Beispielsweise verfügen die Betreiber nur über limitierte Restbestände an Brennstäben. Die Anlagen müssten also im sogenannten Streckbetrieb fahren, und unterm Strich bliebe die Leistung gleich – man muss ja länger mit dem vorhandenen Brennstoff auskommen. Auch der Zukauf an nuklearem Material ist nicht trivial, denn Uran wird üblicherweise über Langfristverträge verkauft. Etwa 40 Prozent der europäischen Uranimporte stammten vor Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine aus Russland und dem Eurasischen Unions-Mitglied Kasachstan. Man müsste sich also mit alternativen Anbietern wie Niger, Kanada oder Australien ins Benehmen setzen. Das braucht Zeit, Schätzungen zufolge zwischen 12 und 24 Monaten. Zudem: Über die letzten zehn Jahre hat sich der deutsche Nuklearsektor betriebswirtschaftlich auf den Ausstieg vorbereitet, und u.a. hoch spezialisierte Mitarbeiterbestände abgebaut. Selbst die Betreiberfirmen sind daher größtenteils zurückhaltend, was eine „Renaissance“ der deutschen Atomkraft angeht.
Atomkraftwerke sind zu unflexibel."
Zum zweiten: Die gegenwärtige Energiekrise ist vor allem eine Gaskrise. Gas wird etwa zu einem Drittel jeweils in Haushalten, Industrie und für die Stromerzeugung genutzt. Atomkraftwerke liefern zwar Strom, jedoch nicht die für die industrielle Produktion so zentrale Prozesswärme. Und da Elektroheizungen in Deutschland kaum verbreitet sind, blieben trotz Atomenergie die Wohnungen kalt, wenn Putin‘s Gas wegfällt. Zudem: Atomkraft liefert Grundlast, also gleichbleibende Strommengen. Mit steigendem Anteil an Erneuerbaren im Strommix jedoch – im Schnitt bereits knapp 50 Prozent des Stromverbrauchs – gilt es nun jedoch vor allem die Spitzennachfrage abzudecken. Hierfür sind Atomkraftwerke, anders als Gaskraftwerke, zu unflexibel. Sie ersetzen diese also nicht, anders als die Kohle, was erklärt warum in der gegenwärtigen Krise vor allem der aus klimapolitischer Sicht schädlichste Energieträger stark nachgefragt ist. Atomenergie hat in einem auf Solar und Wind basierenden Energiesystem schlicht keinen Platz mehr.
Drittens: Das Narrativ der Atomkraft als zuverlässige Energiequelle trägt nicht mehr. Das Beispiel Frankreich führt dies gerade vor Augen. Etwa die Hälfte der 56 Reaktoren im Nachbarland ist vom Netz, aufgrund anhaltender Störungen, Korrosion und den mit einer Hochrisikotechnologie einhergehenden Sicherheitsmaßnahmen. Zudem wird immer deutlicher, wie sehr Atomkraft von Umweltfaktoren abhängig ist. So führen beispielsweise die Rekordniedrigstände der Flüsse, eine Folge des Klimawandels, dazu, dass nicht ausreichend Kühlwasser zur Verfügung steht. Die Folge sind Energieimporte – nicht zuletzt aus Deutschland, das mit Strom aushelfen muss – sowie Rekordpreise, selbst im europäischen Vergleich.
Atomenergie löst das Energieproblem nicht."
Und zuletzt: Setzte man mittel- und langfristig auf Atomstrom, so müssten neue Kraftwerke gebaut werden. Das Problem hier ist vor allem die dafür notwendige Zeit. Die neue britischen Nuklearanlage Hinkley Point C beispielsweise wird etwa 2027 in Betrieb gehen, nach einer Bauzeit von mehr als zehn Jahren und explodierenden Kosten, die sich mittlerweile auf mehr als 30 Milliarden Euro belaufen. Wirtschaftlich wird Hinkley Point C auch nur deshalb, weil der britische Staat eine Strom-Vergütung sicherstellt, die über der von Erneuerbaren liegt. Gebaut wird die britische Anlage im Übrigen neben der französischen EDF ausgerechnet von einem chinesischen Staatskonzern – es stellt sich also auch die Frage der Abhängigkeit in der Technologieführerschaft.
Atomenergie löst das Energieproblem nicht, es ist eine Technologie, die bestenfalls in einer Dekade „liefert“, und sie kann für die Sicherung der Energieversorgung zukünftig keine sinnvolle Rolle mehr spielen. Deutschland ist besser beraten, die heute wirtschaftlich zu betreibenden Erneuerbaren auszubauen, und die Technologielernkurve von Zukunftstechnologien wie grünem Wasserstoff zu beschleunigen. Im Zusammenspiel bieten sie die nachhaltige Lösung für die gegenwärtige Herausforderung – und halten Wertschöpfung im Land.