Ein Baby. Für die meisten Paare die Erfüllung eines Traums. Das große Glück. Neues Leben als Beweis ihrer Liebe. Was aber, wenn dieses Leben mit dem Tod beginnt? „Dann geht es darum, die Tage des Kindes mit Leben zu bereichern, nicht sein Leben um Tage zu verlängern“, sagen betroffene Eltern. Eltern, deren Baby ohne Großhirn im Mutterleib herangewachsen ist. Heilung ausgeschlossen. Der Tod des Kindes nach nur wenigen Stunden sicher. Anenzephalie lautet der medizinische Fachbegriff. Und er wirft Fragen auf. Weniger für die Medizin als für die Eltern, Angehörigen, für die Seelsorge. Wie viel Gehirn braucht der Mensch, um Mensch zu sein? Was tun bei einer solchen Diagnose? Wie umgehen mit diesen paar Gramm Glück?
Zwei Wissenschaftler der Universität Erfurt haben sich vor vielen Jahren des Themas angenommen. Der eine, Prof. Dr. Harald Goll, Sonderpädagoge, der andere, Prof. Dr. Josef Römelt, Moraltheologe. Gemeinsam wollen sie Aufmerksamkeit schaffen. Dafür sorgen, dass das Thema nicht ausschließlich aus medizinischer Perspektive betrachtet wird und dass betroffene Eltern Unterstützung finden bei der Auseinandersetzung mit ihren ganz eigenen Ängsten und Bedürfnissen. Und sie wollen Mut machen, Kinder mit Anenzephalie überhaupt zu gebären, was lange Zeit alles andere als selbstverständlich war.
„Niemand ist vergessen – das ist ein ganz wichtiger Grundsatz in der Sonderpädagogik“, sagt Prof. Dr. Harald Goll. „Und vor dem Hintergrund sehe ich auch unsere Arbeit an diesem Thema.“ 1993 hat der Sonderpädagoge sich erstmals tiefergehend mit Anenzephalie beschäftigt, wollte dort anfangen, wo andere aufhören. Alle Kinder mit ins Boot holen, niemanden ausschließen. Es folgten Seminare für Studierende sowie die Betreuung erster Diplomarbeiten über ethische Probleme bei hirngeschädigten Neugeborenen und pädagogische Hilfen. Aber es sollte mehr passieren. Betroffene, Angehörige und Fachleute – Mediziner, Pädagogen, Juristen, Theologen – sollten zusammenkommen. Und das taten sie auch. 2004 im Juni beim ersten Expertengespräch, zu dem Goll und sein Kollege aus der Theologischen Fakultät, Professor Josef Römelt, eingeladen hatten. Seither tasten sie das Thema systematisch ab. Jedes Jahr findet ein solches Expertengespräch statt, informiert, beschreibt die Thematik aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Und setzt dabei gleichzeitig ein Zeichen: Eure Kinder sind nicht vergessen. Sie sind liebenswert, haben ein Recht auf ihr – wenn auch kurzes – Menschsein, haben Würde, sind mit Respekt zu behandeln. Und es gibt zahlreiche Familien in aller Welt, die Wege gefunden haben, mit dem Thema umzugehen. Jede auf ihre eigene Weise. „Noch vor 10 Jahren wurde über Anenzephalie nicht groß geredet“, sagt Prof. Harald Goll. „Man sagte, die Kinder hätten kein Bewusstsein, seien nicht empfindungsfähig und überdies eigentlich auch gar keine richtigen Menschen. Froschkopf oder Krötenkopf – so steht es noch heute im Pschyrembel, dem großen klinischen Wörterbuch. Und deshalb rieten Ärzte den betroffenen Frauen in der Regel zur Abtreibung, auch noch in späten Stadien ihrer Schwangerschaft.“ Heute stellt sich die Situation anders dar. Und dazu haben auch die beiden Erfurter Professoren einen großen Beitrag geleistet. Zum Beispiel mit Untersuchungen zum Schmerzempfinden der betroffenen Kinder. „Es hieß immer, diese Kinder könnten nichts wahrnehmen, aber wir haben festgestellt, dass das zu einfach gedacht ist“, erinnert sich Goll. „Eigentlich mussten wir selbst erst einmal eine ganze Menge lernen. Nicht nur von Neuropädiatern, sondern vor allem auch von den betroffenen Familien. Bei unseren Recherchen sind wir auf eine Mutter in der Schweiz gestoßen – Monika Jaquier, die sich für unsere künftige Arbeit als ein Segen herausstellte.“ Die Schweizerin hat aus eigener Not mehr als 300 Kontakte zu Betroffenen in aller Welt geknüpft, eine umfangreiche mehrsprachige Website veröffentlicht und damit den Kindern mit Anenzephalie und ihren Familien ein Gesicht gegeben, ihren Geschichten einen Raum. „Wir hatten damals gehört, dass es vereinzelt Mütter geben soll, die ihre kranken Kinder ausgetragen haben“, erinnert sich Goll. „Durch Monika Jaquier wissen wir, dass es sehr viel mehr sind als wir vermutet hatten. Und das hat uns in unserem Vorhaben unterstützt, betroffenen Eltern Mut zu machen, ihre Kinder trotz der Diagnose auf die Welt zu bringen. Ihnen Mut zu machen, sich ihren Ängsten zu stellen, ihre Kinder anzunehmen und willkommen zu heißen, aber auch, sie wieder gehen zu lassen.“ Gemeinsam mit Monika Jaquier haben Harald Goll und Josef Römelt schließlich ein Buch geschrieben: „Kinder mit Anenzephalie und ihre Familien“ so der Titel. Das Buch bietet Beiträge aus dem Bereich der Medizin, der Sonderpädagogik, der Psychologie aber auch der philosophischen und theologischen Ethik und bemüht sich um die Verknüpfung der wissenschaftlichen Diskussion mit den Erfahrungen von Eltern, die ein Kind mit Anenzephalie geboren haben. Und das ist eigentlich auch der Kern der Forschungskooperation der beiden Erfurter Professoren, aus der inzwischen ein internationales „Netzwerk Anenzephalie“ entstanden ist. „Der kulturwissenschaftliche Zugang, die interdisziplinäre Zusammensetzung und die Einbindung betroffener Eltern als Experten in eigener Sache bilden ein zentrales Charakteristikum unserer Arbeit“, erklärt Prof. Dr. Josef Römelt. Eine bislang weltweit einzigartige Herangehensweise an das Thema. Römelt befasst sich im Rahmen des Netzwerks vor allem mit Fragen später Schwangerschaftsabbrüche nach der pränatalen Diagnostik, aber auch mit Themen wie Taufe, Abschied und Erinnerung. Viele Eltern haben da Fragen, Sorgen beispielsweise, ob Gott ihr Kind auch ungetauft annehmen kann. Römelt: „Wir können zwar medizinisch für die Kinder nichts tun, aber wir können sie auf der Erde willkommen heißen, sie in unseren Kreis aufnehmen. Und wir können ihren Eltern helfen, dafür ihren ganz eigenen Weg zu finden“.
Nähere Informationen / Kontakt:
Prof. Dr. Harald Goll
Tel.: 0 361/737-2271
E-Mail: harald.goll@uni-erfurt.de
www.anencephalie-info.org