"Wenn Hiob Ludolf heute leben würde, wäre er mit Sicherheit Globalhistoriker", sagt Martin Mulsow, Direktor des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt, über den Hofbeamten von Herzog Ernst I. und Begründer der Äthiopistik. "Ich könnte mir gut vorstellen, dass er dann einen Lehrstuhl für eine bestimmte Weltregion in Afrika an der Universität Erfurt innehätte. Er würde in entlegene Winkel der Welt reisen und vor Ort Völker, Sprachen und Länder erkunden, nach dem Unbekannten suchen, um auch dies noch zu erforschen. Und er würde alle möglichen sozialen und medialen Kanäle nutzen, um mit den Menschen, die er trifft, in Kontakt zu bleiben." Was heute so alltäglich klingt, blieb Ludolf im 17. Jahrhunderts in dieser Form natürlich verwehrt. Er musste sich also einen anderen Weg suchen, um seinem unermesslichen Forschungsdrang nachzugehen. Dabei war es ein glücklicher Zufall, dass er in Rom eines Tages den äthiopischen Theologen Abba Gorgoryos traf und dieser auf Einladung des Gothaer Hofes eine beschwerliche Reise zu Fuß über die Alpen bis nach Thüringen auf sich nahm. Viel Hab und Gut konnte er dabei nicht mitbringen, dafür aber einen ganz anderen Schatz, auf den es Herzog Ernst der Fromme und Hiob Ludolf abgesehen hatten: sein ganzes Wissen über das Land Äthiopien, seine Kultur, seine Religion, seine Sprache. Vor allem Ludolfs Leben und Wirken wurde von der Begegnung mit dem Theologen beeinflusst, machte sie ihn doch zu einer "Koryphäe der Äthiopienforschung", wie Martin Mulsow ihn nennt. Ein guter Grund, Ludolf und seinen Schüler Johann Michael Wansleben nun zum Gegenstand der internationalen Tagung Ludolf und Wansleben. Orientalistik, Politik und Geschichte zwischen Gotha und Afrika 1650–1700 zu machen.
"Hiob Ludolf ist der größte Gelehrte, den es in Gotha überhaupt gab", sagt Martin Mulsow begeistert. "Jemand, der fast auf Höhe von Leibniz steht. Er sprach alle europäischen Sprachen und einige antike, insgesamt mehr als 20. Und er war nicht nur Begründer der Äthiopistik und Wegbereiter der modernen Äthiopienforschung, sondern auch damals schon Globalhistoriker." Hiob Ludolf sei deshalb ein Gelehrter internationalen Formats, resümiert Mulsow. Wie es kommt, dass dieser Spross einer Erfurter Ratsfamilie auch heute noch Wissenschaftler aus der ganzen Welt ausgerechnet nach Gotha lockt? Mulsow lehnt sich zurück und beginnt zu erzählen: "Ludolf studierte in Erfurt und gehörte einer Gruppe von Studierenden an, die sich abseits vom Studienstoff sehr für andere Sprachen interessierten." In dieser Zeit sprachen die Gelehrten traditionell Latein, zunehmend auch wieder Griechisch und Hebräisch. Vielen Wissenschaftlern wurde jedoch bewusst, dass weit mehr Sprachen nötig sind, um beispielsweise die Kirche, das Christentum und das Judentum zu verstehen. "Deshalb interessierten sich immer mehr Gelehrte damals für 'exotische' Sprachen wie Syrisch, Chaldäisch oder Koptisch", sagt Mulsow. "Und Hiob Ludolf fand eben vor allem das Äthiopische, das heute ausgestorbene Kirchenäthiopisch, genannt Ge’ez, spannend. So begann er schon in jungen Jahren, sich mit den vorhandenen Schriften Äthiopisch selbst beizubringen." Dass er sich mit den ihm zur Verfügung stehenden, dürftigen Mitteln fernab des Landes und ohne Kontakt zu Landsleuten tatsächlich nur eher provisorische Sprachkenntnisse aneignen konnte, wurde ihm schließlich bewusst, als er auf Studienreisen in Rom endlich richtige Äthiopier kennenlernte, darunter Abba Gorgoryos. Nur mit einem Übersetzer konnte sich der Erfurter mit dem Nordafrikaner zunächst unterhalten. Ludolf witterte trotzdem eine große Chance und als er, zurück in Thüringen, Herzog Ernst I. von dieser Begegnung erzählte, war auch dieser sofort Feuer und Flamme. Die Hintergründe dieser Begeisterung gingen dabei über ein rein sprachwissenschaftliches Interesse weit hinaus und waren auch landeskundlicher, konfessions- und sogar geopolitischer Natur, wie Martin Mulsow weiß: "Ludolf war in erster Linie so angetan, weil er mit Hilfe von Gorgoryos endlich eine richtige Grammatik und ein Wörterbuch für das Äthiopische erstellen könnte. Der Herzog hat aber gleich viel weiter gedacht. Denn das besondere an Äthiopien war, dass es als urchristliches Land seit mehr als 1.000 Jahren vom Islam und vom Heidentum umgeben war, ohne seine christliche Identität zu verlieren. Das machte das Land gerade im 17. Jahrhundert so interessant für Europäer. Es herrschten die Türkenkriege und die Türken zogen in Richtung Wien. Da wollte man wissen, wie sich Äthiopien vor den Moslems und anderen Feinden so lange behaupten konnte. 'Was hat das Land so stabil gemacht? Was können wir von seinem Christentum lernen und ist diese ursprüngliche Form uns Protestanten eventuell näher als den Katholiken? Und: Könnte man die Äthiopier vielleicht als Verbündete gewinnen im Kampf gegen das Osmanische Reich?'" All diese Fragen brachten Herzog Ernst schließlich dazu, Gorgoryos auf seine Kosten nach Gotha einzuladen. Dabei war vor allem der Gedanke verlockend, als Erste, die das Äthiopische wirklich beherrschen, Briefe in das Land schicken zu können, so Bündnispartner zu gewinnen und sich im Deutschen Reich als wichtiger Unterstützer des Kaisers gegen die Türken zu profilieren.
Ganz so groß waren die Auswirkungen von Gorgoryos‘ Besuch auf Schloss Friedenstein dann doch nicht. Aber für Hiob Ludolf hat es sich gelohnt. Monate lang saß er jeden Tag mit Gorgoryos zusammen, einerseits um eine Grammatik zu verfassen und andererseits um alles zu notieren, was der Äthiopier über sein Land wusste. Tiere, Pflanzen, Landschaft, Menschen, Sprache, Sitten und Bräuche – mit den Erzählungen des Afrikaners begab sich Ludolf auf eine Äthiopien-Reise im Geiste. Jahrzehnte später ist aus diesen "Reise-Aufzeichnungen" und aus den äthiopischen Schriften, die Ludolf mit den verbesserten Sprachkenntnissen nun auch leichter lesen konnte, die Historia Aethiopica entstanden – das erste umfassende Buch über Äthiopien. "Ein ungeheuer gelehrtes Werk", betont Martin Mulsow, "das alles beinhaltet, was es damals zu Äthiopien zu sagen gab, das mit vielen Mythen aufräumte und kursierende falsche Behauptungen korrigierte."
An diesem Werk hatte auch Abba Gorgoryos einen großen Anteil. Dieser verließ Gotha im Herbst 1652 wieder, reiste noch einige Jahre durch Europa und hielt in dieser Zeit auch noch den Kontakt zum Gothaer Hof. Auf der Rückreise in seine Heimat kam er bei einem Schiffbruch vor der syrischen Küste ums Leben. Ludolf blieb zurück in Gotha, mit all den Erinnerungen seines Gastes im Notizbuch und längst zu alt, um selbst einmal nach Äthiopien reisen zu können. In Johann Michael Wansleben erkannte er jedoch einen würdigen Schüler, der das ausführen sollte, was Ludolf selbst nur von seinem Schreibtisch aus vorbereiten konnte: eine Expedition nach Nordafrika mit dem Ziel, ein Bündnis gegen das Osmanische Reich zu schmieden. "Nachdem Ludolf und der Herzog Wansleben auf diese Mission hin trainierten, schickte man ihn mit etwas Geld – der Herzog war da eher sparsam – und einem unendlich langen Fragebogen auf die Reise", erzählt Mulsow. "Aber Wansleben kam nur bis Ägypten und konnte wegen der Kriege nicht weiter nilaufwärts reisen. Also blieb er dort und erforschte die Kopten, zog weiter nach Istanbul und auf seiner Heimreise ging ihm in Rom schließlich das Geld aus." Herzog Ernst unterstellte Wansleben, das Geld aus Gotha verschleudert und für Unsittliches ausgegeben zu haben und entschied, ihm kein weiteres zu schicken. Ludolfs Schüler blieb somit nichts anderes übrig, als sich einen neuen Patron zu suchen. Und was liege in Rom näher, als einen katholischen Unterstützer zu finden? Also konvertierte Wansleben kurzum zum Katholizismus, kam dadurch in französische Dienste, reiste für Jean-Baptiste Colbert und sammelte orientalische Schriften, die heute den Grundstock der Orientalia der Bibliothèque Nationale bilden. Politisch gesehen scheiterte auch Wanslebens Mission für die Franzosen am Geld. Aber seine Anstellung hatte sich trotzdem für das Land gelohnt – und Mulsow ist überzeugt: Es hätte sich auch für Gotha ausgezahlt, wenn der Hof ihn weiter unterstützt hätte. "Aber die Knauserigkeit des Herzogs machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er und Ludolf waren äußerst enttäuscht vom Scheitern der Expedition, das kann man heute noch gut aus Korrespondenzen herauslesen. Und dann konvertiert der von 'uns Protestanten so lang und hart aufgebaute Schüler' auch noch zur Konkurrenz, das war für die Gothaer der Super-Gau", sagt Mulsow.
Dennoch ist auch Wansleben ein wichtiger Akteur, wenn es um Orientalistik, Politik und Geschichte zwischen Gotha und Afrika geht. Die Tagung im Forschungszentrum Gotha rückt deshalb Ludolf und seinen Schüler gemeinsam in den Fokus. Referenten aus Deutschland, Europa und Äthiopien kommen dann zusammen, um – basierend auf dem Nachlass der beiden Afrikaforscher, von dem auch viel in der Forschungsbibliothek Gotha bewahrt wird – die komplexen Zusammenhänge der beiden Werdegänge zu analysieren. Martin Mulsow hat sich zu diesem Anlass Hiob Ludolfs Stammbuch genauer angesehen. "Das Stammbuch ist so etwas wie ein Poesiealbum, wie das Facebook der Frühen Neuzeit", sagt der Wissenschaftler. Denn auch ohne moderne Medien fanden die Gelehrten des 17. Jahrhunderts Möglichkeiten, Kontakt zu halten und ein Netzwerk aufzubauen. "In Ludolfs Stammbuch hat sich jeder eingetragen, dem er begegnet ist, vor allem Reisebekanntschaften aus allen möglichen Ländern. Ludolf hat sich ja gleich immer mit allen angefreundet, um mehr über ihr Land und ihre Sprache zu erfahren. Anhand der Einträge kann man viel rekonstruieren – wie bei Facebook ja heute auch." Viel mehr will Mulsow dann aber noch nicht verraten. Die Ergebnisse seiner Stammbuchanalyse bleiben zunächst den Tagungsteilnehmern vorbehalten, werden später aber im Tagungsband nachzulesen sein – es wird der erste Sammelband werden, den es zu Hiob Ludolf gibt.