Die Stille sichtbar machen: 21. Mutismus-Tagung im September in Erfurt

Einblicke
Mädchen allein auf dem Schulhof

Paul spricht im Kindergarten nicht. Dabei kann er sich zu Hause schon ganz verständlich ausdrücken. Klar, er muss sich noch einfinden und ist ein wenig schüchtern, denken seine Eltern zunächst. Aber als sich auch nach mehreren Monaten nichts verändert, werden sie stutzig… So oder so ähnlich beschreiben Eltern und Erzieher*innen das Verhalten von selektiv mutistischen Kindern, also Kindern mit einer speziellen Kommunikationsstörung. Dr. Amelie Abarca Heidemann forscht an der Professur für Inklusive Bildungsprozesse bei Beeinträchtigungen von Sprache und Kommunikation an der Universität Erfurt zu diesem Thema. Sie ist auch mit dabei, wenn im September in Erfurt die 21. Mutismus-Tagung des Mutismus-Selbsthilfe Deutschland e.V. stattfindet. Für unseren Forschungblog „WortMelder“ haben wir mit ihr sowie Manja Mintel von der Selbsthilfe und der Mutismus-Therapeutin Pia Zucht gesprochen…

Mutismus – das Wort kommt ja vom Lateinischen mutitas „Stummheit“, mutus „stumm“, und lässt also vermuten, dass es sich um eine Erkrankung oder Störung handelt, die etwas mit Stummheit zu tun hat. Können Sie uns einmal erklären, was das genau ist?
Dr. Abarca Heidemann: Mutismus ist eine Angst- und Kommunikationsstörung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Kinder in Situationen, in denen Sprechen erwartet wird, nicht sprechen. Also ein dauerhaftes, wiederkehrendes Schweigen in bestimmten Situationen und gegenüber bestimmten Personen, obwohl die Sprechfähigkeit vorhanden ist. Dabei können die Alltagskommunikation und die soziale Partizipation des betroffenen Kindes in vielen Lebensbereichen erschwert sein. Am häufigsten schweigen die Kinder dabei im Umfeld von Kindergarten und Schule. Das Phänomen hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Bei Eltern und Lehrer*innen lösen diese schweigenden Kinder natürlich eine Menge Fragen aus.

Wie viele Menschen sind denn deutschlandweit davon betroffen?
Pia Zucht: Die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik spricht von etwa zwei Prozent, das heißt: Von 1000 klinisch betreuten Kindern haben etwa 1 bis 7 die Diagnose selektiver Mutismus. Bei Sonderschüler*innen ist der Anteil mit drei Prozent sogar noch etwas höher. Wir können aber davon ausgehen, dass die „Dunkelziffer“ noch darüber liegt. Im Kleinkindalter sind insbesondere die Mädchen betroffen, mit zunehmendem Alter steigt jedoch der Anteil der Jungen.

Wie entsteht denn diese Angst- bzw. Kommunikationsstörung überhaupt?
Dr. Abarca Heidemann: Die ist bei selektivem Mutismus sehr unterschiedlich und tritt auch ganz verschiedenen Ausprägung auf. Die Fachliteratur geht davon aus, dass sowohl psychologische als auch biologische Faktoren die Entstehung begünstigen können. Psychologische Faktoren wären beispielsweise Wenn also das Schweigen eine Art Bewältigungsstrategie gegen innere Konflikte, eine Reaktion auf belastende Beziehungserfahrungen oder Sozialphobie ist, würde man das als psychologische Ursache betrachten. Für die Entstehung einer Angststörung konnten in anderen Studien genetische, also biologische Faktoren gefunden werden, wobei weibliche Personen ein doppelt so hohes Risiko haben. Gehemmtheit, Angst oder Depression spielen dabei eine große Rolle. Soziale Hintergründe können dagegen emotionale Belastungen, z.B. durch familiäre Konflikte, wechselnde Bezugspersonen oder wiederholte Umzüge sein. Aber auch ein Migrationshintergrund und frühkindliche Risikofaktoren sind bei den Betroffenen recht häufig. So spielen prämorbide Sprach- und Sprechstörungen bei einem Drittel dieser Personen eine Rolle, und drei Viertel der Kinder mit selektivem Mutismus waren bereits als Kleinkind verhaltensauffällig.

Das Schweigen tritt meist im Vorschulalter, in der Regel mit drei Jahren erstmals auf. Das betroffene Kind steigt sprachlich, häufig aber auch kommunikativ, aus sozialen Situationen aus. Hier entsteht dann schnell ein Teufelskreis aus Vermeidung sprachlicher Kommunikation und Verpassen sprachlichen und sozial-emotionalen Lernens. Vielfach tritt die Störung beim Übergang des Kindes in den Kindergarten auf, der als erste (bedeutsame) familienfremde Lebenswelt als bedrohlich und fremd erlebt wird. Das Risiko des späteren Auftretens der Störung ist da weitaus geringer. Trotzdem vergehen oft Jahre, bis Eltern hier fachkundige Hilfe suchen. Die Kinder sprechen ja zu Hause, und das Phänomen ist leider in vielen Professionen und Bereichen in Deutschland wenig bekannt bzw. wird nicht ausreichend ernst genommen.

Wie leben Betroffene damit?
Pia Zucht: Es gibt da sehr unterschiedliche Erfahrungen und Lebensgeschichten, das zeigen die Gespräche mit betroffenen Familien im Rahmen der Anamneseerhebung. Klar ist, dass ein unbehandelter selektiver Mutismus häufig zu schwerwiegenden Problemen in der sozialen, emotionalen und akademischen Entwicklung führen kann. 

Und wie kann Betroffenen geholfen werden?
Dr. Abarca Heidemann: Wir wissen, dass jede schweigende Person grundsätzlich sprechen und mit anderen erfolgreich kommunizieren möchte. Die Grundidee der therapeutischen und/oder beratenden Arbeit ist es deshalb, das Kind und sein Umfeld so zu befähigen, dass es sein Schweigen nicht mehr braucht. Da aber der selektive Mutismus ein komplexes Phänomen ist, das in verschiedensten Erscheinungsformen auftritt, erfordert das ein disziplinenübergreifendes therapeutisches Vorgehen verschiedener Fachrichtungen wie Psychologie, Psychiatrie und Sprachtherapie/ Logopädie sowie eine vernetzende und intensive Zusammenarbeit mit Familien, Kindergärten, Schulen. Deshalb ist neben der therapeutischen auch die pädagogische Perspektive relevant, um die Teilhabe der Betroffenen an Bildungsprozessen zu gewährleisten. Die Intervention ist in der Regel ein längerer Prozess unter Einbindung des ganzen Umfeldes bzw. „Systems“ der Betroffenen. Dafür müssen die Fachleute ein hohes Maß an Wertschätzung, Sensibilität, Geduld und Zuversicht mitbringen und natürlich auch ein umfassendes Wissen. Klar ist: Je früher die Intervention stattfindet, desto größer ist die Chance auf eine Rückbildung der pathologischen Strukturen.

Wie können Sie denn mit Ihrer Forschung dazu beitragen, Frau Dr. Abarca Heidemann? Mit welchen konkreten Fragen beschäftigen Sie sich?
Dr. Abarca Heidemann: Wir blicken aus pädagogischer Perspektive auf das Thema und fragen zum Beispiel: Wie ist das Verständnis von selektivem Mutismus in der Schule? Wie kann die pädagogische und therapeutische Praxis (Sprachtherapie/Logopädie) so gestaltet werden, dass selektiver Mutismus bei (Schul-)Kindern rechtzeitig erkannt wird?  Und welche Familienmerkmale begünstigen seine Entstehung? Vor allem geht es uns dabei darum, die Teilhabe von Betroffenen an Bildungsprozessen und in allen Lebensbereichen zu gewährleisten. Wie das gelingen kann, dazu forschen wir an der Universität.

Nun findet am 27. September in Erfurt die 21. Mutismus-Tagung statt, die die Mutismus-Selbsthilfe Deutschland in Kooperation mit der Professur für Inklusive Bildungsprozesse bei Beeinträchtigungen von Sprache und Kommunikation der Universität Erfurt organisiert. Was genau ist das Ziel dieser Veranstaltung?
Manja Mintel: Unter dem Leitmotiv „Stille sichtbar machen“ wollen wir vor allem in einen interdisziplinären Austausch treten und neue Perspektiven auf die Kommunikationsstörung Mutismus eröffnen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Förderung des gegenseitigen Verständnisses zwischen Betroffenen, Angehörigen, Therapeuten*innen, Pädagogen*innen, Ärzt*innen und anderen Fachkräften. Die Tagung soll deshalb nicht nur aktuelles Wissen vermitteln, sondern auch praxisnahe Lösungen für den Alltag und die Therapie bieten. Durch Fachvorträge, interaktive Workshops und offene Diskussionsrunden möchten wir Mutismus als ernstzunehmende Kommunikationsstörung weiter ins Bewusstsein rücken und gemeinsam Strategien entwickeln, die den betroffenen Menschen eine bessere Teilhabe ermöglichen. Die Tagung bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben und sich mit führenden Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen zu vernetzen. Deshalb sind auch nicht nur Psycholog*innen, Pädagog*innen und Ärzt*innen angesprochen, sondern auch Studierende, Betroffene und Angehörige, und all diejenigen, die sich sonst noch für das Thema interessieren. 

Pia Zucht: Ein Highlight, auf das wir uns besonders freuen, ist der „Raum der Stille“ – eine Ausstellung, die kreative Werke von Betroffenen präsentiert und so auf eindrucksvolle Weise ihre Erfahrungen und Emotionen sichtbar macht. Gerade an der Universität, einem Bildungsort, an dem verbaler Ausdruck und Schriftsprache überwiegen, sollten wir uns für andere Kommunikationsformen öffnen. Deshalb freuen wir uns auf diesen Raum, der die Gelegenheit bietet, Emotionen und Erfahrungen, die oft ungehört bleiben, zu sehen und zu spüren, ein Raum, in dem die Stimme auch leise oder im Schweigen gehört werden und eine bleibende Wirkung erzielen kann.

Ansprechpartnerin an der Universität Erfurt:

Amelie Abarca Heidemann
Dr. Amelie Abarca Heidemann
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Inklusive Bildungsprozesse bei Beeinträchtigungen in Sprache und Kommunikation
(Erziehungswissenschaftliche Fakultät)
C03 – Lehrgebäude 1 / Raum 146
Sprechzeiten
Mi 09-10 Uhr
nach Online-Terminbuchung