„Die menschliche Verwundbarkeit übt eine unerhörte Macht aus!“

Einblicke , Vorgestellt
Featurebild Hildegund Keul

Die Theologin Prof. Dr. Hildegund Keul ist im April als Fellow zu Gast am Theologische Forschungskolleg der Universität Erfurt. Sie ist außerplanmäßige Professorin für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und forscht aktuell im Rahmen des DFG-Projekts „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitäsdiskurs“ zu menschlicher Verwundbarkeit. Damit bringt sie eine spannende Perspektive nach Erfurt.

„Die menschliche Verwundbarkeit übt im persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen, und nicht zuletzt im religiösen Leben eine unerhörte Macht aus“, sagt die Theologin. Denn häufig sichere man sich selbst gegen Verwundungen ab, indem man andere der Verwundung aussetze. Das Spannungsfeld von Vulnerabilität und Sicherheit erzeuge vielerorts ein Gewaltpotenzial – nicht zuletzt an den Grenzen Europas. 

Verwundungen, Gewalt und Leid gehören zugleich zu den Kernthemen christlicher Theologie. Und so versucht Hildegard Keul seit 2010 mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit, den Vulnerabilitätsdiskurs und die Theologie miteinander zu verbinden. Als Theologin und Religionswissenschaftlerin interessiert sie dabei besonders die Macht der Verwundbarkeit in Migrationsdebatten, religionspolitischer Gewalt und der Bekämpfung von Armut. Sie fragt: Wo ist es notwendig, sich selbst vor Verwundung zu schützen? Eine Frage, die auch politische Parteien stellen, ebenso wie Versicherungen oder lautstarke Demonstrationen. Wo aber ist es um der Humanität willen notwendig, die eigene Verwundbarkeit zu riskieren, um gefährdetes Leben zu schützen? 

Aufgrund seiner gesellschaftlichen Relevanz entwickelt sich „Vulnerabilität“ seit etwa 40 Jahren zu einem Schlüsselbegriff wissenschaftlicher Forschung: In den 80er-Jahren begann der Diskurs in der Armutsforschung und Entwicklungspolitik. Medizinische Fächer konnten den Begriff aufgrund ihrer Verbindung zu Wunden und deren Heilung aufgreifen und etablierten das Begriffspaar „Vulnerabilität und Resilienz“. Die Naturwissenschaften machten mit der Entwicklung konkreter Kriterien die Vulnerabilität messbar und fokussierten dies in Klimafolgenforschung, Humangeografie und Biodiversität.

„Dabei agieren die Wissenschaften keineswegs getrennt voneinander“, sagt Prof. Hildegund Keul. „Vielmehr arbeiten Forschungsprojekte zur Vulnerabilität häufig interdisziplinär. Wer die Verwundbarkeit einer Bevölkerungsgruppe im Blick auf Armut oder die Verwundbarkeit einer Landschaft gegenüber Klimaveränderungen erforschen will, braucht Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaften. So ist in den vergangenen Jahren das entstanden, was ich den ‚interdisziplinären Vulnerabilitätsdiskurs‘ nenne.“

Die Anzahl der von der Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projekte zum Thema Verwundbarkeit ist kontinuierlich gestiegen. Und auch der Begriff der „Vulnerabilität“ etabliert sich im deutschsprachigen Raum als neuer Schlüsselbegriff interdisziplinärer Forschung. „Allerdings war die Theologie lange an keinem dieser Projekte beteiligt“, bedauert Keul. Ihre Verortung in den neuen, fächerüberschreitenden Debatten stecke noch in den Kinderschuhen, auch wenn es erste Ansätze gebe. „Dieses Fehlen ist erstaunlich, denn Verwundung und Opfer, Leid und Hingabe gehören zu den Kernthemen christlicher Theologie.“ Zudem verstärkten aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen wie Migration und Flucht, Armut und Krieg, Religionskonflikt und Terror die Notwendigkeit, sich theologisch mit Vulnerabilität auseinanderzusetzen. Welchen Erkenntnisgewinn bietet also die Theologie – sowohl in religionspolitisch bestimmten als auch in säkularen Problemlagen der Vulnerabilität?

„In der christlichen Theologie liegt der Ansatzpunkt in der ‚Inkarnation‘, der Lehre von der Menschwerdung Gottes, die ein Zeichen der Humanität setzt“, erklärt die Theologin. „Nach christlicher Überzeugung macht sich Gott aus freien Stücken verwundbar, als er in Jesus Christus Mensch wird. Gott kommt in die Welt ohne Rüstung und ohne Waffen. Er wird geboren als verletzliches Kind. Im Blick auf den heutigen Vulnerabilitätsdiskurs ist diese Position erstaunlich. Denn dort ist Verwundbarkeit etwas, das es zu vermeiden gilt. Gott aber geht das Wagnis der Verwundbarkeit ein – und mit ihm alle Menschen wie Maria und Josef, Paulus und Maria Magdalena, die zur Gründungsgeschichte des Christentums gehören. Die Inkarnation weist damit auf einen Punkt hin, der im Vulnerabilitätsdiskurs bisher verdeckt ist: Die eigene Verwundbarkeit zu riskieren, ist für ein humanes Zusammenleben notwendig. Die Zerbrechlichkeit des Lebens erfordert Menschen, die sich in Liebe, Zuneigung und Solidarität verletzlich machen. Daher steht das menschliche Handeln vor einer Doppelfrage: Wo ist es notwendig, sich selbst und die eigene Gemeinschaft (Familie, Religion, Staat) vor Verwundungen zu schützen? Und wo ist es notwendig, um der Humanität willen die eigene Verletzlichkeit zu riskieren?“

Die Theologin weiß: „Um ein humanes Leben zu führen, genügt Selbstschutz allein nicht, der mit der Macht von Grenzen und Waffen agiert. Wer allein auf Selbstschutz setzt, braucht immer höhere Mauern, mächtigere Grenzanlagen und schärfere Waffen. Oft sind es gerade die Sicherungssysteme, die neue Gewalt hervorrufen und damit die Verwundbarkeit erhöhen. Das Verhältnis von Vulnerabilität und Sicherheit ist kein Nullsummenspiel. Vielmehr bringt das Christentum ein Drittes ins Spiel: die ‚Andersmacht‘, die dort entsteht, wo Menschen ihre eigene Verwundbarkeit riskieren, um das Leben Anderer zu schützen und zu fördern.“ Diese Andersmacht sei nicht exklusiv in der Kirche am Werk, sondern im Leben aller, die den Gewaltspiralen der Verwundbarkeit widerstehen und Hingabe wagten. Und so sei es im Spannungsfeld von Verwundbarkeit und Sicherheit auch für eine Gesellschaft entscheidend, ob sie darauf setzt, dass das Wagnis eigener Verwundbarkeit zur Sicherung des Lebens beitragen kann. „Dann gehen Menschen und Gemeinschaften gestärkt aus diesem Wagnis hervor: Aus Vulnerabilität wächst Kreativität und Stärke.“

Weiterführende Links:

News zum Forschungsaufenthalt von Prof. Dr. Hildegund Keul an der Universität Erfurt

Theologisches Forschungskolleg an der Universität Erfurt

Website von Prof. Dr. Hildegund Keul zum Vulnerabilitätsdiskurs

DFG-Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“ von Prof. Dr. Hildegund Keul (2018–2025)

Publikationen

  • Verwundbar sein. Vulnerabilität und die Kostbarkeit des Lebens. Ostfildern: Grünewald 2021
  • Weihnachten – das Wagnis der Verwundbarkeit. Ostfildern: Patmos 2017

Seit Juli 2019 schreibt Hildegund Keul monatlich eine theologische Kolumne zur Vulnerabilität in der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“.