In seiner Heimat – der Region Tigray in Äthiopien herrscht Bürgerkrieg. Die dortige Universität Mekelle, an der er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und kulturelles Erbe gearbeitet hat, musste geschlossen werden. Für Forscher wie Fesseha Berhe Gebregergis eine schwierige Situation – privat wie beruflich. Aber er hatte Glück im Unglück: Seit September 2022 ist er als Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung in Gotha und arbeitet dort am Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes der Universität Erfurt an seiner Promotion. Darin beschäftigt sich Fesseha Berhe Gebregergis mit der Geschichte der Dobᶜa, einer fast vergessenen Gesellschaft in Nordäthiopien. Für unseren Forschungsblog „WortMelder“ haben wir mit ihm über seine Forschung und seine Zeit in Gotha gesprochen…
„Die Provinz Tigray im Norden Äthiopiens ist besonders schwer vom Bürgerkrieg betroffen“, erzählt der 43-Jährige, der seine Doktorarbeit an der Universität Mekelle zunächst unterbrechen musste. „Das Stipendium der Gerda Henkel Stiftung, das ich dank einer Empfehlung von Prof. Wolbert Smidt, dem Betreuer meiner Arbeit, bekommen habe, gibt mir nun die Möglichkeit, weiterzumachen. „Ich entschied mich für das Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes der Universität Erfurt als Gastinstitution, weil ich den Forschungscampus Gotha bereits aus meiner Zeit als Herzog-Ernst-Stipendiat im Jahr 2016 kannte. Außerdem war ich 2018 am ETHIOMAP-Projekt beteiligt, bei dem das Forschungskolleg einer der Partner war“, berichtet der Wissenschaftler weiter.
Im Rahmen seiner Promotion befasst sich Fesseha Berhe Gebregergis nun mit der Geschichte und Identität der Dobᶜa [gesprochen: Do·ba]. Diese Gesellschaft aus Nordäthiopien ist heute nur noch wenigen bekannt. Jedoch existieren noch einige ihrer Nachfahren in Rayya im südlichen Tigray und in Teilen von Nord-Wollo, die die Geschichten und historischen Erinnerungen bewahren. „Die Dobᶜa gehören zu einer Reihe von zweifellos alten Gesellschaften Äthiopiens, doch ihre Geschichte bleibt weitestgehend im Dunkeln. Mit meiner Dissertation möchte ich die mündlichen Überlieferungen und Quellen dokumentieren und bewahren“, beschreibt Fesseha sein Forschungsprojekt. Dabei verfolgt er zwei Hauptansätze: Zum einen versucht er, die Geschichte der Dobᶜa auf der Grundlage ethnohistorischer Methoden zu rekonstruieren, wobei er sowohl auf Hagiographien, königliche Chroniken und Ajami-Manuskripte als auch Reiseberichte und Karten zurückgreift. Zum anderen analysiert er die mündlichen Überlieferungen in einem gesellschaftlich-kulturellen Kontext.
So soll die Forschungsarbeit zu einer besseren Dokumentation und einem besseren Verständnis der Geschichte und Kultur der Dobᶜa beitragen. „Ich versuche dabei, die sozio-politische und kulturelle Geschichte dieser Menschen besser zu verstehen und die mündlichen Überlieferungen mit wissenschaftlich belegbaren Fakten abzugleichen“, erklärt Fesseha Berhe Gebregergis. Seine Forschung wird, da ist er sich sicher, einen neuen Blick auf die äthiopische Geschichte werfen, die bislang eher aus der Perspektive der Machthaber in der Region erzählt wurde. „Meine Forschung ist in gewisser Weise eine Gegengeschichte zur zentralistischen äthiopischen Geschichtsschreibung und zeigt die kulturelle Vielfalt und die Vielschichtigkeit der äthiopischen Geschichte.“
Die Fülle an Karten von Äthiopien und dem Horn von Afrika, insbesondere aus dem 18. und 19. Jahrhundert, aber auch hunderte von Veröffentlichungen, vor allem Reiseberichte und wissenschaftliche Texte über diese Regionen, die in verschiedenen Sprachen in der Sammlung Perthes und in der Forschungsbibliothek Gotha bewahrt werden, eröffnen dem Stipendiaten dafür vielfältige neue Möglichkeiten. „All diese Quellen, insbesondere die Karten, bei denen es sich teilweise um Unikate und damit besondere Schätze handelt, enthalten so viele Informationen, die für die Erforschung der Geschichte der Region im Allgemeinen und damit auch für mein Promotionsprojekt im Speziellen von sehr großer Bedeutung sind. Ich habe mit den Karten eine für mich ganz neue Art von Quellen entdeckt. Dadurch hat sich meine Perspektive auf die von mir untersuchte Region verändert. Ich weiß nun, dass Karten nicht nur historische Konstruktionen eines Raumes zeigen, sondern auch ein Werkzeug der Wissensvermittlung sind. Das ist für mich eine neue Erfahrung, davon profitiere ich immens“, sagt der äthiopische Wissenschaftler, dem man die Begeisterung für seine gegenwärtige Forschungsstätte sofort anmerkt.
Das Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes der Universität Erfurt biete ihm ein außergewöhnliches Arbeitsumfeld – nicht zuletzt, weil er hier auf Wissenschaftler*innen und Studierende mit ganz unterschiedlichen kulturellen und wissenschaftlichen Hintergründen treffe, sagt Fesseha Berhe Gebregergis. „Ich arbeite zwar auch viel allein, aber der kritische Austausch, die Gespräche in Kolloquien oder einfach beim Tee, bringen mich immer voran.“ Auf die Frage, was abseits der Arbeit für ihn das Besondere an Gotha ist, muss er nicht lang überlegen: „Der Schnee im Winter ist fantastisch - vor allem für diejenigen, die ihn das erste Mal erleben. Zugleich ist die Winterkälte für mich, der ich in Äthiopien ganz andere Temperaturen gewöhnt bin, auch eine ziemliche Herausforderung. Ich brauchte etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen.“
Wie es nach seinem Stipendienaufenthalt in Gotha weitergeht? „Ich möchte meine fertige Dissertation an der Universität Mekelle und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris einreichen. Außerdem möchte ich meine Forschungsergebnisse in einer Reihe von Artikeln und in einem Buch veröffentlichen.“ Die neuen Fähigkeiten und Kenntnisse, die er in Gotha erworben hat, aber auch die Eindrücke von Vielfalt, Teamarbeit, interdisziplinärer Forschung, der nationalen und internationalen Zusammenarbeit nimmt der 43-jährige Wissenschaftler natürlich in seine Heimat Äthiopien mit, um sie später an seine Studierenden aber auch die Kolleg*innen weiterzugeben. Doch noch herrscht Krieg in Tigray. Wann Fesseha Berhe Gebregergis seine Lehr- und Forschungstätigkeit an seiner Heimatuniversität wiederaufnehmen kann, ist ungewiss. „Ich hoffe inständig auf ein Friedensabkommen. Bis dahin bin ich froh, dass meine Familie und ich in Sicherheit sind. Das Stipendium hat unser Leben verändert. Dafür sind wir unglaublich dankbar.“
Abbildung oben: August Petermann, Gerhard Rohlfs' Reise von Magdala nach Antalo April-Mai 1868, Gotha 1868, 19 × 24 cm, Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha, SPA 4° 00100 (014)
Das Forschungskolleg Transkulturelle Studien/Sammlung Perthes partizipiert an der von der Gerda Henkel Stiftung im Herbst 2021 bewilligten Förderung für Nachwuchswissenschaftler*innen der Universität Mekelle in Nordäthiopien (ResScholarGE). In Anbetracht der dortigen andauernd schwierigen Lage können auf diese Weise sowohl die langjährige Zusammenarbeit als auch die gemeinsamen Forschungsaktivitäten und zwar insbesondere zu den Beständen der Sammlung Perthes weiter fortgesetzt werden.
Dank der Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung arbeiten derzeit vier äthiopische Promovierende am Forschungskolleg Transkulturelle Studien. Das Stipendienprogramm geht auf die Initiative des ehemaligen Herzog-Ernst-Stipendiaten Wolbert Smidt (Friedrich-Schiller-Universität Jena/Mekelle University) zurück und zielt auf die Förderung von Nachwuchswissenschaftler*innen und Forschungsassistent*innen, die sich mit ihren Arbeiten in bereits bestehende deutsch-äthiopische Kooperationsvorhaben eingeschrieben haben. Das Programm wirkt jedoch zugleich auf Forschung und Lehre an der Universität Erfurt, da es sich in unmittelbar laufende Kooperationsvorhaben einschreibt, die 2014 mit einem ersten Memorandum of Understanding ihren Anfang genommen hatten. Entsprechend beteiligen sich die Stipendiaten aktiv an gemeinsamen Forschungsaktivitäten und Arbeitsgruppen, wie beispielsweise dem Nachwuchsnetzwerk Historische Afrikaforschung und der Arbeitsgruppe „Territoriality and Cartographic Knowledge“, die sich eng mit dem „Forschungs- und Digitalisierungsprojekt Kartografien Afrikas und Asiens (KarAfAs)“ verbinden.