Ende Juni 1945: Schwer beladene LKW rollen vom Schlosshof in Gotha Richtung Coburg – an Bord unzählige Schätze aus den Gothaer Sammlungen. Auftraggeberin dieses Konvois ist Herzogin Viktoria Adelheid von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg (1885–1970), die letzte Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha. Um Sammlungsstücke vor der anrückenden Roten Armee „in Sicherheit zu bringen“, gewähren ihr die temporären amerikanischen Besatzer einen Abtransport, der bis heute juristisch umstritten ist. Denn das Herzoghaus ist längst nicht mehr Eigentümer der Artefakte auf Schloss Friedenstein, zudem ist seit 1824 testamentarisch festgelegt, dass die Sammlung geschlossen in Gotha bewahrt werden muss. Es ist nicht das einzige Ereignis in der Geschichte Gothas, das eine tiefe Schneise in die Sammlungen der Residenzstadt geschlagen hat. Und so fehlen allein der Forschungsbibliothek Gotha (FBG) der Universität Erfurt bis heute mehr als 25.000 Bände. Diese aufzuspüren ist eine – aber längst nicht die einzige – Aufgabe der Provenienzforschung, also der Herkunftsforschung, die zum bibliothekarischen Alltag gehört und die, je nach Werk, auch schon einmal richtige Detektivarbeit sein kann. Das 375-jährige Bestehen der Forschungsbibliothek ist nun ein guter Anlass, mit Blick auf den Leitgedanken des Jubiläumsjahres – „Bücher bewegen“ – auch die Lücken in der heutigen Sammlung deutlich zu machen und zugleich die Herkunft der Bücher, die im Laufe der Jahrhunderte in die Bibliothek gelangt sind, zu ermitteln. Denn Provenienzforschung, so Bibliotheksleiterin Dr. Kathrin Paasch, sei mehr denn je nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Aufgabe.
„Die Forschungsbibliothek Gotha ist eine historisch gewachsene Bibliothek und als solche ist die Herkunft unserer Bücher natürlich immens wichtig“, betont Kathrin Paasch. „Es ist unser Selbstverständnis, sie in einen Kontext zu stellen und zu erforschen, warum unsere Bibliothek so ist, wie sie ist, und wie sie sich dahin entwickelt hat.“ Im Mittelpunkt der Provenienzforschung stehen dabei zwei Fragenkomplexe: Welchen Werdegang haben Bücher, bevor sie in eine öffentliche Sammlung kommen, und hinterlassen sie eine möglicherweise unrechtmäßige Lücke? Und: Gibt es Verluste in der eigenen Sammlung und wo sind die Bücher heute? Auch bei den Sammlungen der FBG gilt es, diese Fragestellungen vor allem im Hinblick auf drei Dimensionen zu untersuchen: in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus‘, auf die DDR-Zeit und bezüglich ihrer außereuropäischen Sammlungen. Die Aufarbeitung des kolonialen deutschen Erbes ist dabei die aktuellste Aufgabe von bestandshaltenden Institutionen. Die Forschungsbibliothek Gotha selbst bewahrt eine große orientalische Handschriftensammlung, die nach 1800 stark angewachsen ist, als die Herzöge Ernst II. (1745–1804) und August von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772–1822) die Orientreisen von Ulrich Jasper Seetzen (1767–1811) großzügig unterstützten. Im Auftrag der Herzöge gelang es Seetzen, insgesamt etwa 2.700 persische, türkische und arabische Handschriften zu erwerben und aus dem Nahen Osten nach Gotha zu senden. Woher kamen diese Bücher, die die herzogliche Sammlung zu einer der wichtigsten ihrer Art im deutschsprachigen Raum machten? Wie sah das Käufer-Netzwerk damals, als der Vordere Orient nach den Napoleonischen Streifzügen zu einem beliebten Markt für Exotica wurde, eigentlich aus? Welche Rolle spielte Seetzen in diesem Netzwerk und hat er sich – wissend oder unwissend – im Namen des Herzogtums vielleicht auch unrechtmäßig bereichert? „Seetzen hat in den Büchern selbst gut dokumentiert, wann und wo er sie für wie viel Geld gekauft hat“, weiß Kathrin Paasch. „Trotzdem liegt hier noch eine Kärrnerarbeit vor uns. Um die Spuren unserer orientalischen Handschriftensammlung genauer zurückzuverfolgen, wollen wir weitere Projekte initiieren. Wir stehen beispielsweise schon jetzt in engem Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen in Ägypten, wo Seetzen in Kairo zahlreiche Originale erwarb.“
Dialoge sind sozusagen die Verbindung zur Bestandslücke.
Während sich die Wissenschaftler*innen hier also mit der Herkunft vorhandener Sammlungsstücke beschäftigen, untersuchen sie an anderer Stelle die Lücken der Bestände. Die mit Verlusten einhergehenden großen Brüche ihrer Geschichte erlebte die Forschungsbibliothek im 20. Jahrhundert. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Herzogliche Bibliothek Gotha relativ kontinuierlich. 1918 folgte jedoch der erste große Bruch: Das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha wird enteignet. 1925 konnte sich Herzog Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha (1884–1954) wieder einklagen und die Sammlungen zurückerhalten, diese wurden zwischen 1928 und 1934 vollständig in die neu gegründete „Sachsen-Coburg und Gothaische Stiftung für Kunst und Wissenschaft“ überführt. Ab 1930 wurden erste Spitzenstücke veräußert – darunter zahlreiche frühe Drucke, großformatige Karten aus dem 17. Jahrhundert und wertvolle Globen – und so wurde auch mit bereits erwähntem Testament Herzog Friedrichs IV. (1774–1825) gebrochen, mit dem dieser 1824 die Unverkäuflichkeit der Sammlungen und ihren geschlossenen Verbleib in Gotha juristisch festlegte. 1945 – der Herzog als Verehrer Hitlers im Gefängnis und die herzogliche Familie erneut enteignet – nutzte Herzogin Viktoria dann das Nachkriegschaos zwischen zwei Besatzern, um weitere wertvolle Bestände aus den Gothaer Sammlungen zu entnehmen und nach Coburg auf den Stammsitz der Familie zu bringen. Vielleicht hat sie mit dieser Aktion ja wirklich das eine oder andere Stück davor bewahrt, Raubgut zu werden. Denn mit dem Einzug der Roten Armee in Gotha und dem Übergang der Stadt in die sowjetische Besatzungszone folgte der zweite große Riss durch die Büchersammlung Schloss Friedensteins: Nahezu die gesamte Bibliothek wird im Frühjahr 1946 als Kriegsbeute in die Sowjetunion abtransportiert. Als großer Akt der Völkerverständigung gefeiert, kommt die Sammlung 1956 zwar wieder zurück nach Gotha. Vollständig ist sie da aber nicht. Besagte 25.000 Bände sind nach wie vor auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verteilt. Wo, das erforschen die Mitarbeiter*innen der FBG kontinuierlich. „Uns war deshalb der Deutsch-Russische Bibliotheksdialog immer wichtig“, betont Paasch. „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diesen aber auch für die Forschungsbibliothek unterbrochen. Wir hoffen, das Gespräch sobald wie möglich wieder aufnehmen zu können.“ Denn diese Dialoge sind sozusagen die Verbindung zur Bestandslücke, die für die Forschungsbibliothek genauso zur Sammlung gehört wie die vorhandenen Bücher. Im Bibliothekskatalog sind die fehlenden Werke deshalb auch recherchierbar.
Einige Lücken, die das 20. Jahrhundert in die Gothaer Bibliothek geschlagen hat, konnten bislang durch den Rückerwerb nach und nach wieder geschlossen werden. So gelangten unter anderem das mittelalterliche Gothaer Stundenbuch (Abbildung oben) und eine Zeichnung von Georg Forster (1754–1794) wieder nach Gotha. „Andere, zum Teil schmerzhaft vermisste Bände wiederum wissen wir aber auch außerhalb unseres Bestandes in guten Händen – selbst, wenn wir als historische und wissenschaftliche Bibliothek uns nun nicht mehr an diesen Spitzenstücken messen lassen können“, erklärt die Bibliotheksdirektorin und hat da ganz bestimmte Objekte im Kopf. Die sogenannte Ottheinrich-Bibel beispielsweise, deren acht Teile heute wieder zusammen in der Bayerischen Staatsbibliothek München liegen. Einzig der Bucheinband der Bibel gehört noch zur Gothaer Sammlung. Dieser ist seit 2007 als Dauerleihgabe in München, für das Jubiläum der FBG ist er nun zeitweise zurück auf Schloss Friedenstein und wird dort im Rahmen der Ausstellung „Bücher bewegen“ gezeigt. Oder auch das Echternacher Evangeliar, ein prachtvolles Werk, das eine etwas turbulente Geschichte hat. Denn bereits vor der LKW-Rettungsaktion von Herzogin Viktoria, im März 1945, wurden bereits einzelne wertvolle Stücke unter ungeklärten Umständen nach Coburg gebracht. Darunter war eben auch jene frühmittelalterliche Handschrift der Benediktinerabtei Echternach, deren mit Edelsteinen, Elfenbein und Gold verzierter Einband allein schon von Wert zeugt. Sie erzählt die vier Evangelien, mit Goldtinte geschrieben und aufwendiger Buchmalerei illustriert. Was als „zeitweilige Schutzmaßnahme“ deklariert wurde, ließ – wie später auch bei den offiziell abtransportierten Objekten – die Besitzverhältnisse verschwimmen und ermöglichte der herzoglichen Familie, Stücke aus der einstigen Gothaer Sammlung zu veräußern. Als in den 1950er-Jahren bekannt wird, dass die Herzogin das Echternacher Evangeliar scheinbar in die USA verkaufen wolle, war sich die Fachwelt im geteilten Deutschland einig: Das muss verhindert werden. Besonders das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg setzte einiges daran, die Handschrift zu erwerben. Es folgten Verhandlungen mit der herzoglichen Familie und der Verkauf eines eigenen Spitzenstückes, bis das Echternacher Evangeliar 1955 schließlich für 1,1 Mio. D-Mark nach Nürnberg geholt werden konnte.
Ob die herzogliche Familie die rechtmäßige Besitzerin der Schrift war oder nicht und sie tatsächlich verkaufen durfte, war zum damaligen Zeitpunkt unerheblich. Mit Blick auf die heutige Provenienzforschung rücken solche Buch-Biografien aber wieder in den Fokus. Diese nahm in Bibliotheken vor allem in den 2000er-Jahren Fahrt auf, nachdem 1998 in den sogenannten „Washington Principles“ zunächst Grundsätze zum Umgang mit beschlagnahmten Vermögenswerten während der NS-Zeit festgelegt worden waren und sich auch die Bundesrepublik, die deutschen Länder und Kommunen die Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes zur Aufgabe machten. „Bei der Umsetzung dieser Prinzipien durch die Bibliotheken waren wir in Gotha von Anfang an dabei“, erzählt Kathrin Paasch. „Insbesondere die benachbarte Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar nahm hier sehr früh eine Vorreiterrolle ein. Im Gemeinsamen Bibliotheksverbund (GBV) haben wir Standards für die Erfassung von Provenienzen ausgearbeitet und auch von Beginn an nach ihnen gearbeitet, um die Informationen zur Herkunft von Büchern verbundübergreifend online recherchierbar und nachnutzbar zu machen.“ In den Erwerbungsjournalen der herzoglichen Stiftung, der die Gothaer Sammlungen zwischen 1938 und 1945 gehörten, hat die Forschungsbibliothek bislang kein NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut gefunden. „Wir sind uns unserer moralischen Verpflichtung dennoch bewusst und bleiben auch da am Ball.“
Einige hundert Bücher konnten wir so schon an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben.
Einen weitaus größeren Forschungsbereich bildet für die FBG deshalb der Werdegang von – wie das „Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste“ es bezeichnet – kriegsbedingt verlagertem Kulturgut, in dem Fall also von Beutegut der Sowjets. Damit im Zusammenhang steht auch die Recherche nach den Büchern, die zu DDR-Zeiten durch die Bibliotheksräume geleitet wurden. Denn in die von den sowjetischen Besatzern geleerten Räumlichkeiten auf Schloss Friedenstein zog von 1953 bis zur Rückkehr der Gothaer Bücher aus der Sowjetunion 1956 die „Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände“ der DDR ein. Hier wurden nach dem Verständnis der DDR „herrenlos“ gewordene Bücher bearbeitet, deren Besitzer im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone enteignet worden waren. Die Zentralstelle organisierte die Weitergabe dieser Bücher an andere DDR-Bibliotheken, bot sie dem Leipziger Zentralantiquariat zum Verkauf oder dem Altstoffhandel an. „Wir finden immer wieder Bücher, die bei diesen Aktivitäten in Gotha verblieben sind. Da forschen wir natürlich nach, ob die Besitzer noch auffindbar sind. Einige hundert Bücher konnten wir so schon an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben“, freut sich Kathrin Paasch.
So komplex die Herkunftsforschung für die Mitarbeiter*innen der Forschungsbibliothek Gotha auch ist und so sehr sie immer wieder die Lücken in der Gothaer Sammlung vor Augen führt – es ist eine dankbare Aufgabe, versichert die Bibliotheksdirektorin. „Es ist immer wieder spannend, in die Geschichte eines Buches einzutauchen und ihm so auch ein ‚Leben‘ zu geben. Letztlich lernen wir unsere Sammlung dadurch immer besser kennen – und können sie auch virtuell rekonstruieren.“ Und Lücke hin oder her: Entnahmen und Hinzufügungen, auf welchem Weg auch immer, gehören zu den historischen Prozessen von Sammlungen. Schließlich profitierte auch die Gothaer Bibliothek selbst einmal von kriegsbedingten Zuwächsen. Als die Sachsen-Weimarer Herzöge im 30-jährigen Krieg auf Seiten der Protestanten die Münchener Kunstkammer ausraubten, war beispielsweise auch das große Münzwerk von Jacobo Strada (1515–1588) unter der Beute. Es wurde nach Weimar gebracht und an Herzog Ernst I. nach Gotha verkauft. „Wir bewahren diese 29 Bände bis heute auf – und die Münchner Kolleg*innen bewahren Gothaer Spitzenstücke“, so Paasch. „Für die Erforschung der uns anvertrauten Sammlungen tragen wir eine Verantwortung genauso wie für Rückgaben.“ Das Team der FBG stellt sich dieser Verantwortung gern. Und für Kathrin Paasch selbst ist die Erforschung von Bücherbiografien ein großes Anliegen. Denn sie weiß: „Hier ist noch viel zu tun.“
Abbildungen:
Titelbild: Seiten aus dem Gothaer Stundenbuch (Pfingstwunder). Memb. I 70, Bl. 75v-76r.
Bild unten links im Text: Einband der Ottheinrich-Bibel. Ehemals Herzogliche Bibliothek Gotha, Memb. I 11, heute Depositum der Forschungsbibliothek Gotha in der BSB München.