Seit November 2021 ist er in Gotha und forscht als Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung am Forschungskolleg Transkulturelle Studien/Sammlung Perthes an den Beständen der Sammlung Perthes. Ein großes Glück und eine echte Chance für Samuel Kidane Haile. Denn in seiner Heimat Äthiopien herrscht Krieg. Im Zuge dessen musste die Universität Mekelle, an der Haile zuletzt Doktorand an der Fakultät für Geschichte und Kulturwissenschaften war, geschlossen werden. Eine Tragödie für eine Forscherbiografie. Wie sollte es für ihn weitergehen? Für unseren Forschungsblog „WortMelder“ hat er uns seine Geschichte erzählt…
In Tigray, im Norden Äthiopiens, geboren, hat Samuel Kidane Haile Geschichte studiert und seinen Abschluss an den Universitäten von Debub und Addis Abeba gemacht. Er arbeitete später als Dozent an der Universität Aksum und lehrte äthiopische Geschichte und Weltgeschichte. Daneben war er Leiter des Fachbereichs für Sozialwissenschaften und Direktor des Community Service Center an der Universität Mekelle. Sein Ziel: die Promotion. Im Rahmen derer war Haile bereits 2021 in Deutschland. Genauer gesagt in Gotha, wo er im Rahmen eines Herzog-Ernst-Stipendiums mit der Sammlung Perthes arbeitete. „Meine Forschung konzentrierte sich bereits damals auf das Leben und den Werdegang von Ras Sihul Mika'el, einer sehr umstrittenen Figur der äthiopischen Geschichte“, berichtet der Stipendiat. „Er wird auf unterschiedliche Weise dargestellt – sowohl in literarischen Werken als auch in mündlichen Überlieferungen. Ich wollte mich ihm aber nicht allein aus der biografischen Perspektive nähern, sondern stattdessen die Entstehung und den Aufstieg von Fürstenhäusern in Abgrenzung zu den salomonischen Königen dokumentieren. Ich versuche dabei, historische Quellen und mündliche Überlieferungen wieder aufzugreifen und mein besonderes Augenmerk auf die Symbiose, aber auch die Gegensätzlichkeit von Königen und Fürstenhäusern in dieser Zeit zu legen. Auf diese Weise habe ich grundlegende Erkenntnisse über das Fürstenhaus in Tigray gewonnen und kann damit auch dazu beitragen, die sozioökonomische, politische und administrative Geschichte Nordäthiopiens während der Amtszeit von Ras Sihul Mika'el zu erforschen. Die könnte künftigen Forschergenerationen helfen, die Fluidität der Konzepte von Territorium und Territorialität besser zu verstehen. Außerdem wird meine Arbeit helfen, Ras Sihul Mika'el aus einer neuen, wissenschaftlichen Perspektive heraus zu verstehen und nicht nur aus überlieferten Erzählung. Zugleich arbeite ich in meiner Studie die Verwaltungsgeschichte von Nordäthiopien im Allgemeinen und Tigray im Besonderen auf.“ Für seine Dissertation, in der Haile die Geschichte Nordäthiopiens während des langen 18. Jahrhunderts in den Blick nimmt, sind die kartografischen Materialen der Sammlung Perthes ein unglaublicher Quellenfundus.
„Schon während der Zeit meines Aufenthaltes als Herzog-Ernst-Stipendiat forderte der Krieg in meiner Heimatregion Tigray in Äthiopien zahllose Menschenleben. Universitäten und Schulen wurden geplündert, in Brand gesetzt – viele mussten aus Sicherheitsgründen geschlossen werden, so dass es in meiner Heimat keinerlei Schulbildung mehr gab“, erinnert sich der Doktorand. „Das wahllose Töten hatte einen Höhepunkt erreicht und zwang im Grunde die gesamte Jugend, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen, um ihre Familien zu schützen. Acht Monate nach Beginn des Krieges und der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes auch in meiner Heimatregion hatte die Befreiungsarmee TDF (Tigray Defense Forces) Tigray erfolgreich von den Angriffen der eritreischen Streitkräfte, der Fano, einer bewaffneten Bürgerwehr aus der angrenzenden Provinz, und der äthiopischen Verteidigungskräfte befreit. Was folgte, war die militärische Belagerung des Gebietes. Die Menschen dort wurden allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zur Zielscheibe. Sie wurden in Internierungslager gebracht, das Leben wurde ihnen immer schwerer gemacht. Tigrai zu sein – so wie ich –, wurde zum „Verbrechen“. Ein Zurück nach Äthiopien unter diesen Bedingungen? Undenkbar. Und so „strandete“ Samuel Kidane Haile schließlich in Gotha.
„Die Auswirkungen des Krieges in Tigray auf meine Forschungsarbeit waren unübersehbar. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Der Krieg in meiner Heimat hat mir monatelang meine gesamte Energie geraubt. Mir war klar, wenn ich nach Äthiopien zurückkehre, schickt man mich vermutlich ins Gefängnis oder in eines der Internierungslager weit weg von der Hauptstadt.“
Dank der Empfehlung von Prof. Dr. Iris Schröder, der Direktorin des Forschungskollegs Transkulturelle Studien/Sammlung Perthes, und Prof. Dr. Wolbert Smidt, dem Initiator des deutsch-äthiopischen Stipendienprogramms der Gerda Henkel Stiftung, der zugleich die Dissertation von Samuel Kidane Haile betreut, kann er seinen Aufenthalt in Gotha nun verlängern und damit nicht nur seine Forschungen fortsetzen, sondern ist zunächst auch vor dem Krieg sicher. „Zu meinem großen Glück“, sagt der Stipendiat, der in der Sammlung Perthes in Gotha nun bedeutsame Karten findet, die ihm helfen, äthiopische Manuskripte mit zum Teil mündlichen Überlieferungen aus der Amtszeit von Ras Sihul Mika'el mit den Informationen aus Karten von Reisenden seit dem späten 18. Jahrhundert zu vergleichen. „Ich stieß natürlich auch auf Karten, die aus einer überaus eurozentrischen Sichtweise heraus erstellt wurden und denen damit der Bezug zu den Orten und den Namen der von mir untersuchten Gemeinschaften fehlt. Es ist also ein Puzzle, das ich sortieren, bewerten und Stück für Stück zusammensetzen muss. So habe ich in Gotha zum Beispiel herausfinden können, dass Teile der lokalen Grenzziehung in Nordäthiopien zeitlich und historisch mit den Karten in der Perthes-Sammlung eng verbunden sind. Und die Kartenmacher kannten sich gut aus: Ihre Karten lassen vermuten, dass sie mit den lokalen nordäthiopischen Begriffen und Namen vertraut waren. Mit Hilfe ihrer Arbeiten kann ich die Veränderungen und Kontinuitäten in der Verwaltungsgeschichte, das lokale Konzept von Territorium und Territorialität in der Region nun besser beurteilen. Zudem sind die Karten wichtige Quellen, um die lang gehegten Werte und Vorstellungen von der territorialen Ausdehnung Nordäthiopiens im Allgemeinen und Tigray im Besonderen neu zu bewerten. Ich konnte bei meiner Untersuchung viele Unklarheiten beseitigen und auch Missverständnisse aufklären, die sich über viele Jahre gehalten haben und immer weiter transportiert wurden.“
Wenn Samuel Kidane Haile von seiner Arbeit in Gotha spricht, ist ihm die Begeisterung deutlich anzumerken. „Ich bin der Universität Erfurt zu großem Dank für ihre vorbehaltlose Unterstützung verpflichtet. Ich habe hier alles, was ich für meine Forschung brauche – und Menschen, mit denen ich mich austauschen, an deren Erkenntnissen ich teilhaben und an ihnen wachsen kann. Aber in erster Linie sind es natürlich die Karten, die ich nirgends auf der Welt in dieser Gesamtheit finden würde und die damit für mich so unglaublich wertvoll sind. Sie erzählen so viel über die Besiedlung Nordäthiopiens und dokumentieren heute nicht mehr existierende oder teilweise heterogene ethnische Gruppen in dieser Region. Sie helfen mir bei der Analyse von Bevölkerungsbewegungen, sie erzählen von Raubzügen und Sklavenhandel. Das ist unglaublich spannend. Die Arbeit in Gotha hat mein Verständnis von Karten und mein Wissen über sie nachhaltig verändert.“
Aber auch von dem „Drumherum“, von Thüringen und Deutschland, ist Haile angetan: „Thüringen hat so viele wunderbaren historischen Orte – einige von ihnen konnte ich inzwischen besuchen: die Wartburg in Eisenach, die historischen Stätten in Erfurt, die drei Gleichen, aber auch Jena. Ich finde, die Geschichte Thüringens hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem mittelalterlichen Nordäthiopien, wenn man schaut, wie viele Residenzen bzw. verschiedene Herrscherhäuser es gab und wie sie regiert wurden. Und ja, Gotha, die Residenzstadt, die der äthiopische Priester Abba Gorgorios (Abba Gregory) bereits im 17. Jahrhundert besuchte, nimmt auch einen wichtigen Platz in der Entstehung und Entwicklung der äthiopischen Geschichtserzählung in Europa ein. Schon als ich das erste Mal nach Gotha kam, las ich darüber und versuchte, die Geschichte der Stadt zu verstehen. Außerdem mag ich die kleine Stadt, die übrigens Partnerstadt von Adwa, einer Stadt in Tigray, ist. Es ist ruhig hier – genau richtig zum intensiven Arbeiten.“
Dennoch möchte Samuel Kidane Haile natürlich auch in seine Heimat zurück und dann wieder Studierende unterrichten und seine neuen Erkenntnisse mit ihnen teilen. „In Äthiopien werden Karten in der historischen Forschung lediglich als Hilfsmittel zur Untermauerung historischer Erzählungen verwendet. Dabei können sie so viel mehr, wie ich jetzt weiß. Ich werde mein Bestes tun, um ‚meine Studierenden‘ dazu zu inspirieren, Karten als Instrumente und historische Quellen zu nutzen.“ Dass seine Rückkehr nicht leicht wird, dessen ist sich der Wissenschaftler bewusst: „Tigray, die Provinz, in der ich gelebt habe, ist durch den Krieg völlig zerstört. Meine tigrinischen Landsleute sind Opfer dieses Krieges geworden und Angriffen von außen wie innen ausgesetzt. Die Infrastruktur ist entweder stark beschädigt oder völlig zerstört, die Region durch den Krieg völlig verwüstet. Auch die Universitäten in Tigray sind natürlich betroffen: geplündert, zerstört und verlassenen. Lehrkräfte und Studierende haben sich zum Teil der Befreiungsarmee angeschlossen, um sich und ihre Familien vor der völligen Auslöschung zu bewahren. Manche von ihnen haben nicht überlebt. Die ganze Region ist in tiefer Trauer. Die Wiederherstellung der Normalität wird eine gewaltige Herausforderung. Wie es weitergeht, wird nicht allein von äthiopischen Akteuren entschieden werden. Auch die eritreische Regierung ist involviert. Deshalb wird es künftig sicher nicht leichter werden, Schulen und Universitäten zu besuchen. Umso mehr ist es mein Wunsch, meine frühere Arbeit wiederaufzunehmen, zur Uni zurückzukehren und zu unterrichten. So kann ich meinen Teil zum Wiederaufbau von Tigray beitragen.“
Bildnachweis oben: Manuskript, Kloster Abune Gebrekristos, Dagna ca. 15. Jahrhundert.
(Der Vater Ras Sihul Mika’els, Dejach Hizkiyas Woldeharyat, stammte aus Dagna. Dort erhielt Ras Sihul Mika’el seine kirchliche Grundausbildung und wurde schließlich 1779 auch im Kloster Abune Gebrekristos beerdigt.)