"Das jüdische Leben in Erfurt war nicht im Mittelalter beendet – es ist bis heute lebendig"

Ausblicke , Druckfrisch
Alte Synagoge, Erfurt

„Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ – unter dieser Überschrift feiert Thüringen ein Themenjahr, das von zahlreichen Akteuren getragen werden soll. Darunter sind die Thüringer Staatskanzlei, die Jüdische Landesgemeinde Thüringen, Stadt- und Landesarchive sowie Vereine wie der Förderverein für jüdisch-israelische Kultur in Thüringen. Mit Blick auf den jüdischen Kalender beginnt das Themenjahr am 1. Oktober 2020 und endet am 30. September 2021. Auch die Uni Erfurt beteiligt sich mit verschiedenen Beiträgen daran. Neben Vorlesungen, Podiumsveranstaltungen und Workshops ist auch ein gemeinsamer Studientag mit der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Jena geplant.

Logo zum Themenjahr

Bereits im Vorfeld ist jetzt in der Reihe „Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte“ ein neuer Band unter dem Titel „Ritual Objects in Ritual Contexts“ erschienen, der die Ergebnisse der Ende 2019 stattgefundenen  gleichnamigen Tagung in verschiedenen Beiträgen bündelt. Die Tagung, die gemeinsam vom Research Centre „Dynamik ritueller Praktiken im Judentum in pluralistischen Kontexten von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Erfurt und dem Büro der Beauftragten für das UNESCO-Welterbe in der Stadt Erfurt verantwortet wurde, hat beispielhaft Objekte aus dem mittelalterlichen Erfurt und Objekte aus der Rudolstädter Judaica-Sammlung, die auf das 18. Jahrhundert zurückgeht, herausgegriffen und untersucht, wie rituelle Objekte Informationen über zeitgenössische Rituale geben können, wo diese rituellen Objekte in die Entstehungsgeschichte eines Rituals einzuordnen sind und inwiefern besondere rituelle Objekte Auskunft über die Orts- und Zeitgeschichte geben können. „WortMelder“ sprach darüber mit den beiden Herausgeberinnen des Bandes, PD Dr. Claudia D. Bergmann und Maria Stürzebecher …

Frau Dr. Bergmann, was waren denn die wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Tagung, die nun Eingang in die Publikation gefunden haben?
Claudia Bergmann: Einige der Objekte sind zum ersten Mal überhaupt untersucht worden, so zum Beispiel ein dekoratives Mizrach (ein Gemälde, das die Richtung von Jerusalem anzeigt) aus Rudolstadt durch die Judaistin Judith Frishman, die auch Mitglied im Beirat des Research Centre ist. Mit den neuen Erkenntnissen über den Schlüssel im Erfurter Schatz, die Merav Schnitzer gewonnen hat, konnten wir interpretatorisches Neuland betreten. Damit haben wir für die weitere Forschung Grundlegendes vorlegen können, aber auch einen Beitrag zur Erforschung jüdischen Lebens in Rudolstadt und Erfurt geleistet. Und zum anderen, und das gilt für alle Objekte, hat sich wieder einmal gezeigt, wie eng Rituale und Objekte miteinander verflochten waren und sind. Objekte geben uns Einblick in rituelle Abläufe, die es vielleicht nicht mehr gibt, und sie sind gleichzeitig ein Spiegel der Alltagsgeschichte der Menschen, die sie benutzt haben.

Gab es etwas, das Sie im Zuge der Untersuchungen überrascht hat?
Claudia Bergmann: Überrascht vielleicht nicht, aber ich hatte bei der Nachbereitung der Konferenz und der Vorbereitung für den Band ein ganz besonderes persönliches Erlebnis. Maria Stürzebecher hatte mich eingeladen, mit dabei zu sein, als Merav Schnitzer den silbernen Schlüssel des Erfurter Schatzes vor Ort untersucht hat. Ihre These ist, dass dieser Schlüssel ein Stimmschlüssel für eine Harfe war und am Schabbat als Schmuck um den Hals getragen wurde. Das wollten wir im Museum, natürlich unter den nötigen Sicherheitsvorkehrungen, einmal ausprobieren. Da ich die Einzige war, die an diesem Tag eine Kette trug, durfte ich den Schlüssel für ein Foto tragen. Ich war tief beeindruckt von der Schwere des Materials, davon, wie schnell sich das Objekt erwärmt hat und wie gut es als Schmuck zu tragen war. Ein Objekt aus dem Erfurter Schatz, der ja schon im 14. Jahrhundert vergraben wurde, einmal selbst so nah zu erleben, war etwas ganz Besonderes für mich.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit dem Judentum und seiner Geschichte. Welche Bedeutung kommt Erfurt denn als Ort jüdischen Lebens in Deutschland zu?
Claudia Bergmann: Mir ist es immer wichtig zu betonen, dass das jüdische Leben in Erfurt nicht im Mittelalter beendet war, sondern bis heute andauert und lebendig ist. Die großartigen Zeugnisse des mittelalterlichen Judentums in Erfurt sind jedoch einmalig und von großer Bedeutung für die Erforschung des Judentums in Europa. Etwas Besonderes ist es, dass wir hier sowohl originale Bausubstanz vorzuweisen haben (die Alte Synagoge, die Mikwe und das Steinerne Haus), als auch viele rituelle Objekte, die das Alltagsleben, aber auch das religiöse Leben der Menschen hier bezeugen. Diese Menschen waren Erfurter und Erfurterinnen, über die es noch viel zu lernen gibt.

Sehen Sie das auch so, Frau Stürzebecher?
Maria Stürzebecher: Das Besondere in Erfurt ist, dass sich hier mittelalterliche Bau- und Sachzeugnisse einer Jüdischen Gemeinde aus dem Mittelalter erhalten haben, die in ihrer Komplexität und Dichte einmalig sind. Es gab im Mittelalter in sehr vielen Städten und kleineren Ansiedlungen jüdische Gemeinden, aber an den meisten Orten gibt es heute keine Spuren mehr davon. Dass an einem Ort nicht nur die mittelalterliche Synagoge, sondern auch die zugehörige Mikwe, profane Gebäude und darüber hinaus Sachzeugnisse wie Handschriften oder der Erfurter Schatz überliefert sind, ist wirklich außergewöhnlich.

Nun bemüht sich Erfurt mit seinen Zeugnissen jüdischen Lebens ja aktuell um den Titel UNESCO-Weltkulturerbe. Frau Stürzebecher, Sie sind die Koordinatorin dieses Aufnahmeantrags. Was würde ein solcher Titel für Erfurt bedeuten?
Maria Stürzebecher: Mit der Eintragung in die UNESCO Welterbe-Liste würde sich Erfurt verpflichten, die mittelalterlichen Monumente der jüdischen Gemeinde für die gesamte Menschheit und alle Zeiten zu bewahren. Damit wollen wir der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands nachkommen, die gemeinsamen Wurzeln von Juden und Christen in Europa in Erinnerung zu rufen und den Beitrag jüdischer Bürger zu Gelehrsamkeit und wirtschaftlicher Blüte angemessen zu würdigen.

Nun ist ja 2019 die Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für das Research Centre „Dynamik ritueller Praktiken im Judentum in pluralistischen Kontexten von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Erfurt nach fünf Jahren regulär ausgelaufen. Die darin beschäftigten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich seit 2015 mit religiösen Ritualen in Christentum und Judentum beschäftigt und die vielfältigen Zusammenhänge der Entwicklung und dynamischen Veränderung jüdischer Rituale erforscht. Was bleibt davon? Oder anders gefragt: Welchen Beitrag konnten sie damit zur Untersuchung des jüdischen Lebens in Thüringen leisten?
Claudia Bergmann und Maria Stürzebecher: Die Arbeit des Research Centre ist jetzt im Moment nicht mehr ganz so sichtbar, setzt sich aber fort. Nach dieser Publikation wird es noch drei weitere geben, u.a. Ende dieses Jahres zum Thema „Rituale und Liturgie“. Die Fellows, die uns in den vergangenen fünf Jahren besucht haben, leisten weiter ihre Arbeit und werten das aus, was sie hier erforscht haben. Weitere Veranstaltungen wie ein Ringvorlesung im Herbst zum Thema „Judentum und Bildung“ sind schon fest geplant. Vielleicht gibt es auch noch einmal die Möglichkeit für eine fortgesetzte Förderung des Research Centre, das sich ja generell mit jüdischen und christlichen Ritualen in pluralistischen Kontexten in Vergangenheit und Gegenwart auseinandergesetzt hat. Für Thüringen aber ist vor allem die letzte Publikation zu rituellen Objekten wichtig. Der erwähnte englischsprachige Band hat schon großes internationales Interesse gefunden und wird sicherlich weltweit rezipiert werden. Damit kommt Erfurt einmal mehr in den  Fokus der Wissenschaft und auch für Rudolstadt kann sich hoffentlich viel Neues ergeben, was die Erforschung der jüdischen Geschichte in Thüringen voranbringen wird.

Hinweis:
Der neue Band „Ritual Objects in Ritual Contexts“ wird am Mittwoch, 16. September, von den Herausgeberinnen Claudia D. Bergmann Maria Stürzebecher sowie Dr. Frank Bussert vom Verlag Bussert & Stadeler erstmals öffentlich vorgestellt. Ein Grußwort spricht der Beigeordnete für Kultur und Stadtentwicklung, Dr. Tobias J. Knoblich. Beginn der Veranstaltung ist um 18 Uhr in der Alten Syngoge. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, der Eintritt ist frei. Um Anmeldung unter E-Mail: claudia.bergmann@uni-erfurt.de wird vor dem Hintergrund der Corona-bedingten Einschränkungen jedoch gebeten.

Maria Stürzebecher und Claudia D. Bergmann (Hrsg.)
Ritual Objects in Ritual Contexts
(Reihe: Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, Band 6)
Jena/Quedlinburg: Bussert & Stadeler, 2020
ISBN 978-3-942115-82-7
236 Seiten

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