Die wertvolle Sammlung „Bibliotheca Amploniana“ in der Universitätsbibliothek Erfurt beherbergt viele Schätze. So sind auch Text und Noten für das älteste überlieferte deutschsprachige Weihnachtslied in der Sondersammlung beheimatet. Das dreistimmige Lied „Sys willekomen heirre kerst“ („Sei uns willkommen Herre Christ“) ist ein mit dem Kyrie-Ruf schließendes mittelalterliches Kirchenlied. Es stammt ursprünglich aus dem elften Jahrhundert, die vorliegende Fassung des Liedes entstand zwischen 1394 und 1398 in Aachen.
Der Liedschreiber war höchstwahrscheinlich der Kapellan der Aachener Katharinenkapelle, Johann Barba (oder Bart). Kurioserweise war das wertvolle Lied eigentlich nur ein „Lückenfüller“, denn es steht auf einem Beiblatt zu einem Text, mit dessen Materie es eigentlich gar nichts zu tun hat. „Typisch für diese Zeit, in der die wenigen musikalischen Niederschriften eher als Ergänzungen oder auch zur Füllung leer gebliebener Blätter in die Sammelbände gerieten“, erklärt Thomas Bouillon, Mitarbeiter in der Universitätsbibliothek Erfurt und Fachmann für die „Bibliotheca Amploniana“.
Prof. Dr. Kai Brodersen, Althistoriker und Präsident der Universität Erfurt hat sich eingehend mit der Handschrift beschäftigt und weiß über die Liturgie des Weihnachtsgottesdienstes und das in diesem oft gesungene Lied „Sys willekomen heirre kerst“ Einiges zu berichten:
Sys willekomen heirre kerst,
want du onser alre heirre bis,
sys willekomen, lieve heirre,
her in ertriche also schone:
Kirieleys.
Übersetzung:
Sei willekommen, Herre Christ,
weil du unser aller Herre bist,
sei willekommen, lieber Herre,
hier auf der Erde gar so schöne:
Kyrieleis
„Der Kanonikus-Priester, der die erste Messe feiern soll, liest − mit dem Priestergewand bekleidet − vom Festpult mit Weihrauchfass und Leuchter das Evangelium „Liber Generationis“, wobei der Subdiakon und der Diakon bei ihm stehen. Wenn dies beendet ist, singen sie: „Nu seit unß willekome hero Kerst“, dann „Te Deum laudamus“ mit der Orgel, und nach dem Abschluss davon wird die erste Messe vom Kantor Herrn begonnen, die am Alter der Heiligen Jungfrau Maria gefeiert wird.” Diesen Ablauf des Weihnachtsgottesdienstes regelt eine im Archiv des Stiftskapitels in Aachen bewahrte lateinische liturgische Anweisung aus dem 14. Jahrhundert: Vor der Messe wird in lateinischer Sprache der „Liber Generationis“ verlesen, also das „Buch der Abstammung”. Mit den Worten „Liber Generationis“ beginnt die lateinische Fassung des Neuen Testaments, nämlich das Matthäusevangelium, das 1,1−16 die Abstammung Christi benennt. Auf den letzten lateinischen Satz daraus (Matthäus 1,16: Iacob autem genuit Ioseph virum Mariae de qua natus est Iesus qui vocatur Christus, also „Jakob zeugte Josef, den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus”) singt man nicht mehr auf Latein, sondern in der Volks-, nämlich der deutschen (genauer: niederfränkischen) Sprache ein Willkommenslied für Christus. Wieder in lateinischer Sprache folgen das „Te Deum laudamus“ und die eigentliche lateinische Messe. Ähnliche liturgische Regeln sind aus dem Rhein-Maas-Gebiet auch aus späteren Jahrhunderten belegt.
Tatsächlich ist das in diesem Zusammenhang spätestens seit dem 14. Jahrhundert gesungene Lied „Sys willekomen heirre kerst“ das älteste deutschsprachige Weihnachtslied, von dem wir Text und Melodie kennen. Es wird noch heute in katholischen (Gesangbuch Gotteslob Nr. 131) und evangelischen Gemeinden gesungen (Evangelisches Gesangbuch Nr. 22, hier freilich mit einer modernen Melodie). Das Lied ist eine so genannte „Leise”, da am Ende − wohl von der ganzen Gemeinde – „Kyrieleis“ gesungen wird.
Der älteste erhaltene vollständige Beleg für dieses Lied findet sich in einer mittelalterlichen Handschrift, die der aus Rheinberg am Niederrhein stammende Amplonius in seiner Büchersammlung, der „Bibliotheca Amploniana“ besaß. Amplonius Rating de Berka, 1363 oder 1364 in Rheinberg geboren, hatte nach dem Schulabschluss in Soest und Osnabrück von 1385 bis 1388 an der Universität Prag die „Sieben freien Künste”, also v. a. Geisteswissenschaften, und dann auch Medizin studiert. 1391 schrieb er sich an der Universität Köln und ein Jahr später an der 1379 gegründeten aber erst 1392 den Studienbetrieb aufnehmenden Universität Erfurt ein, zu deren ersten Studierenden er damit gehörte. Wohl bereits 1393 wurde er hier Doktor der Medizin und war von Mai 1394 bis Januar 1395 der zweite Rektor der Universität Erfurt. Wenige Jahre später wechselte er als Mediziner und Kanonikus nach Köln, wo er 1435 starb. Seine Büchersammlung vermachte er 1412 dem Collegium Porta Coeli in Erfurt, das der Versorgung und Förderung von Studenten der Universität Erfurt dienen sollte. Die „Bibliotheca Amploniana“ ist die größte heute beinahe geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten weltweit und zählt zu den bedeutendsten Handschriftensammlungen Deutschlands; sie wird heute von der Universität Erfurt betreut.
In einer der Handschriften aus dieser Sammlung, einem in England im 14. Jahrhundert entstandenen und von Amplonius wohl in Köln angekauften Codex Q 332, der vermischte gelehrte Schriften bewahrt, findet sich auf einem zuvor teilweise leer gebliebenen Blatt (fol. 105r) der in der eingangs zitierten Aachener Vorschrift nur angedeutete, hier vollständig überlieferte Text des deutschsprachigen Weihnachtsliedes, und zwar gleich dreifach nacheinander: Zunächst stehen zwei begleitende Oberstimmen, dann als Cantus Firmus die Unterstimme. In eine moderne Notation umgesetzt sind Text und Melodie so zu lesen (und singen!), wie es das beiliegende Notenblatt zeigt. Die „Bibliotheca Amploniana“ Erfurt, die 2012 die 600-Jahrfeier ihrer Stiftung feiern kann, bewahrt also den ältesten vollständigen Beleg für ein deutschsprachiges Weihnachtslied.