Bedeutende Entdeckung für die Leibniz-Forschung

Vorgestellt
Gábor Gángó

Kollegen halten es für eine „kleine Sensation“ und auch die  Forschungsstelle Hannover hat bereits erste Untersuchungen angestellt und bestätigt: Gábor Gángó, COFUND-Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt ist in München auf eine bislang unbekannte Druckfahne mit handschriftlichen Eintragungen eines der bedeutendsten deutschen Philosophen und Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts, Gottfried Wilhelm Leibniz, gestoßen. Die Entdeckung ist nicht nur für die Leibniz-Forschung von Bedeutung, denn mit Blick auf den jungen Leibniz kann die Handschrift zeigen, dass seine Entwicklung bis zum Durchbruch der reifen Gedankenwelt thematisch reicher, vielfältiger und methodologisch komplexer war, als bisher angenommen. „Aber auch für mich persönlich ist die Entdeckung wertvoll, denn sie ist eine Bestätigung meiner Forschungsstrategie“, sagt Gábor Gángó. „Ich kann jetzt die Details der Entstehungsgeschichte von Leibniz‘ polnischem Traktat viel besser sehen und verstehen.“

Der Wissenschaftler forscht über Leibniz und Osteuropa, ein großes und bisher unbearbeitetes Gebiet, das Aspekte der Macht- und Kirchenpolitik, des Militärwesens, der kulturellen Geografie, der Sprachwissenschaft, Aspekte von Leibniz persönlicher Karrieremöglichkeiten in sich birgt – und das in einer Epoche, die sich für die Formation des modernen Europabewusstseins als grundlegend erwies. Bei der nun entdeckten Leibniz-Eintragung handelt es sich um die Druckfahne einer lateinsprachigen genealogischen Tabelle mit dem Titel „Stemma Jagellonico-Neoburgicum“. Sie wurde gegen Ende 1668 angefertigt, um die enge Verwandtschaft des Pfalzgrafen Philipp Wilhelm von Neuburg mit der polnischen Herrscherdynastie der Jagiellonen zu beweisen und damit die Chancen der Wahl des Pfalzgrafen zum Polenkönig zu vermehren. Zu sehen sind die Instruktionen des 22-jährigen Leibniz an die Druckerei: „Die meisten sind zu niedrig gesezt, dahehr die Linien nicht gleich gezogen werden könen[.] Doch könte es mit einer saubern feder corrigirt werden, obgleich die Linien mitten durch den druck gezogen werden müsten.”

Gábor Gángó: „Eine bisher unbekannte Handschrift eines großen Denkers zu entdecken, bedeutet mir sehr viel. Besonders im Fall von Leibnitz, dessen Lebenswerk größtenteils im Manuskript blieb und dessen Nachlass in Hannover, genauer gesagt ein Teil davon, nämlich seine enorme internationale Korrespondenz, auf der Liste des UNESCO-Weltdokumentenerben aufgenommen wurde. Seit dem Zweiten Weltkrieg gehört es zu den Raritäten, einen so langen, zusammenhängenden Text von Leibniz zu Tage zu fördern. Schon aus wenigen Buchstaben bestehende Randbemerkungen von Leibniz in Büchern oder auf Handschriften von anderen werden von den Leibniz-Forschern dermaßen in Ehren gehalten, dass man nicht selten lange Fremdtexte in der Akademie-Ausgabe der Werke von Leibniz ediert, nur um diese Marginalien veröffentlichen zu können. Aber natürlich können auch diese Marginalien höchst wichtig und interessant sein.“

Aber Gángós Entdeckung geht weit darüber hinaus: Es ist nicht nur die einer Leibniz-Aufzeichnung, sondern womöglich eines Werkes von Leibniz. Denn die Notizen auf der Druckfahne liefern einen starken Beweis für Leibniz‘ Autorschaft des „Stemmas Jagellonico-Neoburgicum“. Leibniz hat zum Anlass der polnischen Königswahl von 1669 eine berühmte Werbeschrift, das „Specimen Polonorum“, geschrieben. Dies ist ein Schlüsseltext seiner Jugend – nicht nur als sein erster längerer politischer Traktat, sondern auch als Zeuge seines philosophischen und ethischen Werdegangs in den Mainzer Jahren 1668 bis 1672. „Nun scheint es unumgänglich zu sein, sich ernsthaft mit anderen Texten des polnischen Wahlkampfs zu beschäftigen, deren Verfasser bzw. Mitverfasser Leibniz war und die trotzdem in die Leibniz-Gesamtausgabe nicht aufgenommen wurden. Diese kleine handschriftliche Notiz kann deshalb zur bedeutenden Vermehrung des Leibniz’schen Werkes führen“, erklärt der Wissenschaftler.

Aber wie ist er eigentlich auf die Handschrift gestoßen und warum blieb sie bislang im Verborgenen? Als Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt schreibt Gabor Gángó gerade ein Buch über Leibniz‘politischen Traktat zur polnischen Königswahl. Als Ideenhistoriker interessiert er sich dabei vor allem für den polemischen Kontext politischer Texte. Er will die Frage beantworten, mit welchen politischen Intentionen, für wen, gegen wen Leibniz schrieb, was er schrieb. Um den Kontext rekonstruieren zu können, wollte der Wissenschaftler das zeitgenössische publizistische Umfeld kennenlernen und forschte deshalb in Kórnik bei Posen, in Breslau, Danzig, Warschau und Krakau, aber auch in Deutschland in Sammlungen in Erfurt, Würzburg, Gießen, Wolfenbüttel, Hannover, und letztlich in München, wo er im Geheimen Hausarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs die Druckfahne mit der Notiz samt zahlreicher wichtiger Dokumenten der Thronkandidatur von Philipp Wilhelm von Neuburg fand. „Bisher waren die Leibniz-Forscher an philologische Fragen in Bezug auf das ‚Specimen Polonorum‘ nicht besonders interessiert“, erklärt Gángó, „mit Ausnahme von Dr. Margot Faak, der Herausgeberin der dritten Ausgabe des ersten Bandes der politischen Werke von Leibniz, in dem dieses Werk in moderner kritischer Ausgabe veröffentlicht wurde. Sie war sich über die Wichtigkeit des Kontextes im Klaren und leistete mit ihrer Arbeit alles, was zu  DDR-Zeiten möglich war. Jedoch war ihr eine systematische Forschung deutschlandweit oder gar osteuropaweit unmöglich.“

Mit der Entdeckung der Leibniz-Notiz beginnt nun ein weiteres Stück Arbeit: Zwar hat das Team der Leibniz-Forschungsstelle Hannover die Handschrift in Fotoaufnahme bereits untersucht und sie einstimmig als Leibniz-Handschrift angenommen, ihre Authentizität abschließend zu prüfen, wird jedoch eine kollektive Arbeit von weiteren Experten sein. Die Handschrift soll nun in den Arbeitskatalog der vier Leibniz-Editionsstellen aufgenommen und so der breiteren Gemeinschaft der Leibniz-Forscher bekannt gemacht werden und zugänglich sein.