Das neue Wissenschaftsjahr des Bundesministeriums für Bildung und Forschung widmet sich 2018 dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“. Es soll „erkunden, welche Chancen sich eröffnen und vor welchen Herausforderungen wir stehen“. Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur suchen gemeinsam nach Antworten auf Fragen zu den Arbeitsplätzen von übermorgen. Auch die Universität Erfurt beteiligt sich mit einer Beitragsreihe wieder am Themenjahr des BMBF und geht dabei aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Frage auf den Grund, wie sich zukünftige Arbeitswelten gestalten werden. Welche Ängste bringen Digitalisierung und Robotik mit sich? Wie haben sich Berufe gewandelt, beispielsweise der Lehrerberuf, die Arbeit in Bibliotheken und Archiven oder die Tätigkeit des Forschers selbst? Was ist Arbeit überhaupt, etwa lediglich die Erwerbstätigkeit oder nicht doch alles, was uns im Leben prägt, von familiären und freundschaftlichen Beziehungen bis hin zur Muße? Welche Rolle spielen zukünftig Internationalisierung, Ehrenamt, ständige Leistungssteigerung und Work-Life-Balance? Und wie müssen sich Unternehmen verändern, um zukunftsfähig zu bleiben? Diese und weitere Fragen sollen in der Textreihe „Arbeitswelten der Zukunft – Beiträge der Universität Erfurt zum Wissenschaftsjahr 2018“ diskutiert werden.
Dr. Urs Lindner ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Projekts „Ordnung durch Bewegung“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. In Teil sieben unserer Beitragsreihe erklärt er, inwieweit Quoten aus seiner Sicht einen Teil dazu beitragen können, den Arbeitsmarkt der Zukunft gerechter zu gestalten.
Ende März 2018 präsentierte der frisch ernannte Bundesinnenminister Horst Seehofer die „Führungsmannschaft“ für sein neugeschaffenes Heimatministerium. Auf dem Mannschaftsfoto sind neun weiße Männer im mittleren bis fortgeschrittenen Alter zu sehen und keine einzige Frau bzw. Angehörige irgendwelcher Minderheiten. Das Foto löste erhebliche Empörung aus: Maria Spetter, die Gleichstellungsbeauftragte des Bundesinnenministeriums, etwa warf ihrem Chef vor, mit seinen Personalentscheidungen den Koalitionsvertrag zu „verhöhnen“. Nese Erikli, eine grüne Landtagsabgeordnete aus Baden-Württemberg, teilte hat das Foto mit dem schlichten Kommentar: „Warum Quoten eine gute Sache sind“.
Mit Quoten wird soziale Benachteiligung zu einem Entscheidungskriterium bei der Vergabe von Ämtern, Stellen oder sonst wie knappen Gütern.
Ein Blick auf die anderen Bundesministerien zeigt allerdings schnell, dass Horst Seehofer kein „Einzeltäter“ ist. Zwar ist die maskulinistische Personalpolitik in der CSU und den von ihr geführten Ministerien am ausgeprägtesten (alle drei Ministerien wurden mit Männern besetzt), doch weisen auch die meisten anderen Häuser unterhalb der Minister*innenebene eine eklatante Geschlechterdisparität bei der Besetzung von Leitungspositionen auf. Wie kann es sein, dass im Jahr 2018 in einer Bundesregierung mit einer Kanzlerin und einer Verteidigungsministerin noch immer ein derartiger „gender gap“ auftritt? „Ohne zwingende Quoten ändert sich offenbar nichts“, schrieb die Philosophin Beate Rössler bereits vor einigen Jahren: Es ist eine Sache, einen Kulturwandel herbeizuführen, auf dessen Grundlage einzelne Frauen aufsteigen können und männerbündische Amigopraktiken als Skandal erscheinen. Es ist eine andere Sache, überkommene Organisationsstrukturen aufzubrechen.
Deutschland hat, ziemlich einmalig auf der Welt, die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ als Verfassungsauftrag in den Grundrechten (Artikel 3, GG) verankert. (Im Grundrechtekatalog der Bayerischen Landesverfassung findet sich das Äquivalent zu Artikel 3, GG übrigens unter ferner liefen, z.B. nach einem öffentlichen Auftrag zur „Bekämpfung von Schmutz und Schund“!) Und nach Artikel 5 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, des deutschen Civil Rights Act, ist eine „unterschiedliche Behandlung“ dann zulässig, „wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile verhindert oder ausgeglichen werden sollen“. Quoten sind das stärkste Mittel einer solchen „unterschiedlichen Behandlung“. Sie bedeuten nicht nur, dass besondere Anstrengungen unternommen werden, um Frauen und Angehörige von Minderheiten zu rekrutieren, oder dass spezielle Programme aufgelegt werden, um diese zu fördern. Mit Quoten wird soziale Benachteiligung zu einem Entscheidungskriterium bei der Vergabe von Ämtern, Stellen oder sonst wie knappen Gütern.
Kritiker*innen behaupten daher, Quoten würden das Leistungsprinzip verletzen. Sie übersehen allerdings, dass Leistung nichts ist, was sich kontextunabhängig objektivieren ließe, dass Leistung in einer demokratischen Gesellschaft nicht das einzige politische Ideal sein kann und dass weltweit sämtliche Gleichstellungsregime Qualifikationsschwellen aufweisen. Auch die anderen Standardeinwände tragen nicht: Wer moniert, Quoten würden, statt die „wirklich Bedürftigen“ zu erreichen, nur den ohnehin schon besser gestellten Segmenten benachteiligter Gruppen zugutekommen, reduziert die Vielschichtigkeit von Ungleichheit auf ein Problem der Armut. Wer davor warnt, Quoten würden die von ihnen Begünstigten mit dem Stigma versehen, es nicht durch eigene Leistung geschafft zu haben, ignoriert die stigmatisierenden Effekte von Strukturen, in denen Erfolg von vornherein das Privileg einer Minderheit ist. Und wer in Quoten umgekehrte Diskriminierung am Werk sieht, verharmlost den Tatbestand der Diskriminierung: Bei diesem geht es nicht darum, dass Individuen in spezifischen Situationen qua Gruppenzugehörigkeit unterschiedlich behandelt werden, sondern dass sie sozial anhand von kontextübergreifenden Herabsetzungsmustern benachteiligt werden.
Das soll nicht heißen, Quoten wären frei von moralischen Dilemmata. Was sie von anderen Ungleichbehandlungen wie z.B. der progressiven Einkommenssteuer unterscheidet, ist, wie die Jurist*innen Ana Alfinito und Alex Graser argumentieren, dass die Belastung in ihrem Fall diskontinuierlich verteilt ist: Manche Organisationen müssen früheres Unrecht korrigieren, andere nicht; manche weißen Männer werden „Quotenopfer“, andere kommen davon. Diese Willkür lässt sich eindämmen, indem z.B. Klasse eine Kategorie der Gleichstellungspolitik wird. Dennoch bleibt ein Rest von ihr bestehen und kann als ungerecht empfunden werden – allerdings nur, wenn die eigenen Privilegien ausgeblendet werden und außen vor bleibt, dass der Preis einer Vermeidung solcher Willkür darin besteht, ungerechte soziale Benachteiligungen fortzuschreiben.
Die Erfahrung mit freiwilligen Zielvorgaben in der Wirtschaft zeigt, dass sich ohne verbindliche Quoten mit einem Sanktionsmechanismus, der weh tut, nichts verändert.
Was genau können Quoten nun verändern? An ihrem normativen Ziel ist nichts auszusetzen: Sie dienen der Herstellung von Teilhabegerechtigkeit und demokratischer Gleichheit. Aber inwiefern sind sie auch tatsächlich dazu in der Lage, dieses Ziel zu realisieren? Gibt es nicht vielleicht Instrumente, die dazu besser geeignet sind?
Quoten können, wenn sie denn konsequent implementiert werden, eine Gesellschaft dem Ziel von Teilhabegerechtigkeit und demokratischer Gleichheit in dreierlei Hinsicht näherbringen: Erstens sind Quoten der wirksamste Schutz vor Diskriminierung. Sie greifen nicht erst, nachdem gruppenspezifisch herabsetzende Ungleichbehandlung stattgefunden hat, sondern sie wirken Diskriminierung prospektiv und strukturell entgegen. Die psychologische Forschung zu implizitem Bias hat herausgefunden, dass Mitglieder privilegierter sozialer Gruppen präreflexiv massive Stereotype gegenüber benachteiligten Gruppen hegen – und zwar selbst dann, wenn sie sich demokratisch-egalitären Zielen verpflichtet fühlen. Wenn sich also die subjektiven Treiber von Diskriminierung dem bewussten Zugriff der Einzelnen oftmals entziehen, schaffen Quoten eine Art strukturellen Ersatz, indem sie die Berücksichtigung von Mitgliedern benachteiligter Gruppen bei Vergabeentscheidungen von vornherein gewährleisten. Soziologisch gesehen, geht es hier um den bereits von Max Weber analysierten Mechanismus der Chancenmonopolisierung/Schließung: Diskriminierung ist nichts anderes als der Modus Operandi sozialer Schließungsprozesse auf der Interaktionsebene. Indem Quoten diesen Ungleichheitsmechanismus blockieren, bringen sie die Gesellschaft dem Ideal demokratischer Gleichheit näher. Zweitens sind Quoten ein Anerkennungsmedium: Durch proportionale Repräsentation benachteiligter Gruppen signalisieren sie, dass diese gleichberechtigt zur Gesellschaft dazugehören. Drittens können Quoten auch den Output von Organisationen verändern und bringen dann etwas auf den Weg, das in der politischen Theorie als „substanzielle Repräsentation“ bezeichnet wird: Die Präsenz von Mitgliedern benachteiligter Gruppen macht es wahrscheinlicher, dass deren Anliegen und Probleme in Entscheidungsprozessen auch tatsächlich Gehör finden.
Gibt es politische Maßnahmen, die diese Wirkungen gleichwertig oder besser erreichen können? Zumindest für Punkt eins und zwei sind Alternativen nicht in Sicht. Die Erfahrung mit freiwilligen Zielvorgaben in der Wirtschaft zeigt, dass sich ohne verbindliche Quoten mit einem Sanktionsmechanismus, der weh tut, nichts verändert. Auch der häufig zu hörende Einwand, Quoten seien starr und unflexibel, löst sich schnell in Luft auf. Wie der indische Bildungssoziologe Satish Desphande betont, liegt der große Vorzug von Quoten darin, dass sie transparent und leicht administrierbar sind: Alle können wissen, woran sie sind, und die Implementierung von Quoten nimmt auch wenig organisatorische Ressourcen in Anspruch. Die indische Diskussion zeigt ferner, dass Mehrfachbenachteiligungen bzw. das Problem der Intersektionalität kein Quotenkiller sein müssen. „Quotas within quotas“, interne Quotierungen, können dafür sorgen, dass nicht nur niedrigkastige Männer und hochkastige Frauen, sondern auch niedrigkastige Frauen repräsentiert werden.
Wenn Quoten also eine notwendige Bedingung für mehr Teilhabegerechtigkeit und demokratische Gleichheit sind, bedeutet das keinesfalls, dass sie auch hinreichend wären. Bereits bezogen auf Geschlechterungerechtigkeit bleibt ihre Wirkung beschränkt, wenn sie nicht durch Maßnahmen zur Steigerung von „Familienfreundlichkeit“ bzw. eine egalitäre Umverteilung von Sorgearbeit begleitet werden. Das gilt umso mehr für andere Ungleichheitsverhältnisse: Eine Gleichstellungspolitik, die ihre eigenen Ziele ernst nimmt, wird sich auch für Armutsbekämpfung, kulturelle Vielfalt und einen besseren Sozialstaat einsetzen. Ansonsten bleibt sie Teil eines perfiden Spiels, in dem Ungleichheitserfahrungen gegeneinander aufgerechnet werden.
Literatur: