Arbeitswelten der Zukunft #2: PD Dr. Christoph Henning – Marx und die Entfremdung in der Arbeit

Gastbeiträge

Das neue Wissenschaftsjahr des Bundesministeriums für Bildung und Forschung widmet sich 2018 dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“. Es soll „erkunden, welche Chancen sich eröffnen und vor welchen Herausforderungen wir stehen“. Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur suchen gemeinsam nach Antworten auf Fragen zu den Arbeitsplätzen von übermorgen. Auch die Universität Erfurt beteiligt sich mit einer Beitragsreihe wieder am Themenjahr des BMBF und geht dabei aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Frage auf den Grund, wie sich zukünftige Arbeitswelten gestalten werden. Welche Ängste bringen Digitalisierung und Robotik mit sich? Wie haben sich Berufe gewandelt, beispielsweise der Lehrerberuf, die Arbeit in Bibliotheken und Archiven oder die Tätigkeit des Forschers selbst? Was ist Arbeit überhaupt, etwa lediglich die Erwerbstätigkeit oder nicht doch alles, was uns im Leben prägt, von familiären und freundschaftlichen Beziehungen bis hin zur Muße? Welche Rolle spielen zukünftig Internationalisierung, Ehrenamt, ständige Leistungssteigerung und Work-Life-Balance? Und wie müssen sich Unternehmen verändern, um zukunftsfähig zu bleiben? Diese und weitere Fragen sollen in der Textreihe „Arbeitswelten der Zukunft – Beiträge der Universität Erfurt zum Wissenschaftsjahr 2018“ diskutiert werden.

In Teil zwei der Reihe blickt Dr. Christoph Henning, Privatdozent und Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, auf Karl Marx‘ Theorie der Entfremdung und was daraus für die Zukunft gelernt werden kann:

PD Dr. Christoph Henning
PD Dr. Christoph Henning

Dass viele Menschen in ihrer Arbeit die Sinnfrage stellen, hat damit zu tun, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Arbeit vieler Menschen trotz – oder gerade wegen – neuer Erfindungen anstrengender und unangenehmer geworden ist: Mit der sogenannten „Taylorisierung“, also der durchstrukturierten Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen, des Büros und dem Zwang zur Dokumentation hat auch die Dienstleistungsberufe eine Intensivierung und Überwachung von Arbeit ergriffen, die in der manuellen Arbeit schon seit längerem zu beobachten ist. Und bei der zunehmenden Arbeitsverdichtung und -überwachung und der gleichzeitigen Zumutung, sich stets als kreativ und selbstbestimmt darzustellen, lässt sich auch in höher qualifizierten Berufen ein Zusammenhang mit Phänomenen des „Burnout“ und arbeitsbedingten Depressionserkrankungen herstellen. Aber was ist das überhaupt, Entfremdung, und wie hängt sie mit Arbeit zusammen? Um diese Frage zu beantworten, hilft es, die Kerngedanken der Entfremdungstheorie von Karl Marx neu zu formulieren, da sie noch immer das relevanteste Theorieangebot zur Entschlüsselung von Entfremdungserfahren darstellt.

Das Wort Entfremdung meint dabei, dass uns etwas fremd wird, das in der Regel nicht als fremd erfahren wird; es wird eine Erwartung durchkreuzt. Das kann im familiären Bereich sein, es kommt im politischen Bereich vor und ein weiteres Feld von Entfremdungserfahrungen, das die Sozialtheorie bis vor einiger Zeit breit thematisiert hat, war die Arbeit. In der Arbeit sind wir in kapitalistischen Wirtschaften meist in ein seltsames Gefüge aus Freiwilligkeit und Zwang eingebunden: In der Regel zwingt uns niemand zu einer bestimmten Arbeit, und doch sind wir Zwängen ausgesetzt. Ohne Arbeit kein Einkommen: Es gibt einen ökonomischen Druck, der zum Arbeiten treibt. Daneben gibt es in einer Arbeitsgesellschaft starke soziale Erwartungen, die ebenfalls einen konformistischen Druck ausüben und Nicht-Arbeit erklärungsbedürftig machen. Einmal in der Arbeitsstelle angekommen, gibt es weitere Mischungen aus Freiheit und Zwang: Es gibt Vorgesetzte und vorgegebene Ziele, nur im beschränkten Rahmen Selbst- oder Mitbestimmungsrechte.

Dies sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Ausführungen von Karl Marx zu betrachten sind. Marx unterscheidet die mögliche Entfremdung der Arbeitenden vom eigenen Produkt, von der eigenen Tätigkeit, von sich selbst und ihrer Natur und schließlich von anderen Menschen.

Das Verhältnis zu Produkten

Marx führt die Entfremdung über eine Sachebene ein: Zunächst geht es um ein Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Objekt, das vom Subjekt gemacht ist. Bei Marx führt jedoch erst eine bestimmte Form der Aneignung der Produkte zur Entfremdung von ihnen. Wenn im Kapitalismus das Kapital über die Arbeitskraft verfügt, verfügt es auch über deren Produkte. Eine Entfremdung vom Produkt rührt daher, dass jemand anderer, und nicht der Produzierende selbst, darüber bestimmt. Je weniger Selbstbestimmung wir über unsere Produkte haben, desto weniger können wir uns in ihnen wiedererkennen.

Das Verhältnis zur eigenen Tätigkeit

Wer nicht über seine Produkte verfügen kann, hat meist auch wenig über deren Gestaltung zu entscheiden. Kann eine Person etwas besonders gut, aber ein sozialer Zwang hindert sie daran, dies auszuüben (oder sie kann es nur unter Kontrolle von anderen tun, die die Produkte dann als die ihren verkaufen), dann stört dies ihr Verhältnis zu dieser Fähigkeit. „Aber die Entfremdung zeigt sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst“, schreibt Marx. Für ihn führt dies dazu, dass der Einzelne „sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt“. Wenn die einen Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft der anderen haben, ist für diese eine Selbstbestimmung über die eigenen Tätigkeiten nur eingeschränkt möglich. Es bleibt, entweder eine Distanz zu den eigenen Arbeitstätigkeiten aufzubauen und ihnen so ein gutes Stück fremd zu bleiben; oder sich in ihnen hinzugeben, auf die Gefahr hin, sich durch mangelnde Kontrolle schließlich selbst fremd zu werden. Erstere Erfahrung wird man eher in Fließbandtätigkeiten suchen, letztere etwa im kreativen Sektor, wenn Gestaltungsspielraum zugelassen, aber für die Profitmaximierung instrumentalisiert wird.

Das Verhältnis zur Natur

Eine weitere Dimension, von der man sich entfremden kann, ist die Natur. Diese Rede von Natur bezieht sich sowohl auf den eigenen Leib als auch auf die Natur außer uns. Menschen schaffen durch Arbeit eine Kultur, mit der sie sich identifizieren können; zumindest solange das in Freiheit geschieht. Für Marx wird den Menschen durch Aneignung von Kultur zugleich die Natur zur Heimat. Wie kann man das verstehen? Beispielsweise kann die Zufriedenheit eines Schaffenden mit einem gelungenen Werk dazu führen, einen Einklang mit der Natur zu empfinden. Das getane Werk lässt körperlich zufrieden zurück, die Arbeit hat Natur in Form von Rohstoffen bearbeitet und in Form von Kräften verausgabt. Menschen spüren in der Arbeit ihre Kräfte, aber auch deren Grenzen – hinter denen Kräfte der äußeren Natur wie Schwerkraft oder Vergänglichkeit stecken, die auf diese Weise erfahrbar werden. Dass es Störungen im Verhältnis zur Natur (der eigenen wie der äußeren) geben kann, die auf eine misslingende Vergesellschaftung in der Arbeit verweisen, ist daher naheliegend. Die „Burnouts“ des 21. Jahrhunderts sind dabei nicht weniger physisch, als es die Verelendung des 19. Jahrhunderts war.

Das Verhältnis zu den anderen

In all dem ist Marx ein eminent sozialer Denker. Denn Entfremdung im Sozialen begreift er zugleich als Wirkung wie als Ursache der vorigen drei Faktoren. Ist jemand sich selbst und seiner Menschlichkeit fremd geworden, ist dies zugleich ein soziales Phänomen.

Das, wovon Menschen sich entfremden, birgt also keine Metaphysik oder Sozialromantik der „wahren Natur“. Es handelt sich vielmehr um ein Alltagsphänomen der industrialisierten Moderne: Jenseits der Arbeit sind gelingende Verhältnisse zu eigenen Produkten und Tätigkeiten, zur Natur und zu anderen Menschen möglich, wenn auch fragil. Menschen ziehen das Wissen darum, dass es auch in der Arbeit anders gehen könnte, aus diesem Erfahrungsschatz. Die Frage ist daher, wie und warum es im Arbeitsbereich zu dieser Entfremdung kommt. Dafür nennt Marx vier Faktoren: Zum einen ist das die Arbeitsteilung, die nur noch monotone Tätigkeiten übrig lässt und den Einblick in das Gesamtprodukt vermindert. Einer Entfremdung von Arbeit durch Arbeitsteilung kann allerdings entgegengewirkt werden, wenn Menschen in Teamarbeit, durch Mitspracherechte oder anderen Austausch untereinander ein Verhältnis auch zu den Tätigkeiten der anderen gewinnen. Ein zweiter Faktor ist die „Vermarktlichung“. Wenn Dinge nicht mehr aufgrund qualitativer Eigenschaften, sondern nur noch aufgrund ihres Marktwertes geschätzt werden, geht der Bezug zu diesen Eigenschaften verloren. Geld kühlt ab, es macht berechenbar und berechnend, es distanziert und vergleichgültigt. Entfremdung heißt noch im „Kapital“, dass Menschen das, was sie selbst hervorbringen, nicht mehr als ihr eigenes Produkt erkennen, sondern es als etwas Fremdes deuten, das eine Macht hat, der sie sich in der Folge unterwerfen. Das hat auch Auswirkungen auf die Arbeitenden selbst: Nicht nur die eigenen Arbeitsprodukte werden zu Waren, sondern auch sie selbst. Ein dritter Faktor ist die Kapitalisierung der Produktion. Arbeitsteilung und Geld kennen auch vorkapitalistische Gesellschaften, doch erst mit der Kapitalisierung der Produktion wird unmittelbar das Selbstverhältnis der Arbeitenden betroffen – denn so wird ihre Arbeitskraft zum Kapital eines anderen (variables Kapital). Das hat für die Arbeitenden einen Nebeneffekt, den es zu verarbeiten gilt: Sie arbeiten für andere, für die sie nur ein Kapital darstellen, aus dem es möglichst viel herauszuholen gilt. Viertens schließlich ist diese ganze Angelegenheit undurchsichtig, was bewirken kann, dass man sich zu früh mit ihr abfindet. So führt die „verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt“, allmählich dazu, dass diese historisch spezifische Weise der Vergesellschaftung sich nicht mehr als menschengemacht, sondern als etwas Natürliches darstellt. Diese verfälschende Wahrnehmung vom Ganzen, die gleichwohl ein Effekt dieses Ganzen ist, nennt Marx ebenfalls Entfremdung. Die Menschen begreifen ihre eigene Gesellschaft nicht mehr, wenn sie als äußere Macht erscheint, obwohl sie doch Resultat der eigenen sozialen Handlungen ist. Dieser Analyse zufolge verschwindet Entfremdung nicht durch ihr bloßes Benennen. Da sie strukturelle Ursachen hat, kann ihre Überwindung nicht allein im Denken stattfinden. Sie muss praktisch werden. Und damit geht Entfremdungskritik in Politik über. Für Marx galt es fortan, Eigentumsverhältnisse und Produktionsweisen zu etablieren, in denen die Menschen sich nicht länger gegenseitig ausbeuten und entfremden. Diese Makro-Perspektive ist nach dem Ende des Realsozialismus in einige Ferne gerückt. Lässt sich daraus für die alltägliche Praxis dennoch etwas lernen?

Ja: Es geht vor allem darum, der Vernutzung der Arbeitskraft von Menschen durch andere Menschen Grenzen zu setzen. Grenzen sind räumlich und zeitlich verortet, es geht also um Freiheit von Arbeit in Raum und Zeit: um Freiraum und Freizeit. Es geht, konkret gesagt, einmal darum, mehr öffentliche Freiräume zu schaffen und zu erhalten, die nicht nur von privaten Wirtschaftszwecken bestimmt sind: Parks, intakte Wälder, Spielstätten für Kinder (Spielplätze) wie für Erwachsene (Theater oder Sportanlagen), kurzum mehr öffentliche Güter, über deren Verwendung am besten gemeinschaftliche Mitbestimmung vorzusehen ist. Das sorgt nicht nur für mehr Lebensqualität im Alltag jenseits der Arbeit, sondern auch dafür, dass diese für Normalbürger erschwinglich bleibt. Zugleich gilt es, mehr private Freizeit zu erkämpfen, ohne damit in Armut zu fallen, damit Menschen mehr Zeit für sich und die Ihren haben und sich inhaltlich nicht nur von Arbeit bestimmen lassen müssen. In der Arbeit selbst schließlich lautet ein Hauptziel: mehr Mitbestimmung über Inhalte und Formen der Arbeit (was wird produziert und wie). Gewerkschaftliche Ziele wie Arbeitszeitverkürzung, Mitbestimmung und Gleichstellung von Leih- und Zeitarbeit sind aus dieser Sicht zu begrüßen. Was man bei alldem von Marx lernen kann, ist vor allem das Motto: THINK BIG!


Der Beitrag ist eine gekürzte und angepasste Fassung des folgenden Aufsatzes:

Christoph Henning, „Entfremdung in der Arbeit“, in: Bosch Gerhard, Angelika C. Bullinger-Hoffmann, Michaela Evans, Patrick Feuerstein, Stefan Gärtner, Katrin Hansen, Arne Heise, Ellen Hilf, Heike Jacobsen, Jürgen Kädtler, Tobias Kämpf, Nick Kratzer, Heiner Minssen und Daniela Rastetter (Hg.), Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Band 24, Heft 1-2, Berlin: De Gruyter, 2016, S. 13–30.


www.degruyter.com/view/j/arbeit
www.wissenschaftsjahr.de/2016-17/2018.html