Arbeitswelten der Zukunft #12: Dr. Hendrikje Carius – Forschungsbibliotheken im digitalen Wandel

Gastbeiträge

Das neue Wissenschaftsjahr des Bundesministeriums für Bildung und Forschung widmet sich 2018 dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“. Es soll „erkunden, welche Chancen sich eröffnen und vor welchen Herausforderungen wir stehen“. Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur suchen gemeinsam nach Antworten auf Fragen zu den Arbeitsplätzen von übermorgen. Auch die Universität Erfurt beteiligt sich mit einer Beitragsreihe wieder am Themenjahr des BMBF und geht dabei aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Frage auf den Grund, wie sich zukünftige Arbeitswelten gestalten werden. Welche Ängste bringen Digitalisierung und Robotik mit sich? Wie haben sich Berufe gewandelt, beispielsweise der Lehrerberuf, die Arbeit in Bibliotheken und Archiven oder die Tätigkeit des Forschers selbst? Was ist Arbeit überhaupt, etwa lediglich die Erwerbstätigkeit oder nicht doch alles, was uns im Leben prägt, von familiären und freundschaftlichen Beziehungen bis hin zur Muße? Welche Rolle spielen zukünftig Internationalisierung, Ehrenamt, ständige Leistungssteigerung und Work-Life-Balance? Und wie müssen sich Unternehmen verändern, um zukunftsfähig zu bleiben? Diese und weitere Fragen sollen in der Textreihe „Arbeitswelten der Zukunft – Beiträge der Universität Erfurt zum Wissenschaftsjahr 2018“ diskutiert werden.

Dr. Hendrikje Carius ist Abteilungsleiterin für Benutzung und Digitale Dienste in der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt. In Teil zwölf unserer Beitragsreihe schaut sie auf die Frage, welchen neuen Herausforderungen sich Forschungsbibliotheken als Informations- und Wissensräume im Zeitalter des digitalen Wandels stellen müssen:

Dr. Hendrikje Carius
Dr. Hendrikje Carius

Als das „wahre Eldorado der Gelehrten“ – so galt die Herzogliche Bibliothek auf Schloss Friedenstein Gotha noch im frühen 19. Jahrhundert. War das maßgebliche Kriterium der im europäischen Vergleich überaus rasche Zugang zu den Büchern, so sind heute die Anforderungen an Forschungsbibliotheken weitaus komplexer. Mit dem digital turn haben sich Rolle und Selbstverständnis von Bibliotheken grundlegend gewandelt. Der Umbruch ist radikal. Bibliotheken sind bei der Eroberung des digitalen Raums als textorientierter Wissensspeicher, als Laboratorium der Geisteswissenschaften in vielfacher Konkurrenz zu anderen globalen Angeboten getreten. Führt die Digitalisierung zum zuweilen beschworenen Ende von Bibliotheken? Wie sieht die zukünftige Arbeitswelt in einem Bibliothekseldorado aus, das als fluider, entgrenzter, multimedial vernetzter Daten- bzw. Wissensraum imaginiert wird?

Der klassische Aufgabenkanon von Bibliotheken wie das Sammeln, Bewahren, Erschließen/Forschen und Vermitteln ist nicht obsolet, sondern wird unter dem digitalen Paradigma neu ausgestaltet. Intensive Debatten in den bibliothekarischen, gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Communities begleiten diesen Prozess der Positionsbestimmung. Er geht einher mit einer sich wandelnden, globalisierten, vernetzten Wissensgesellschaft und einer digitalen Wissenschaftskultur, die sich auf kooperative Forschungsprozesse und vernetzte Wissensräume verständigt. Für eine virtuell forschende Generation gilt dabei zunehmend: Was digital nicht auffindbar ist, ist nicht sichtbar und damit nicht forschungsrelevant. Es gilt, das Kulturerbe ins Digitale zu transformieren und in weiteren Anwendungen wie digitalen Sammlungspräsentationen, Editionen oder virtuellen Ausstellungen zu kontextualisieren. An diesen Herausforderungen sowie der Prämisse einer freien und offenen Wissenskultur entlang arbeiten Bibliotheken dem Paradigmenwechsel mit ihren digitalen Strategien zu – von Open Access über Open Source bis hin zu Open Data. Gehörten bis um die Jahrtausendwende aufwendige Bibliotheksreisen zum „Eldorado der Gelehrten“, können Forscherinnen und Forscher heute weltweit zeit- und ortsunabhängig recherchieren und auf digitale Quellen zugreifen. Bibliotheken bahnen Wege durch den digitalen Raum mit seinen vielfältigen digitalen Ressourcen, die mit Metadaten versehen und auf der Basis von Linked-Data-Technologien für semantisch vernetzte Informationen aufbereitet, multiperspektivische Zugänge und neue Forschungsfragen an das Material heranzutragen ermöglichen.
Mit den digitalen Informations- und Wissensräumen wird zugleich der physische Raum neugedacht, wie zahlreiche spektakuläre Neu- und Umbauten von Bibliothek bezeugen. Sinnfällig dabei ist, wie sehr Bibliotheken ihr Publikum nach wie vor mit ihrem spezifischen Genius loci als Ort der Kontemplation, Begegnung und Zusammenarbeit attrahieren.

Gleichwohl prägt der digitale Wandel die bibliothekarische Arbeitswelt unverkennbar und führt zu neu ausdifferenzierten Tätigkeitsfeldern in der Digitalisierung des unikalen und forschungsrelevanten Kulturgutes, der Datenkuration oder etwa den elektronischen Publikationsdienstleistungen. Die Umsetzung der genannten Aufgaben geht an Forschungsbibliotheken mit einer tiefgreifenden Umorganisation zugunsten der mit der Digitalisierung verbundenen Aufgaben einher. Für den Aufbau einer zukunftsfähigen, digitalen Forschungsinfrastruktur ist dabei die konsequente Ausrichtung auf die Digital Humanities zentral. Die digitalbasierten Forschungsprozesse legen mit Blick auf Fragen der Standardisierung und Nachhaltigkeit eine systematische bibliothekarische Begleitung bei der wissenschaftlichen Datenerstellung nahe. In der Praxis rücken Bibliotheken somit zukünftig noch sehr viel näher an die Wissenschaft und die Prozesse der Wissensproduktion heran, sie sind dabei selbst aktive Akteure in wissenschaftlichen Wertschöpfungsprozessen. Als Partner der Digital Humanities treten sie in einen offenen und kontinuierlichen Austausch mit der nationalen und internationalen Wissenschaft und übernehmen Vermittlerfunktionen zwischen Fach- und Informationswissenschaft. Dies erfordert ein umfassendes Verständnis für Forschungsprozesse, die Bedürfnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie eine gemeinsame wissenschaftlich-methodische Reflexion digitaler Forschungspraktiken. Analog zu bundesweiten Entwicklungen arbeiten daher auch an der Universität Erfurt Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie wissenschaftliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare beispielsweise in dem Netzwerk für digitale Geisteswissenschaften und Citizen Science eng zusammen und sind mit Mitgliedern aus Wissenschaft, Bibliotheken, Archiven und Museen aus dem In- und Ausland institutionenübergreifend vernetzt. Wissenschaftliche und technisch-infrastrukturelle Kooperationen sind nicht zuletzt beim ressourcenintensiven Aufbau virtueller Forschungsumgebungen unerlässlich – etwa zur kooperativen Erforschung und Präsentation historischer Sammlungen in Form von digitalen Sammlungs-, Editions- und Ausstellungsportalen, die zeit- und ortsunabhängig Arbeits- und Forschungsprozesse von der Datenerfassung bis zur Präsentation, Langzeitarchivierung und Nachnutzung unterstützen. Aktuell wird im Rahmen des Sammlungs- und Forschungsverbundes Gotha mit dem Gotha-Portal eine solche Plattform konzipiert, die langfristig als eine modulare Forschungsumgebung für die historischen Sammlungen am Standort Gotha dienen soll.

Mit dieser skizzierten Neuausrichtung bestehen die zuvor genannten klassischen (forschungs-)bibliothekarischen Aufgaben unter den Handlungsbedingungen des digitalen Zeitalters fort, wenn auch im digitalen Gewand. Mit dem andauernden Digitalisierungsprozess, der Transformation analoger in digitale Inhalte, werden neue, forschungsgeleitete digitale Angebote für noch kaum abzuschätzende Nutzungsszenarien hinzukommen. Die verlässliche, dauerhafte Zugänglichkeit und Verfügbarkeit digitaler Inhalte ist eine Zukunftsaufgabe. Will die Forschungsbibliothek der Zukunft „Eldorado“ für die historisch arbeitenden Wissenschaften sein, wird sie sich dabei aber auch im Sinne eines inspirierenden, atmosphärischen Orts, als einladende Stätte für Begegnung und Austausch weiter formieren – im Physischen wie im Digitalen.