"Wir brauchen eine seriöse friedens- und sicherheitspolitische Debatte statt populistischer Appelle!"

Gastbeiträge

"Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!" so fordern es die Initiator*innen eines Appells, der sich gegen den Krieg und vor allem gegen Rüstungsexporte in die Ukraine richtet. Mehr als 36.000 Menschen haben den Aufruf bislang unterzeichnet – darunter prominente Politiker*innen, Künstler*innen, aber auch Wissenschaftler*innen,der Universität Erfurt sind dabei. "Wir brauchen eine seriöse friedens- und sicherheitspolitische Debatte statt populistischer Appelle", sagt indessen Apl. Prof. Dr. Michael Haspel und sieht manche Aspekte aus dem "Appell" auch kritisch. In unserem Forschungsblog "WortMelder" erklärt er, warum...

"Mit der massiven militärischen Offensive Russlands in der Ukraine stellt sich die Frage, welche Konsequenzen dies für die deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik hat. Deshalb ist es zu begrüßen, dass verschiedene Organisationen und Initiativen eine gesellschaftliche Debatte über die von der Bundesregierung angekündigte Erhöhung der Verteidigungsausgaben fordern. Eine solche Neuorientierung erfordert eine politische Verständigung über Ziele und Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik. Allerdings bedarf es dafür einer gründlichen Analyse der Genese des Ukraine-Kriegs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Folgen. Der Appell 'Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz' ist im Moment wohl das Dokument, das die vielfältigen Argumente und Kritik an der geplanten Erhöhung am besten wiedergibt und bündelt. Deshalb soll exemplarisch an diesem Dokument gezeigt werden, was für eine fachlich fundierte Debatte aus wissenschaftlicher Sicht notwendig wäre.

Apl. Prof. Dr. Michael Haspel
Apl. Prof. Dr. Michael Haspel

Als erstes wären die sicherheitspolitischen Vorannahmen zu klären. In dem Appell wird behauptet: 'Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.' Das wäre zum einen erläuterungsbedürftig, zum anderen widerspricht es vielen sicherheitspolitischen Analysen der Faktoren, die zur aktuellen russischen Offensive geführt haben. Gerade weil die westlichen Staaten nach dem Georgien-Krieg und nach dem Beginn des Ukraine-Krieges 2014 nur mit schwachen Sanktionen reagiert haben, dürfte die politische Führung um Putin davon ausgegangen sein, dass auch dieses Mal nicht mit Konsequenzen zu rechnen ist. Darüber hinaus haben NATO und EU von vorn herein klargestellt, dass sie nicht militärisch eingreifen werden. Das ist das Gegenteil von Abschreckung. Die führte zur Annahme der russischen Führung, dass eine militärische Offensive erfolgreich mit niedrigen Kosten durchgeführt werden könnte, was sich dann auf Grund der unterschätzen Verteidigungsfähigkeit der Ukraine als Irrtum herausgestellt hat.

Abschreckung beruht ja gerade auf der glaubhaften Fähigkeit zur konventionellen Verteidigung. Zu argumentieren, zwischen 'atomaren Militärblöcken' brauche es keine konventionelle Verteidigungsfähigkeit, hieße, dass schon auf niedrigschwellige Übergriffe, wie z.B. der Besetzung der estnischen Stadt Narva, die direkt an Russland grenzt und überwiegend russischsprachige Bevölkerung hat, mit einer nuklearen Antwort reagiert werden müsste. Das ist wirklich nicht wünschenswert.

Des Weiteren hat sich die militärische Bedrohung für Polen und die baltischen Staaten durch die große Zahl russischer Truppen in Weißrussland objektiv erhöht. Diese Situation wird sich vermutlich – außer es käme in der russischen Föderation zu einem Systemwechsel – auf längere Zeit nicht ändern. Entweder werden weitere russische Truppen nach Weißrussland verlegt, um die Offensive in der Ukraine zu unterstützen, oder – was gegenwärtig durchaus möglich erscheint – es ziehen sich russischen Verbände aus dem Norden der Ukraine zurück. In beiden Szenarien werden kampffähige russische Einheiten in der Nähe der Grenze Polens und der Litauens stehen, wie das schon beim Aufmarsch für die derzeitige Offensive der Fall war. Dass die Schaffung einer Landverbindung in das Kaliningrader Gebiet zu den obersten geostrategischen Zielen der russischen Sicherheitskreise gehört, dürfte offensichtlich sein. Und dass die derzeitige russische Führung bereit ist, für imperiale und geopolitische Ziele Krieg zu führen, ist nicht neu, hat aber mit der aktuellen Situation in der Ukraine eine neue, dramatische Dimension gewonnen. Es ist nicht die Absicht dieses Textes noch die Kompetenz der Verfassers darzulegen, was die angemessenen sicherheitspolitischen Reaktionen und notwendigen militärischen Mittel sein könnten – aber dass konventionelle Rüstung gerade zur Abschreckung einer Aggression, die nuklear eskalieren könnte, in der gegenwärtigen Situation notwendig ist, sollte deutlich geworden sein. Wenn man davon ausgeht, dass Staaten nicht nur die politische Aufgabe, sondern auch die ethische Pflicht haben, sowohl für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung als auch für die Sicherheit verbündeter Staaten zu sorgen und zur internationalen Friedenssicherung beizutragen, wird dies nicht ohne angemessene militärische Fähigkeiten gehen.

Denn die russische Föderation hat seit dem 24. Februar auch jegliche Struktur kooperativer Sicherheit 'zerschossen'. Schon im Vorfeld wurden OSZE und UN ignoriert. Die Weigerung, die Aggression in der Ukraine Krieg zu nennen, hat nicht nur innenpolitische Konsequenzen. Die russische Föderation hat auch bei der UN keine Erklärung hinterlegt, in der sie die Anwendung militärischer Gewalt rechtfertigt, wie dies sonst üblich ist. Damit wird deutlich, dass Russland die multilateralen Institutionen der Friedenssicherung als obsolet ansieht. Spätestens mit den militärischen Aggressionen 2014 hat Russland explizit gegen das Budapester Memorandum von 1994 verstoßen, in dem Russland als Voraussetzung für die nukleare Abrüstung der Ukraine deren Integrität und Selbstbestimmung garantiert. Das ist so etwas wie der GAU sowohl für die Begrenzung nuklearer Rüstung als auch für die Glaubwürdigkeit einer zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur. Sie werden wohl auf absehbare Zeit nur sehr begrenzt möglich sein. Es muss also neu überlegt werden, so haben es Christopher Daase und Nicole Deitelhoff in einem Beitrag jüngst vorgeschlagen, wie Abschreckung und Kooperation zusammengedacht und verschränkt werden können.

Eine zweite Ebene der Kritik betrifft die Qualität der Argumentation. Es fängt schon in der Überschrift des Appells an. Dort (und noch einmal im vorletzten Satz) wird von einer befürchteten 'Hochrüstung' gesprochen. Dabei scheint es in den akademischen sicherheitspolitischen Diskursen weitgehender Konsens zu sein, dass ein erheblicher Teil der avisierten Mittel notwendig sein werden, um überhaupt die Einsatzfähigkeit der vorhanden militärischen Verbände der Bundeswehr zu gewährleisten, also für Ersatzbeschaffung und Modernisierung. Selbst wenn die Erhöhung der Militärausgaben im angekündigten Umfang realisiert werden sollte, würde die Bundeswehr signifikant kleiner sein als Ende der 1980er-Jahre – ohne die NVA mitzurechnen. Hier von Hochrüstung zu sprechen, ist nicht nur unpräzise, sondern irreführend, zumal die Militärausgaben mit Blick auf vergleichbare Länder nicht auffällig sind.

Auch der Vergleich der Militärausgaben der kompletten NATO mit der russischen Föderation ist kein sachlich angemessenes Argument. Zum einen scheint es zweifelhaft, ob etwa die relativ hohen Militärausgaben der Türkei für das hier verhandelte Konfliktszenario tatsächlich relevant sind, zum anderen müssten dann in der Gegenrechnung auch die Militärbudgets Chinas, Irans, Nordkoreas, Syriens etc. mit einbezogen werden.

In dem Appell könnte man den Passus, dass die NATO-Länder schon vor 2014 begonnen hätten, ihre Rüstungsausgaben zu erhöhen, so verstehen, dass hier ein Zusammenhang mit der Konfliktentwicklung in der Ukraine bestünde. Dies wäre irreführend. Die steigenden Militärausgaben hängen zum einen mit damals laufenden (Afghanistan, Irak) und neuen (Mali, Syrien) Militäreinsätzen im Kontext der Bekämpfung islamistischer Gruppen zusammen, ganz unabhängig davon wie man diese Einsätze im Einzelnen politisch und ethisch bewerten mag. Zum anderen erklärte Präsident Obama schon in seiner ersten Amtszeit den pazifischen Raum als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung, was wiederum europäische Staaten nötigte, mehr Mittel für ihre Verteidigungsfähigkeit zur Verfügung zu stellen.

Gleichwohl ist es so, dass die weltweit hohen und steigenden Rüstungskosten ein Übel darstellen. Nicht nur innerhalb der Nationalstaaten werden hier erhebliche Ressourcen blockiert, die für Bildung, medizinische Versorgung, Nahrungssicherheit insbesondere im Globalen Süden und im Kampf gegen den Klimawandel dringend benötigt würden. Die Reduzierung dieser horrenden Ausgaben wird aber wohl nur in verlässlichen Abrüstungsprozessen zu erreichen sein. Und hier war es vor allem Russland, das aus solchen Vereinbarungen ausgestiegen ist, und ist es China, das sich bislang nicht in Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime hat einbinden lassen.

Allerdings ist die Analyse des Appells, dass steigende Verteidigungsausgaben Einschnitte in anderen Bereichen mit sich bringen würden, absolut richtig. Die berühmte schwäbische Hausfrau weiß, dass der Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Allerdings ist der dann als Argument angeführte Vergleich mit anderen Etatposten unseriös. Es werden mehrere kleinere Haushaltsbereiche, für die der Bund zum Teil nur eingeschränkte Zuständigkeit hat, genannt und mit dem Verteidigungsetat verglichen, so dass der Eindruck entstehen könnte, das sei der größte Posten im Haushalt. Dies ist aber der Bereich Arbeit und Soziales, der im Vor-Corona-Jahr 2019 mit 140 Mrd. ca. 40% des Haushaltsvolumens ausmachte. Durch den Anstieg dieses Titels im Zusammenhang der Corona-Maßnahmen ist der relative Anteil des Verteidigungshaushaltes trotz absoluten Anstiegs 2020 sogar gesunken. Solche Zahlen-Tricksereien tragen nicht zu einer sachlichen öffentlichen Debatte bei.

An dieser Stelle, dies soll noch einmal ausdrücklich betont werden, ist dem Appell auch unbedingt zuzustimmen. Wir brauchen eine öffentliche Debatte über die Neuorientierung deutscher Politik. Das setzt aber auch eine sachliche Analyse voraus. Wenn ich von vorneherein davon ausgehe, dass die Verbesserung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr mit dem Ziel eines angemessenen Beitrags zur Landes- und Bündnisverteidigung sowie ggf. zu internationalen friedenserhaltenden Maßnahmen nicht notwendig ist, dann wird auch jede Mehrausgabe dafür sinnlos erscheinen.

Wenn diese Notwendigkeit allerdings gesehen wird, auch dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten im Verhältnis zu anderen Bündnispartnern zu wenig geleistet, aber zugleich von relativ günstigen Energielieferungen aus Russland (und nach der Finanzkrise von 2008 intensiviertem Handel mit China) profitiert hat, dann wird es notwendig sein, ernsthaft zu diskutieren, was die Ziele sind, welche Maßnahmen sich daraus ergeben und wie diese finanziert werden – und welche Konsequenzen das für andere Bereiche hat und welche Lasten die Bevölkerung dafür zu tragen bereit ist.

Wenn man die militärische Entwicklung in der Ukraine verfolgt, stellt sich aber auch die Frage, ob nicht die bisherigen militärstrategischen Überlegungen des Westens noch einmal überprüft werden müssen, angesichts der operativen Schwäche der russischen Streitkräfte und der defensiven Stärke der ukrainischen.

Und es kann auch nicht darum gehen, einfach nur mehr Geld in die Hand zu nehmen. Wenn man den deutschen Verteidigungsetat mit denen Frankreichs und des Vereinigten Königsreichs vergleicht, wird offensichtlich, dass die Probleme der mangelnden Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte nicht nur am Geld liegen können.

Die Frage, ob die geplanten Mehrausgaben mit anderen haushaltsrechtlichen Mitteln über einen längeren Zeitraum hinweg planungssicher zur Verfügung gestellt werden können, vermag ich nicht zu beurteilen. Auf alle Fälle wäre dies einer Grundgesetzänderung vorzuziehen.

Ich versuche schon seit längerem in der Friedensethik und Konfliktforschung dafür zu werben, Friedens- und Sicherheitslogik nicht als sich ausschließend zu konzipieren, sondern sie zusammen zu denken. Wir werden als Gemeinwesen insgesamt mehr für Sicherheit und Frieden ausgeben müssen als in den vergangenen drei Jahrzehnten. Und das gilt nicht nur für militärische Fähigkeiten, sondern auch für Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung, der Entwicklungszusammenarbeit, zum Umgang mit Migration und nicht zuletzt zur Bekämpfung des Klimawandels.

Friedenslogik und Sicherheitslogik zusammenzudenken ist auch eine wissenschaftliche Herausforderung. Dies kann nur geleistet werden, wenn etwa die klassischen Internationalen Beziehungen transdisziplinär enger mit Konfliktforschung und Global Studies, der Entwicklungs-, Klima- und Migrationsforschung zusammenarbeiten. Und es kann nur international geschehen, indem insbesondere die Länder und Perspektiven Ost-Mitteleuropas und des Globalen Südens miteinbezogen werden."

Der Autor:

Apl. Prof. Dr. Michael Haspel lehrt am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt Systematische Theologie. Eines seiner Forschungsthemen ist die Friedensethik/Ethik der internationalen Beziehungen. Er hat seit Mitte der 1990er-Jahre am Studiengang Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg mitgewirkt und war Mitglied des Gründungsdirektoriums des Zentrums für Konfliktforschung.