Wenn Amrita Mondal an Shibu didima denkt, muss sie noch immer lächeln. Einige Jahre ist es nun schon her, dass Mondal zu Recherchezwecken für ihre Doktorarbeit mehrere Wochen bei der lebhaften, verwitweten 91-Jährigen aus dem indischen Bengal verbrachte und sie auf ihrem Grundbesitz zwischen Teich, Tempel, Mangobäumen und Krishna in ihrem Alltag begleitete. Ihre Lebensgeschichte ist der jungen Wissenschaftlerin im Gedächtnis geblieben. In einem Land, in dem Frauen noch immer viele Benachteiligungen erfahren, ist Shibu didimas Geschichte eine besondere: Bereits in jungen Jahren übertrug ihr Vater ihr ein großes Stück Land. Um sicherzustellen, dass seine Tochter auch nach seinem Tod ein Anrecht darauf hat, schenkte er sein gesamtes Land einem von ihm selbst gegründeten privaten Krishna-Familientempel und ernannte seine Tochter kurzerhand zur Verwalterin des Tempellandes. Ein cleverer Schachzug, der die damalige rechtliche Lage umging und seiner Tochter ein unabhängiges, abgesichertes Leben garantierte. An diesem Beispiel zeigen sich, so Amrita Mondal, gleich mehrere Besonderheiten von Eigentumsverhältnissen und Erbschaftsprozessen im ländlichen Bengalen. So werden zunächst die hierarchischen Machtverhältnisse alltäglicher Interaktionen sichtbar, ebenso deren Verankerung in und Verstärkung durch deutlich institutionalisierte ungleiche gesellschaftliche Machtstrukturen sowie deren Überlagerung mit und Durchdringung von Religiosität und individuellen Handlungen. Die Existenz unterschiedlicher sozialer Beziehungsgeflechte ermögliche schließlich kreative Lösungen im Umgang mit ungleich-strukturierten Machtbeziehungen. Der neue „Hindu Succession (Amendment) Act“ von 2005 griff in diese komplexen Prozesse von Besitz, Erbschaft und geschlechtsspezifischen Machtbeziehungen rechtlich und gesetzlich ein. Für Amrita Mondal ergaben sich dadurch eindeutige Forschungsfragen, die sie in ihrer Dissertation untersuchte: Welche Verschiebungen und Veränderungen brachte das Gesetz für indische Frauen? Wie wurden die rechtlichen Regelungen seitdem in der Praxis für wen und mit welchen Folgen tatsächlich umgesetzt? Für die Beantwortung dieser Fragen fand Mondal am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt die passende Forschungsumgebung. So zog die gebürtige Inderin nach Erfurt, wo sie sich auf ihre Feldforschung vorbereitete und gerade ihre Doktorarbeit erfolgreich verteidigt hat – und wo sie sich nach vielen Stationen im Ausland angekommen fühlt.
Gleich nach ihrem Bachelor, den sie in ihrer Heimatstadt Kalkutta absolvierte, zog es Amrita Mondal in ferne Länder: Auf einen Master an der School of Economics in Neu Delhi folgte ein Aufbaustudium in Wien und Leipzig im Bereich International Relations und Global Studies. Anschließend arbeitete sie mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GiZ), der Welthungerhilfe und anderen Entwicklungsorganisationen in Indien, Sri Lanka, Nepal, Afghanistan, der Dominikanischen Republik und Haiti. „An allen diesen Orten hat mich vor allem immer wieder ein Thema begleitet: Frauenrechte beziehungsweise Besitzrechte von Frauen und ihr Zusammenhang mit Nahrungssicherheit“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. Die Arbeit 2014 in Haiti wurde dann zu einem Schlüsselmoment für Mondal. „Ich wusste plötzlich, dass ich mich nicht nur praktisch, sondern auch wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen wollte und zwar unter Einbezug meiner umfangreichen Arbeitserfahrung.“ Zu dieser Zeit verbesserte das indische Gesetz, das seit nunmehr zehn Jahren die Erbrechte von Frauen regelt, die Lage von Inderinnen zunehmend. In welchem Ausmaß und wie es letztlich zur Überarbeitung des Hindu Succession (Amendment) Act 2005 kam, das wollte Mondal in einem Dissertationsprojekt also genauer untersuchen. Bereits die erste Recherche nach möglichen Forschungseinrichtungen zeigte: Das Max-Weber-Kolleg (MWK) ist mit einem seiner Forschungsschwerpunkte auf dem globalen Süden und seinem Netzwerk an internationalen Fellows der passende Ort für sie. Dann ging alles ganz schnell: Bewerbung, Zusage, das Projekt in Haiti beenden, schnellstmöglich ein Visum beantragen – und schon saß die junge Forscherin als Promovendin gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt in einem der interdisziplinären Kolloquien des MWK. „Das war ein richtiger Glücksfall“, sagt Mondal. „Das Max-Weber-Kolleg hat eine Tradition im Forschungsfokus auf Indien und mit Prof. Dr. Martin Fuchs und Antje Linkenbach-Fuchs bekannte Indien-Spezialisten an Bord. Außerdem wollte ich nicht nur quantitativ arbeiten und die sehr umfangreiche Literatur dazu untersuchen, sondern ich wollte qualitative Forschung betreiben, um auch anthropologische Perspektiven auf das Thema einzubringen. Dazu kommt, dass ich wirtschaftliche und rechtliche Aspekte einbeziehen, also interdisziplinär arbeiten wollte. All diese Ansprüche erfüllte das MWK. Es war für mich sowohl thematisch, methodisch als auch theoretisch ein ausgezeichneter Partner.“
So fühlte sich Amrita Mondal bestens vorbereitet als sie 2015 für mehr als ein Jahr Feldforschung zurück nach Indien ging, um im Bezirk Bardhhaman in West Bengal Hindu-Frauen und -Familien zu befragen und zu begleiten – wie Shibu didima eben. Bei der alten Landbesitzerin wie auch bei den anderen Teilnehmerinnen ihres Projektes stand die Forscherin jedoch erst einmal vor zwei Herausforderungen: „Da ethnografisches Wissen auf menschlicher Interaktion beruht, hängt es auch davon ab, inwieweit es dem Anthropologen erlaubt ist zu hinterfragen, zu enthüllen, zu teilen – sich also einzumischen. Zudem wurde mein Versuch, Antworten auf die Fragen zu finden, die das Erbe und der Familienbesitz aufwerfen, anfangs mit Zurückhaltung, misstrauischer Ablehnung und sogar ängstlicher Verweigerung betrachtet.“ Wie schaffte sie es also, dass auch die Frauen ihr Vertrauen entgegenbringen, die in Familienstrukturen eingebunden sind, die stärker traditionsgebunden sind als beispielsweise die von Shibu didima? Und wie stark darf sie überhaupt mit ihnen interagieren, um das zu erreichen? „Ich begann, auf Zehenspitzen und sehr vorsichtig, mit Umsicht und großer Höflichkeit mit den Menschen zu sprechen. Denn ich war mir bewusst, dass ich mit meinen Fragen in die Privatsphäre der Menschen eindringe. Dass die Frauen mir dies schließlich erlaubten, war ein großer Vertrauensbeweis, der nur auf der Basis von Anerkennung und Respekt gelingen kann“, weiß Mondal. Dieser respektvolle Umgang zeigt bald Wirkung. Die Gemeinschaft akzeptiert sie nach und nach, erlaubt ihr, ihre Lebenswelt zu studieren und hilft dabei, Daten zu sammeln. „An den ruhigen Nachmittagen, wenn die Ältesten und die Kinder im Haus Mittagsschlaf hielten, sprachen die jüngeren Frauen mit mir während wir Tee zubereiteten, in den Dorfteichen badeten oder im Schatten der Tempel zusammensaßen. Sie sprachen über Zuneigung und Eifersucht unter den Familienmitgliedern, über Familienpflichten und die Sorge, engstirnig oder verletzend gegenüber den eigenen nahen Verwandten zu wirken.“
An diese Intimität erinnert sich Amrita Mondal immer noch genauso gern wie an die außergewöhnliche Geschichte von Shibu didima. Zurück in die Thüringische Landeshauptstadt kam sie mit vielen wertvollen Daten, die ihr eine qualitative Analyse der Besitzrechte indischer Frauen ermöglichen. Damit kann die Wissenschaftlerin aufzeigen, dass die Prozesse von Erbschaft wesentlich in ein Geflecht häuslicher Pflichten eingelassen sind, das sehr viel mit den gemeinsam geteilten Erwartungen häuslicher Dienst- und Pflegeleistungen und damit auch der dauerhaften Aufrechterhaltung der Familie überhaupt zu tun hat. Mit ihren ethnografischen Feldforschungen kann Mondal zudem herausstellen, wie Frauen in diesem Geflecht als Subjekte konstituiert werden. „Aus diesem Kontext heraus lassen sich Prozesse von Erbschaft im ländlichen Bengalen eben nicht nur und nicht primär durch die Sprache des Rechts erklären, sondern sie zeigen sich als sehr viel komplexere Deutungsstrukturen, in denen ‚liberale Rechte‘ nur ein Element von mehreren darstellen“, so die Forscherin. „Im Licht dieser Untersuchung und im Kontext der kritischen Re-Lektüre staatlichen Handelns zielt meine Dissertation darauf ab, den moralischen (und nicht primär rechtlichen) Kern von Prozessen der Erbschaft und des Vererbens sowohl im Alltag als auch in der Gesetzgebung herauszuarbeiten.“
Ihr erstes Forschungsziel hat Amrita Mondal damit erreicht: Die Doktorarbeit ist erfolgreich verteidigt und wird in Kürze publiziert. Nun möchte sie das Thema weiter untersuchen – und das am liebsten auch weiterhin von Erfurt aus. Mit einem Initialisierungsstipendium in der Tasche bereitet sie gerade einen Drittmittelantrag vor, um aufbauend auf ihren bisherigen Erkenntnissen noch weiter zum Thema Besitzrechte zu forschen. „Mein neues Projekt würde mit einer Anknüpfung an den neuen Sonderforschungsbereich ‚Strukturwandel des Eigentums‘ wunderbar in das Forschungsprofil der Uni passen. Ich hoffe also, dass ich hier weiter forschen kann. Denn“, so die Wahl-Erfurterin, „ich mag den Campus, die Universität, die Stadt.“
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