"Der Untergrund ist ein sozialer Raum, in dem sich Leute bewegen, die entweder ihre Absichten oder ihre gesamte Identität verbergen." Martin Mulsow lehnt sich an das Treppengeländer im Pagenhaus des Schlosses Friedenstein und nippt an seinem Wasserglas. Gerade hat er seinen neuen, fast 700 Seiten umfassenden Sammelband "Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit" vorgestellt und muss erst einmal kurz Luft holen. "Im Untergrund agieren sogenannte Abwesende, die zwar physisch anwesend, aber kein wirklich geachteter Teil der Gesellschaft sind. Viele denken dabei gleich an Kriminelle, aber es gab auch viele andere Menschen, die im Verborgenen leben mussten." Mit eben diesen ganz unterschiedlichen Akteuren des Untergrunds beschäftigte sich die Gothaer Untergrundforschung sechs Jahre lang. In dem von ihm herausgegebenen Buch stellt der Direktor des Forschungszentrums Gotha nun die Ergebnisse dieser Untersuchungen vor, erzählt in gesammelten Beiträgen spannende Geschichten aus dem Untergrund – und erlaubt erstmals auch einen interdisziplinären Blick auf das Forschungsfeld.
"Forscher haben sich bisher in verschiedenen Forschungsfeldern mit Freidenkern, Spionen, Fälschern, Magiern, Dissidenten, Radikalen oder Geheimbündlern beschäftigt, diese Gruppen, die alle irgendwie im Untergrund agierten und lebten, aber kaum in einen Zusammenhang gebracht", erklärt Mulsow. "Wir waren jedoch davon überzeugt, dass es Überschneidungen und wechselseitige Kontakte gegeben haben muss, zum Beispiel wenn ein Dissident neue Papiere gebraucht hat und zu einem Fälscher Kontakt aufnahm. Unsere Idee war es nun, die verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen." In einem Graduiertenkolleg und verschiedenen Projekten, in Tagungen und Forschungsvorhaben von Doktoranden und Postdoktoranden untersuchten Wissenschaftler und Nachwuchswissenschaftler deshalb ganz unterschiedliche Untergründe und die darin agierenden Menschen. "Dabei ergaben sich vor allem zwei Perspektiven, aus denen heraus der Untergrund definiert werden kann: 'als Räumlichkeit und als Vergesellschaftung'", erklärt der Frühneuzeit-Experte. "Ersteres umfasst den Untergrund als sozial-räumliche Metapher für verborgenes Verhalten. Zum anderen bezieht sich der Begriff der Vergesellschaftung darauf, dass die Agierenden dort nicht allein waren und verschiedene Formen von Untergrundkommunikation zwischen ihnen existiert haben müssen." Die in Mulsows Band zusammengefassten Beiträge versuchen Antworten darauf zu geben, wie die Kommunikationswege ausgesehen haben, wie Fluchtrouten geplant wurden, wie Abwesende ihre Manuskripte heimlich drucken konnten oder wie ihre Strategien der Verschleierung aussahen. "Eine Vielzahl der Beiträge stammt von Referenten der ersten Tagung, die wir 2009 zu dem Thema veranstalteten", sagt Mulsow und fügt lachend hinzu: "Meine Bitte an die Vortragenden war damals, die wildesten und extremsten Geschichten, die ihnen bei ihrer Forschung bisher untergekommen sind, zu präsentieren – ob als Kriminalgeschichte oder auch anders aufbereitet."
Für Mulsow selbst ist das die Geschichte von Adam Neuser – einem Heidelberger Prediger, dessen spektakulären Fall der Untergrundforscher dank eines Zufallsfundes in der Forschungsbibliothek Gotha genauer untersuchen konnte: Während Katalogisierungsarbeiten an einem Briefnachlass des evangelischen Theologen und Predigers Stephan Gerlach entdeckte ein Mitarbeiter der Forschungsbibliothek Notizen und einen lateinischen Originalbrief Neusers an den Sultan des Osmanischen Reiches. Dieser Brief zwang Neuser 1570 zur Flucht und zu einem Leben im Verborgenen, und das, obwohl er ihn nie abschickte. "In dieser Zeit zeichnete es sich ab, dass sich der Kurfürst der Pfalz Friedrich III stärker am Calvinismus orientieren würde", erklärt Mulsow. "Pfarrer wurden abgesetzt und es bildete sich eine Art Opposition, die zum Teil auch Zweifel an der Lehre der Dreifaltigkeit zum Ausdruck brachte. Diese sogenannten Antitrinitarier wurden im Reich aber nicht geduldet und hatten erst weit über die Grenzen hinaus in Polen und Siebenbürgen Verbündete." Auch Adam Neuser hatte eine oppositionelle Neigung, war zunehmend unzufrieden in Heidelberg und suchte den Kontakt zu Gleichgesinnten und Anstellungsmöglichkeiten im Osten. Als ihm die Funktion als Prediger entzogen wird, verfasst er jenen Brief an den Sultan, in dem er seine Trinitätsskepsis zum Ausdruck bringt und den Islam als die bessere Religion preist. Bei der Durchsuchung von Neusers Haus wird der Brief sichergestellt und an den Kurfürsten weitergegeben. Da befindet sich sein Verfasser bereits auf der Flucht: Als Frau verkleidet gelingt es ihm, aus der Kurpfalz zu fliehen, mehrere Versuche, sich nach Siebenbürgen durchzuschlagen scheitern jedoch. Schließlich wird Neuser verhaftet. Ihm gelingt der Ausbruch und so ist Neuser ab 1571 endgültig im Untergrund angekommen: Er legt sich verschiedene Identitäten zu und nimmt in London und Paris Kontakt zu anderen Akteuren im Untergrund auf. Immer wieder versucht er, die Grenze des Osmanischen Reiches zu überqueren: in ein Weinfass eingeschlossen, in ungarischer Tracht verkleidet oder als geschorener Türke. Als er es nach Siebenbürgen schafft und dort osmanisches Einflussgebiet betritt, um an eine Druckerpresse für den Druck seiner Verteidigungsschrift zu kommen, wird er jedoch wieder verhaftet und nach Istanbul gebracht. Um dem Kerker zu entgehen, konvertiert er zum Islam, lässt sich beschneiden und wird in Mustafa Beg umbenannt. "Nun befand sich Neuser in ganz unbekanntem Gebiet", sagt Mulsow. "Er musste erneut Kontakte suchen und bewegte sich auch hier eher im Untergrund, weil er offenbar immer noch Angst hatte, verhaftet zu werden. Und obwohl er überzeugter Moslem wurde, hoffte er, irgendwann doch noch wieder in das Deutsche Reich zurückkehren zu dürfen." Um dieses Ziel zu erreichen, betritt der ehemalige Prediger einen für ihn ganz neuen Untergrundraum: Als Spion gibt er sensible Informationen an die christliche Seite weiter und positioniert sich in seiner Verteidigungsschrift als jemand, der lediglich aus Spionagezwecken in feindliches Gebiet eingedrungen sei. Der Wunsch, nach Heidelberg zurückzukehren, bleibt ihm trotzdem verwehrt. 1576 stirbt Neuser an der roten Ruhr, ohne es geschafft zu haben, aus dem Untergrund wieder in die etablierte Gesellschaft aufgestiegen zu sein. "Die Räume des Untergrundes, durch die sich Neuser bewegte, waren zunächst Hoffnungsräume und dann Fluchträume, die ihn eine Fülle von Unzulänglichkeiten vor Augen hielten: Angst, mangelnde Sprachkenntnisse, scheinbar unüberwindbare Grenzen, Abhängigkeit von anderen", fasst Mulsow zusammen. "Sein Weg gibt uns Einblicke in die Verflechtungen christlicher Kultur und osmanischer Welt im 16. Jahrhundert. Damit ergibt sich aus Neusers Bewegungsraum im Untergrund auch ein Wissensraum – für ihn selbst, der den Weg von der Utopie eines Lebens im osmanischen Reich bis zum tatsächlichen Alltag in Istanbul ging, und für uns heute, die aus seinen Hinterlassenschaften, die wir in Gotha gefunden haben, der Untergrundforschung eine weitere Facette hinzufügen konnten."