Wissen, Erkenntnis, Wirklichkeit – Wahrheit? Was ist eigentlich Wahrheit? Und was ist die Wahrheit? Der Streit und die Forschung darüber sind schon mehr als 2000 Jahre alt und haben dennoch nichts von ihrer Aktualität verloren. Im Gegenteil: Gerade in Zeiten von Fake News, des Vorwurfs der „Lügenpresse“ und der Heraufbeschwörung einer postfaktischen Ära beschäftigen sich Philosoph*innen, Kulturredakteur*innen und Gesellschaftstheoretiker*innen wieder häufiger mit dem Begriff und dem Konzept von Wahrheit. Von Platons Höhlengleichnis über Kants Auffassung der („aquinischen“) korrespondenztheoretischen Wahrheit bis Habermas‘ Konsenstheorie können sie dabei aus einer Fülle philosophischer Wahrheits- und Erkenntnistheorien schöpfen, um der Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Wahrheit auf den Grund zu gehen oder mehr noch: wieder an die Wahrheit zu appellieren. „Doch damit kommen wir nicht weiter“, hält Bernhard Kleeberg dagegen. „Was wir heute erleben – ob die Leugnung von Corona oder des Klimawandels – ist nichts, was sich entlang der klassischen Argumentationslinien der philosophischen Wahrheitstheorien in den Griff bekommen lässt.“ Kleeberg ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Erfurt und Sprecher der Forschungsgruppe „Praxeologien der Wahrheit“. Gemeinsam mit den darin vernetzten Wissenschaftler*innen möchte der Historiker in den nächsten drei Jahren einen anderen Ansatz der Wahrheitsforschung verfolgen.
„In den vergangenen Jahren wurde immer wieder thematisiert, dass die Gesellschaft zunehmend ein Problem mit der Wahrheit habe und verschiedene Gruppierungen hervorgebracht habe, die sich auf den wissenschaftlichen Konsens nicht mehr einlassen“, sagt Bernhard Kleeberg. Dieses Klagen über den Verlust von Wahrheit lese man gerade jetzt wieder in den Feuilletons aber auch die Marches of Science, in denen Wissenschaftler*innen für Wahrheit, Wissen und Wissenschaftlichkeit demonstrierten, zeugen davon. „Wir brauchen die Wahrheit wieder! Wir müssen uns auf die klassischen philosophischen Wahrheitstheorien zurückbesinnen, die in Vergessenheit geraten sind!“ – so lautet der Appell. Kleebergs Projekt aber macht etwas ganz anderes: „Zugespitzt lässt sich sagen, dass die klassische Philosophie von der Wahrheit spricht, die man auf dem einen oder anderen Weg erkennen muss. Die Postmodernen sagen, es gibt die eine Wahrheit nicht, sondern viele Wahrheiten. Und wir sagen: weder noch. Es gibt zwar Wahrheit, aber wir sollten sie nicht als Kernbegriff der philosophischen Erkenntnistheorie untersuchen. Wir müssen sie ganz anders behandeln, um die Prozesse um uns herum zu verstehen. Nämlich als sozialen Operator“, erläutert Kleeberg. Mit der „Praxeologien der Wahrheit“ verfolgt der Wissenschaftler gemeinsam mit Kolleg*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen deshalb einen Ansatz, der die Wahrheit aus der Praxis heraus erklären will. Nach dem sogenannten „doing-truth“-Prinzip will die Forschungsgruppe untersuchen, wie die Wahrheit in ganz konkreten praktischen Zusammenhängen in Anschlag gebracht wird und welche Effekte das hat. Den Ausgangspunkt dabei soll die soziale Funktion der Wahrheit bilden. Denn wenn – um bei diesem Beispiel zu bleiben – Wissenschaftler*innen auf die Straße gehen und postulieren ‚Wissenschaft ist Wahrheit‘ dann werden sie als eine soziale Gruppe wahrgenommen. Dieses Anrufen von Wahrheit, das auch in anderen Kontexten gerade zu beobachten ist, so Kleeberg, habe eine spezifische Funktion im sozialen Miteinander, nämlich Menschen dazu zu bringen, sich zu einer bestimmten Position und damit zu einer bestimmten Gruppe zu bekennen, und diese Gruppen zu ordnen. Diesem Prozess gehe immer ein Konflikt oder zumindest eine Irritation voraus, denn in konfliktfreien Momenten werde selten von Wahrheit gesprochen. Es seien Situationen der Unsicherheit, risikobehaftete Situationen, in denen die sozialen Verhältnisse gestört sind, in denen der Ruf nach Wahrheit laut werde. „Wenn Wissenschaftler*innen für die Wahrheit demonstrieren, dann drückt sich darin ihre berechtigte Sorge um den Verlust an Einfluss in der Gesellschaft aus. Sie fordern, als Gatekeeper von Wissen weiter ernstgenommen zu werden. Es geht ihnen nicht darum, noch einmal Platon, Heidegger oder Tarski zu lesen und sich wieder auf erkenntnistheoretische Probleme zurückzubesinnen“, weiß der studierte Philosoph und bekräftigt: „Wir sollten nicht wieder zurück zu einem Verständnis von Wahrheit und Realität, von dem wir uns aus guten Gründen bereits verabschiedet hatten. Und wir können auch nicht einfach die vergangenen 60 Jahre Forschung zu Wahrheit und Wissensbegriffen überspringen oder die Empirie ausblenden.“
Mit dem praxeologischen Ansatz von Kleebergs Forschungsgruppe dagegen ließen sich aktuelle Beobachtungen sehr gut analysieren, aus ganz neuen Blickwinkeln betrachten und mit anderen Studien beispielsweise zu den Sozialen Medien oder zu Aufmerksamkeitsökonomien kombinieren. Dafür möchten die Forscher*innen empirische Situationen, in denen die Wahrheit in Anschlag gebracht wird, genauer untersuchen: Vom Gang zum Orakel von Delphi über mittelalterliche Hexenprozesse bis hin zu den heutigen Debatten wie die um den Klimawandel können ganz unterschiedliche literarische, historische oder aktuelle „Wahrheitsszenen“ Forschungsgegenstand der Gruppe sein. Kleeberg selbst untersucht die Geschichte der Psychologie und deren experimentelle Zusammenhänge in Bezug auf die soziale Funktion der Wahrheit. Trotz der Fülle an möglichen historischen Themen ist ihm der aktuelle Bezug besonders wichtig, vor allem die Digitalisierung und die Sozialen Medien. „Der Blick auf die Rolle der Sozialen Medien liegt bei uns natürlich auf der Hand. Denn wenn Wahrheit ein sozialer Operator ist, der dazu aufruft, sich zu bekennen, dann braucht man auch eine Gruppe, zu der man sich bekennt. Mit den Sozialen Medien und ihrer Vielzahl an ‚Chat-Groups‘ ist das viel einfacher geworden. Es findet geradezu eine ideologische Zersplitterung der Gesellschaft über die Sozialen Medien statt.“ So machen Twitter, Telegram, Facebook und Co. das, was Leon Festinger bereits in den 1950er-Jahren in seiner Theorie der kognitiven Dissonanz beschrieben hat, heute erheblich leichter. Nach Untersuchungen einer prophetischen Sekte stellte Festinger fest: Wenn meine Vorstellung von der Realität nicht mehr mit der Realität übereinstimmt, bleiben mir zwei Möglichkeiten. Entweder ich ändere meine Vorstellung oder ich schließe mich einer Gruppe an, die die gleichen Vorstellungen hat wie ich. „Diese Gruppe bietet mir dann den psychischen Ausgleich für den Bezug zur Welt“, sagt Kleeberg. „Und das kann man gerade auch im Hinblick auf die Pandemie gut beobachten. Andere Menschen zu finden, die auch daran glauben, dass Bill Gates niedliche kleine weiße Kaninchen vergiften möchte, ist über die Sozialen Medien viel leichter geworden.“ Um die jeweilige Auseinandersetzung um die Wahrheit zu verstehen, muss dann das spezifische Zusammenspiel von Dingen, Menschen, Theorien etc., genauer untersucht werden. Diese sogenannte „Wahrheitsassemblage“ ist einer von drei Parametern, mit denen die Forschungsgruppe arbeiten möchte. Entscheidend sind zudem die eigentliche „Wahrheitsszene“ mit ihrem spezifischen Setting, ihrer Personenkonstellation und ihrem Script sowie die „Wahrheitsfigur“, die für eine bestimmte Art und Weise steht, mit Wahrheit umzugehen, wie etwa Richter*innen, Augenzeug*innen oder eben Wissenschaftler*innen.
Welche Projekte dann genau anhand dieser Parameter untersucht werden, das lässt Bernhard Kleeberg erst einmal offen. Denn das hängt auch von den Wissenschaftler*innen ab, die sich noch in der Forschungsgruppe zusammenfinden. Kleebergs Ziel ist es aber, mithilfe von Drittmitteln möglichst viele Nachwuchsforscher*innen nach Erfurt zu holen. „Gerade weil das Forschungsthema Wahrheit so alt ist, wünsche ich mir eine frische und unbefangene Herangehensweise.“