Was anfangs von vielen Kindern und Jugendlichen als "Corona-Ferien" gefeiert wurde, hat sich über die vergangenen Wochen zu einem Spiegel gesellschaftlicher Missstände entwickelt. Denn die corona-bedingten Schulschließungen zeigten: Es geht ein Bildungsriss durch Deutschland. Nicht alle haben dieselben Vorraussetzungen und damit nicht dieselben Chancen. Schulen leisten dabei als Institutionen einen sozialen Ausgleich. Doch was passiert, wenn die Schulen geschlossen sind und dieser Ausgleich entzogen wird? Wenn Kinder plötzlich ohne eigenes Zimmer oder ohne Zugang zu digitalen Lehrangeboten für sich allein lernen müssen? "WortMelder" hat bei Prof. Dr. Marcel Helbig, Professor für Bildung und soziale Ungleichheit an der Uni Erfurt, nachgefragt: "Werden durch das Homeschooling soziale Ungleichheiten manifestiert?"
"In Folge der Corona-Krise wurden seit Mitte März die Schulen geschlossen, die Schüler sollten im Homeschooling unterrichtet werden. Mittlerweile (Anm. d. Redaktion: Mitte Juni) können viele Schüler die Schulen wieder besuchen. An einen Regelunterricht ist allerdings nur an wenigen Schulen zu denken. Rechnet man die Sommerferien hinzu, hatten viele Schüler in Deutschland fast ein halbes Jahr keinen regulären Unterricht. Wie wirkt sich diese Zeit auf soziale Ungleichheiten aus, die in Deutschland auch vor Corona vergleichsweise stark ausgeprägt waren? Empirisch gibt es hierzu naturgemäß noch keine Daten. Das Nationale Bildungspanel könnte uns im nächsten Jahr Antworten auf diese Frage geben. Bis dahin lohnt der Blick in die USA: Hier gibt es (auch vor Corona) relativ ausgedehnte Sommerferien von bis zu drei Monaten. Einige amerikanische Studien haben untersucht, wie sich soziale Ungleichheiten im saisonalen Vergleich verändern. Hierbei können die Sommerferien als ein 'natürliches Experiment' aufgefasst werden, das Aufschluss darüber gibt, wie sich die schulischen Kompetenzen verändern, wenn die Schule geschlossen bleibt. Insgesamt zeigen die amerikanischen Studien übereinstimmend, dass soziale Unterschiede in den Kompetenzen während der Sommerferien steigen, während sie im Schuljahr eher konstant bleiben (für einen Überblick siehe Downey und Condron 2016). Die saisonalen Vergleiche aus den USA zeigen aber nicht nur wachsende Bildungsungleichheiten in den langen Sommerferien. Sie zeigen auch, dass der BMI-Index (als Maß für Übergewichtsprävalenz) in den Sommerferien gerade bei Hispanics, Afro-Amerikanern und Kindern aus niedrigeren sozialen Schichten stärker ansteigt als bei anderen sozialen Gruppen. Gerade in den Schulferien fehlt Kindern 'unterer' Schichten, das, was Schule zumeist bereitstellt: ein einigermaßen gesundes Mittagessen und keine zuckerhaltigen Getränke.
Diese Ergebnisse aus den USA unterstreichen also die Bedeutung des Schulbesuchs im Hinblick auf soziale Ungleichheiten im Hinblick auf schulische Kompetenzen und gesunde Ernährung bzw. die Ausbildung von Übergewicht. Aber sind diese Ergebnisse auch auf die aktuelle Situation in Deutschland anwendbar? Die saisonalen Vergleiche verdeutlichen im Grunde einen zentralen Wirkmechanismus: Schulen vermögen es, soziale Ungleichheiten in der Schülerumwelt zumindest auszugleichen. Wenn Schulen als Sozialisationsraum ausgeschaltet sind, dann wirkt sich nur noch die soziale Umwelt des Elternhauses auf die Kinder aus. Aber auch, wenn Schulen ungleichheitsverstärkende Wirkung haben können, wirkt sich die Familie weit stärker auf die soziale Ungleichheit aus. Sicherlich ist die aktuelle Situation in der Corona-Krise nicht vollständig mit den Sommerferien in den USA vergleichbar. Immerhin sollen die Kinder in Deutschland (wie auch in vielen anderen Ländern) weiterhin durch die Lehrkräfte instruiert werden, um dann mit elterlicher Unterstützung von zu Hause zu lernen. Aber insgesamt hängen das Homeschooling bzw. die Lernerfolge der Schüler viel mehr als je zuvor davon ab, wie die Schüler im eigenen Haushalt durch die Eltern unterstützt werden können, welche Ressourcen zu Hause vorhanden sind und wie anregungsreich das familiäre Umfeld ist. Im Hinblick etwa auf die Dimension Ernährung, die in den amerikanischen saisonalen Studien aufgeworfen wurde, sollte die Situation in der Corona-Krise vollständig mit den amerikanischen Sommerferien vergleichbar sein. Bis auf die Kinder in Notbetreuung sollte kaum ein Kind in Deutschland in den vergangenen Wochen und Monaten am Schulmittagessen teilgenommen haben. Wie sieht also die Situation in deutschen Familien konkret aus?
Die sozialen Ungleichheiten in Bezug auf das Homeschooling beginnen bereits bei der Ausstattung, die für eine Umsetzung einer geeigneten Lernumwelt notwendig sind. So gaben Jugendliche der 9. Klassen in der letzten PISA-Untersuchung 2018, in Familien bei denen die Eltern eine hohe Bildung haben, zu 95,4 Prozent an, dass sie einen eigenen Raum haben, während dies bei Kindern, deren Eltern nur einen geringen (oder keinen) Bildungsabschluss haben, nur auf 82,7 Prozent zutrifft. Auch ein Computer zur Erledigung von Hausaufgaben ist bei Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern häufiger vorhanden, auch wenn der Unterschied zu bildungsfernen Elternhäusern geringer ist, als man vielleicht erwarten würde (95 vs. 87,3 Prozent). Betrachtet man für diese Population, wie stark sie sich von ihren Eltern unterstützt fühlen, zeigen sich für Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern deutlich höhere Werte, sowohl bei der Unterstützung beim Lernen, als auch bei der emotionalen Unterstützung (PISA 2018 Datensatz, eigene Berechnungen).
Neben der Art, wie Eltern ihre Kinder Lernen oder emotional unterstützen gibt es auch andere Indikatoren, die als Merkmal eines anregungsreichen familiären Umfelds gesehen werden können. Die Stiftung Lesen fragt z.B. Eltern von 2- bis 8-Jährigen in regelmäßigen Abständen, wie oft dem Kind vorgelesen wird. Dabei zeigt sich, dass Eltern mit niedriger Bildung ihren Kindern zu gut 50 Prozent höchstens einmal in der Woche etwas vorlesen. Bei Eltern mit hoher Bildung trifft dies nur auf 21 Prozent zu. Eltern, die häufig vorlesen beschränken ihre Aktivitäten nicht nur auf das Vorlesen. Sie erzählen ihren Kindern auch viel häufiger ein Märchen ohne Buch, erfinden eine Geschichte frei oder erzählen Geschichten zu Bilderbüchern (Stiftung Lesen 2019).
Laut der KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts nehmen nur 53 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus unteren Sozialschichten täglich ein Frühstück zu sich, während dies 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus oberen Sozialschichten tun. Letztere sind darüber hinaus deutlich häufiger sportlich aktiv, seltener übergewichtig oder adipös, essen häufiger Obst, nehmen deutlich seltener täglich zuckerhaltige Getränke zu sich, nutzen in geringerem Umfang exzessiv elektronische Medien und sind deutlich seltener vom Passivrauchen im eigenen Haushalt betroffen. Mehr noch: Mütter von Kindern aus unteren Sozialschichten haben deutlich häufiger während der Schwangerschaft geraucht (Kuntz et al. 2018; RKI 2015).
Wie an diesem sehr kurzem Überblick deutlich geworden sein dürfte, sind die Lebenswelten von Kinder- und Jugendlichen nach ihrer sozialen Lage sehr unterschiedlich. Dadurch, dass die Schulen während der Schließungen als Institutionen sozialen Ausgleichs ihre Funktion nicht in gewohnter Form nachkommen können, ist auch davon auszugehen, dass die amerikanischen Studien zum Einfluss der Sommerferien auf soziale Ungleichheiten auf die aktuelle Situation in Deutschland übertragbar sind. Sowohl soziale Ungleichheiten beim Lernfortschritt, als auch im Hinblick auf gesundheitliche Ungleichheiten sollten während der Corona-Krise deutlich zu Tage treten. So wundert es auch nicht, dass eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung e.V. unter 1000 Lehrkräften zu dem Ergebnis kommt, dass 82 Prozent aller Lehrkräfte während der langsamen Öffnung der Schulen Lernunterschiede von Schülern auszugleichen als ihre größte Herausforderung ansehen (in Grundschulen sogar 90 Prozent) – und dies gerade einmal nach knapp zwei Monate Schulschließung."