Die aktuelle Corona-Krise wirft viele Fragen auf – z.B. auch solche, die unsere Demokratie unmittelbar betreffen. Zu diesem Thema forscht Dr. Hagen Schölzel in dem von der Volkswagen Stiftung geförderten Projekt „Corona Crisis and Beyond – Perspectives for Science, Scholarship and Society“ an der Universität Erfurt. „WortMelder" hat bei ihm nachgefragt...
Die Virologen, die Ministerpräsidenten, die Bundeskanzlerin, die Wirtschaftslobby oder jeder Einzelne – wer trifft in Krisensituationen wie aktuell in der Corona-Pandemie eigentlich wirklich die Entscheidungen und auf Grund welcher Informationen?
Weil sich das Virus von Mensch zu Mensch verbreitet, kommt es im Grunde auf die Alltagsentscheidungen jeder einzelnen Person an, wie der Umgang mit der Krise gelingt. Das heißt aber nicht, dass es ein individuelles Problem ist, ganz im Gegenteil. Das gesellschaftliche oder politische Problem liegt gerade in der möglichen sehr großen Zahl an schweren Krankheitsverläufen und auch Todesfällen, mit denen wir als Gesellschaft nicht umgehen können und wollen. Die Frage ist also, wie die Einzelentscheidungen so koordiniert werden können, dass am Ende das gesellschaftliche Problem klein gehalten wird. Das dürfte eine der Paradoxien der Pandemie sein: Dass viele Einzelne für sich persönlich vielleicht gar kein großes Risiko erkennen, wir in der Summe dann aber doch das Mitwirken der Meisten brauchen, um das gesellschaftliche Problem in den Griff zu bekommen. Politik hat im Allgemeinen die Aufgabe, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, also genau dieses Koordinationsproblem zu lösen. In Deutschland wurde lange Zeit der Versuch unternommen, kollektiv verbindliche Entscheidungen in der sog. MPK, also der Konferenz der Ministerpräsident*innen und der Bundeskanzlerin zu verabreden, wobei die konkreten Maßnahmen immer in den Ländern durch deren Verordnungen auf Grundlage des erwähnten Infektionsschutzgesetzes definiert und, soweit ich sehen kann, auch in den Landtagen verabschiedet wurden. Diese MPK haben aber erkennbar nicht sehr gut funktioniert; jedenfalls haben wir öfter gesehen, dass die Verabredungen schon kurze Zeit später in einigen Ländern nicht mehr als verbindlich betrachtet wurden. Zuletzt hat der Bundestag dann mit der „Notbremse“ konkrete Maßnahmen direkt in das Gesetz hineingeschrieben und den Ländern damit die Entscheidungsbefugnis ein Stück weit aus der Hand genommen. Am Ende kann die Politik aber nicht jedes Detail regeln, sondern es kommt darauf an, dass überall in den Familien, bei der Arbeit usw. verantwortliche Entscheidungen getroffen werden.
Interessant finde ich vor allem, dass die erhoffte Wirkung der Maßnahmen, also das Einschränken von Kontakten und damit die Verringerung der Zahl an Infektionen, bereits einsetzte, bevor Maßnahmen überhaupt politisch entschieden waren. Das wurde im vergangenen Frühjahr vor dem ersten Lockdown und auch im Winter vor Weihnachten beobachtet und könnte auch jetzt wieder bei der Bundesnotbremse der Fall gewesen sein. Anders herum hat man gesehen, dass sich parallel zur Lockerungsdiskussion im Februar ebenfalls das Verhalten der Menschen geändert hat, obwohl die Verordnungen der Länder weiterhin in Kraft waren. Es scheint also so zu sein, dass die Einzelentscheidungen der Leute stark über die öffentliche Diskussion mit beeinflusst werden, die den kollektiv verbindlichen, politischen Entscheidungen vorangeht. Als Wissenschaftler interessiert mich deshalb die öffentliche Kontroverse in der Pandemie und hier vor allem das Zusammenspiel oder auch das Auseinanderfallen von wissenschaftlichen Expertisen und politischen Entscheidungsprozessen. Die Erzählung, wir würden von Virologen und Epidemiologen regiert, die man manchmal und leider auch von Sozialwissenschaftlern hört oder liest, halte ich jedenfalls für ein Märchen bzw. für eine der Verzerrungen der öffentlichen Kontroverse, mit denen wir es leider auch zu tun haben. Sicher haben wir in den vergangenen Monaten verstärkt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Expert*innen in der Öffentlichkeit gesehen, und manchen von ihnen beraten auch direkt Politikerinnen und Politiker. Aber solche Beratungen der Politik und der Öffentlichkeit sind keine Entscheidungen, sondern sie helfen den Entscheidungsträgern – d.h. Politiker*innen und uns allen – einen rationalen Umgang mit der Krise zu finden, jedenfalls dann, wenn die Wissenschaft gut gemacht ist.
Wie kann denn garantiert werden, dass die Demokratie auch im Ausnahmezustand nicht zum Erliegen kommt?
Das ist eine gute Frage, die ich so ähnlich auch in meinem Projekt stellen werde. Es gibt ja seit Beginn der Pandemie Stimmen, die die Gefahr heraufbeschwören, dass manche Grundlagen unserer demokratischen Ordnung in Gefahr seien. Auf der anderen Seite gab es aber auch hin und wieder Stimmen, die noch stärker autoritäre Maßnahmen forderten oder Chinas Umgang mit der Pandemie als vorbildlich ansahen. Und selbst die Kanzlerin hat ja vor einem Jahr von der Pandemie als einer "demokratischen Zumutung" gesprochen. Das ist zwar eine etwas schiefe Semantik, aber letztlich stellt sich schon die Frage, ob Demokratie und Ausnahmezustand überhaupt kompatibel sind. Meine Hypothese ist, dass wir aus dem Umgang mit der Pandemie etwas darüber lernen können, wie so etwas wie ein demokratischer Ausnahmezustand gelingen könnte. Mich interessiert dabei, wie gesagt, vor allem die öffentliche Kontroverse, weil sie mir in einer Demokratie zentral dafür zu sein scheint, wie so etwas wie eine kollektive Problembewältigung, d.h. die Koordination unserer Einzelentscheidungen und unser gesellschaftliches Lernen im Umgang mit so einer Ausnahmesituation, gelingen kann. Ich denke, wir haben da in Deutschland im zurückliegenden Jahr gute Ansätze aber auch Fehlentwicklungen gesehen, die es lohnt genauer zu untersuchen. Am Ende meines Forschungsprojekts kann ich hoffentlich etwas mehr dazu sagen.
Es gibt auch immer wieder Stimmen, die befürchten, dass jetzt beschlossene Gesetze nicht auf die Krisenzeit beschränkt bleiben. Wie kann man das verhindern?
Da müsste man in die einzelnen Gesetze schauen, wie das in den jeweiligen Fällen geregelt ist. Aber diese juristischen Fragen sind eigentlich gar nicht mein Kompetenzbereich. Wenn wir trotzdem einmal in das Infektionsschutzgesetz schauen, das ja zumindest für den gesundheitspolitischen Notstand als Kern der Krise zentral ist, finden wir dort zwei unterschiedliche Varianten, wie das Gesetz auf die Krisenzeit beschränkt wird. Der Bundestag hat ja extra 2 Paragrafen eingeführt (28a und 28b), die den Umgang mit der Corona-Pandemie regeln. In dem ersten Paragrafen wird das Ende der Maßnahmen so definiert, dass der Bundestag die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ aufheben muss. Der Gesetzgeber muss also feststellen, dass sich die Krisensituation zumindest als nationales Problem erledigt hat. Der zweite Paragraf mit der sogenannten „Bundesnotbremse", der kürzlich neu eingefügt wurde, ist dagegen mit einer zeitlichen Befristung versehen, die Maßnahmen enden also automatisch spätestens am 30. Juni. Auch die Verordnungen, mit denen die Länderregierungen ihre Maßnahmen auf Grundlage des Gesetzes geregelt haben, sind nach §28a von vornherein mit einer zeitlichen Befristung zu versehen, so dass sie grundsätzlich nach vier Wochen enden, wenn sie nicht erneuert werden. Aber wie gesagt, eigentlich müssten Sie diese Frage einer Juristin oder einem Juristen stellen.
Kann der inzwischen mehr als ein Jahr andauernde Corona-Ausnahmezustand unserer Demokratie Schaden zufügen und wie wäre das zu verhindern?“
Naja, es sieht so aus, dass die Corona-Pandemie alle Lebensbereich mehr oder weniger stark unter Druck setzt. Das gilt ganz sicher auch für die Politik. Und was man den Ausnahmezustand nennt, soll ja letztlich helfen, die Pandemie irgendwie in den Griff zu bekommen und sich damit am Ende selbst überflüssig machen. Ihre Frage würde ich daher so verstehen, ob die Medizin vielleicht schlimmer sein könnte, als die Krankheit. Und ob sie womöglich bleibende Schäden an unserem politischen System verursacht. Ich denke beides ist nicht der Fall. Es sieht eher so aus, dass die Krise Schwachstellen in den verschiedenen Lebensbereichen offensichtlich macht, die auch vorher schon existiert haben. Aber sie macht meines Erachtens auch die Dinge sichtbar, die eher gut funktionieren. Und bleibende Veränderungen oder nachhaltige Schäden am demokratischen System sehe ich mit den bisherigen Maßnahmen auch nicht. Vielleicht müssen wir bis zur Bundestagswahl im Herbst abwarten, inwiefern aus der Krise stärkere Veränderungen im Kräfteverhältnis der Parteien entstehen. Aber auch da scheint es doch so zu sein, dass Kräfte wie die AfD, die womöglich unser demokratisches System insgesamt in Frage stellen wollen, eher nicht profitieren. Im besten Fall können wir sogar etwas lernen, was uns für einen demokratischen Umgang mit künftigen Krisensituationen wappnet. Meines Erachtens sollten wir die Situation also eher als Chance begreifen.