Am heutigen 15. Januar 2019 wäre der amerikanische Pastor und Bürgerrechtler Martin Luther King 90 Jahre alt geworden. Seine Rede „I Have a Dream“, die er am 28. August 1963 im Rahmen des „Marschs auf Washington für Arbeit und Freiheit“ hielt, ist noch heute eine der eindringlichsten Reden der Geschichte. Sein „Traum“ war die Aufhebung der Rassentrennung und die Gleichberechtigung von Afroamerikanern in allen Teilen der amerikanischen Gesellschaft. Der mit dieser Forderung einhergehende Bürgerrechtskampf mündete schließlich in der Unterzeichnung des neues Civil Rights Act von 1964, der die Rassentrennung offiziell aufhob – und der damit einen großen Sieg des friedlichen Protests Kings, seiner Weggefährten und seiner Anhänger darstellte. Martin Luther Kings Traum schien in Erfüllung zu gehen: Afroamerikaner und Weiße haben formal die gleichen Rechte. Und doch zeigen die Entwicklungen der vergangenen Jahre – die anhaltende Polizeigewalt gegen Schwarze, die alltägliche Diskriminierung und die immer noch vorherrschende soziale Schere zwischen Schwarz und Weiß –, dass die US-amerikanische Gesellschaft diesen Traum noch nicht gänzlich lebt. Prof. Dr. Michael Haspel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt und forscht seit vielen Jahren zu Martin Luther King. „WortMelder“ hat bei ihm nachgefragt: „Was ist geblieben von Martin Luther Kings Traum und was ist angesichts aktueller Ereignisse noch zu tun, um ihn wirklich zu erfüllen, Prof. Haspel?“
„Der Traum bleibt weiterhin aktuell: dass alle Menschen in Würde, Gerechtigkeit und Frieden zusammenleben. King selbst hat schon Mitte der 1960er-Jahre realisiert, dass die formale rechtliche Gleichstellung der Schwarzen deren soziale Lebenssituation nicht von allein ändert. Er hat das in folgendes Bild gefasst: Was nützt es den Schwarzen, wenn sie jetzt in dieselben Restaurants wie Weiße zum Essen gehen können – sie aber nicht das Geld haben, sich einen Burger zu kaufen?
In seiner Analyse hat er klar herausgearbeitet, dass Armut, Rassismus und Militarismus einen strukturellen Zusammenhang bilden. Und das ist heute so aktuell wie damals. Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die gesetzliche Segregation in den Südstaaten ist er ab Mitte der 1960er-Jahre in die Städte des Nordens der USA gegangen, um die soziale Benachteiligung der Afroamerikaner auch jenseits des Südens zu thematisieren. Martin Luther King zog mit seiner Familie selbst in einen Slum der West Side von Chicago und bezeichnete die unzumutbaren Zustände als ‚innere Kolonisierung‘. Indem er diesen systemischen Rassismus, der auch nach der rechtlichen Gleichstellung fortwirkte und in die ökonomischen und sozialen Strukturen eingewoben war, öffentlich anprangerte, verlor er rapide an Beliebtheit. Ebenso unpopulär war seine Kritik des Vietnam-Krieges.
Bei seiner berühmten Rede von 1963 haben ihm Hunderttausende zugejubelt, bei seiner Beerdigung waren es wieder so viele, die Anteil nahmen. Doch dazwischen war es sehr einsam um ihn geworden. Für ihn war jedoch klar, dass die Würde der Menschen als Gottes Ebenbild nicht allein durch formale Gleichstellung verwirklicht wird, so wichtig diese auch ist. Ihm war bewusst, dass christliche Nächstenliebe keine Sentimentalität für sonntags ist, sondern dass Liebe auf Gerechtigkeit zielt und nur strukturell zu erreichen ist. Martin Luther King verband eine klare theologische Orientierung mit einer Analyse der gesellschaftlichen Strukturen. Deshalb war für ihn offensichtlich: Um Rassismus und Ungerechtigkeit im eigenen Land – aber auch weltweit – zu überwinden, müssen das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem grundlegend geändert werden. Diese globale Dimension erkannte er schon sehr früh und er sah immer einen Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die Segregation und den Rassismus in den USA und der Entkolonialisierung weltweit. Auch den Vietnam-Krieg hat er nicht zuletzt deshalb abgelehnt, weil er darin einen kolonialen Krieg sah, in dem Weiße gegen ‚People of Colour‘ kämpften. Über die unmittelbaren Gräuel des Krieges hinaus, sah King, dass die Ressourcen, die dort verbraucht wurden, im Kampf gegen die Armut in den USA und weltweit fehlten.
Deshalb ist es meines Erachtens gefährlich, sich von außen, sozusagen von einer ‚höheren Warte‘ aus, mit King zu identifizieren, um festzustellen, wie schlecht die Situation der Schwarzen in den USA heute noch ist. Von King lernen hieße, seine Analyse des Zusammenhangs von Rassismus, Ungerechtigkeit und Militarismus bei uns und weltweit anzuwenden. Dann kämen wir allerdings selbst mit in den Blick. Da ist es einfacher, King Denkmäler zu bauen und an den gewaltfreien, integrationistischen ’schwarzen Gandhi‘ der frühen Jahre zu erinnern, der diesen schönen Traum gehabt hat, dass alle Menschen gleich sind.
Herausfordernder ist es, anzuerkennen, dass King selbst manchmal den Eindruck hatte, sein Traum habe sich in einen Albtraum verkehrt. Dennoch hielt er an seinem Traum fest, dass alle Menschen als Ebenbilder und Kinder Gottes in gleicher Würde verbunden sind. Um diese gleiche Würde zu realisieren, müssen aber die strukturellen Wurzeln von Rassismus, Ungerechtigkeit und Militarismus angegangen werden. Das galt damals und gilt heute immer noch – in den USA, aber auch bei uns und weltweit.
Es ist kein Zufall, dass King ermordet wurde als er städtische Müllarbeiter in Memphis in ihrem Kampf für gleiche Bezahlung wie ihre weißen Kollegen und faire Behandlung unterstützte. Hier war der Zusammenhang von Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung ganz offensichtlich – und auch, dass eine Änderung nicht ohne Einschnitte in die Privilegien der Weißen geschehen kann. King hat in seinen Schriften zu Rassismus und ökonomischer Benachteiligung ab Mitte der 1960er-Jahre genau das beschrieben. Er sagte, der schwierigere Teil des Weges liege noch vor ihnen, denn jetzt gehe es nicht mehr nur darum, Wahlgesetze zu ändern, sondern den gesellschaftlichen Wohlstand neu zu verteilen. Und da ließe die Begeisterung der liberalen weißen Mittelschicht für die Gleichheit aller schnell nach. Wie recht er damit hatte und leider heute immer noch hat!
In seiner letzten Ansprache am Abend vor seiner Ermordung betonte King noch einmal, dass das gelobte Land der Freiheit und Gerechtigkeit eines Tages erreicht werden würde – auch wenn er dies selbst möglicherweise nicht mehr erleben werde. Martin Luther Kings 90. Geburtstag ist Ermutigung und Ermahnung, diesen Weg weiterzugehen!“