Nachgefragt: "Was hat die DDR-Vergangenheit mit den zunehmenden fremdenfeindlichen Übergriffen in den Neuen Bundesländern zu tun, Herr Ettrich?"

Gastbeiträge

Fremdenfeindliche Ressentiments und Übergriffe haben in den Neuen Bundesländern deutlich zugenommen. „WortMelder“ hat bei Frank Ettrich, Professor für Strukturanalyse moderner Gesellschaften an der Universität Erfurt, nachgefragt: „Was hat die DDR-Vergangenheit mit all dem zu tun, Herr Prof. Ettrich?“

Prof. Dr. Frank Ettrich
Frank Ettrich

Nichts, oder jedenfalls weniger als häufig angenommen! – so lautet meine erste – etwas rhetorische – Antwort auf diese Frage. Die DDR ist seit mehr als 25 Jahren Geschichte, das politische System der DDR wurde in einer friedlichen Revolution hinweggefegt und die Mehrheit der Bevölkerung der DDR stand 1990 – so wie heute – hinter dem Beitritt zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Auch ist die Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe 2015 in ganz Deutschland, dabei insbesondere in Sachsen, Bayern und Nordrhein-Westfalen, in wirklich besorgniserregender Weise gestiegen. Bei fremdenfeindlichen Einstellungen nehmen gegenwärtig Sachsen-Anhalt und Bayern die wenig schmeichelhaften ‚Spitzenplätze‘ ein. Es wäre demokratiegefährdend, würde dieser  Trend zu Gewalt anhalten, zumal  alle Daten und historischen Erfahrungen, auf die wir in Analogie zurückgreifen können, erwarten lassen, dass es etwa zehn Jahre  braucht, damit eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Immigrationsprozesse wie die des Jahres 2015 angemessen verarbeiten kann. Das beispiellose gesellschaftliche Engagement bei der Unterstützung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Ost und West, das wir parallel zum Anstieg von Gewalt beobachten können, und das mich an die Hochzeiten zivilgesellschaftlicher Solidarität in der heißen Phase der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 erinnert, darf da eher durchaus optimistisch stimmen.

Als Soziologe glaube ich nicht daran, dass uns die Ost-West-Aufrechnung von Attacken auf Flüchtlingsheime, von fremdenfeindlichen Übergriffe und deren Opfern bei der Lösung des gegenwärtigen Gewaltproblems hilft. Es verkompliziert die Situation, indem es eine weitere Konfliktlinie eröffnet, – die leidige ethnifizierende ‚Ossi-Wessi‘-Unterscheidung, die nun  auch schon fast 25 Jahre in passenden wie unpassenden Gelegenheiten als Erklärung herhalten muss. Das Gewaltproblem unserer Tage ist zu ernst, als dass man wieder einmal eine West-Ost-Diskussion in der sattsam bekannten Weise führen sollte. Dies lenkt von echten Erklärungen und damit auch Lösungsansätzen in – heute unverantwortlicher! – Weise ab. Damit bestreite ich keinesfalls, dass es im Osten in Relation zur Bevölkerungszahl (heute noch ca. die Bayerns) mehr alltägliche Fremdenfeindlichkeit und rassistische Übergriffe gibt als in den alten Bundesländern. Widerlegt ist durch die Zahlen lediglich, dass Rassismus vor allem ein ostdeutsches Problem ist. Und die Frage, wo es mehr oder weniger Rassismus gibt, ist unsinnig und letztlich unethisch.

Damit könnte man beginnen, ernsthaft zu erklären, warum Politik, Polizei und Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern in besonderem Maße mit Problemen von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und entsprechender Gewalt zu kämpfen haben. Das geht hier bestenfalls in der Form sehr verkürzter Thesen und selbst diese Thesen beziehen sich primär auf die ‚fremdenfeindlichen Ressentiments‘, also Einstellungen, von denen in der Frage die Rede ist. Die organisierte und auch die spontane Gewaltkriminalität mit fremdenfeindlichen und oder rassistischen Hintergrund bedürfte weiterer Erklärungen.

  1. ‚DDR‘ ist heute Synonym für ‚Mauerstaat‘. Die Bevölkerung war im genauen Sinne des Wortes eingemauert. Menschen, zumal über mehrere Generationen, an bloßer grenzüberschreitender räumlicher Mobilität zu hindern, führt u.a. dazu, dass die Einschränkungen des Kontakts mit anderen Kulturen, Lebensformen, Menschen und Hautfarben dem ethnozentrischen Horizont der Bewohner engere Grenzen setzen als in mobilen und offenen Gesellschaften. Zumindest bei denjenigen, die ihre grundlegende soziale Prägung und politische Sozialisation in diesem Mauerstaat erfuhren und seither nicht oder unzureichend Gelegenheit hatten, diese Defizite auszugleichen. In diesem Sinne wirkt die DDR-Vergangenheit der Neuen Bundesländer zweifellos noch heute nach. Ein stärker autoritätsbezogener, auf soziale Homogenität fixierter Habitus ist in den Neuen Bundesländern noch immer anteilsmäßig stärker vertreten, als in anderen deutschen Regionen. Allerdings waren diese Phänomene in den vergangenen Jahren (bis 2015) stetig im Abnehmen begriffen. Hält man sich vor Augen, dass bis vor kurzem die Neuen Bundesländer mit der Abwanderung jüngerer (und weiblicher) Teile ihrer Bevölkerung konfrontiert waren, immerhin fast zwei Millionen Menschen seit der Wiedervereinigung, dann tragen schon die demografischen Spezifika des Ostens ihren Teil zur Erklärung der ausländerfeindlichen Phänomene bei.
  1. In den Neuen Bundesländern leben bekanntermaßen weniger Menschen mit (nichtdeutschem) Migrationshintergrund als in den Alten Bundesländern. Etwa vier Prozent. Die öffentliche Debatte über die ‚Flüchtlingskrise‘ war und ist primär eine auf nationaler Ebene, d.h. eine vor allem in den landesweiten Medien geführte Debatte. Das führt gerade in den Neuen Bundesländern dazu, dass die sogenannte ‚Bedrohungsthese‘ auf regionaler und lokaler Ebene stärkere Erklärungskraft für ausländerfeindliche Handlungen besitzt als beispielsweise in Stuttgart, dessen Bevölkerung zu 40 Prozent einen (nichtdeutschen) Migrationshintergrund hat, so das der ständige Kontakt zwischen Neu- und Alt-Stuttgartern inzwischen zum Alltag gehört. Die Bedrohungsthese besagt im Kern, dass gerade Menschen mit weniger Alltagskontakten und Erfahrungen mit MigrantInnen, die meist massenmedial perzipierte gesamtgesellschaftliche Situation in besonderem Maße als ‚Bedrohung‘ ihrer lokalen Situation und persönlichen Lebenslage wahrnehmen – und entsprechend dieser Situationsdefinition reagieren.
  1. Heidenau, Tröglitz, Freital, Nauen – sind (mehr oder weniger) schrumpfende ostdeutsche Kleinstätte, die beispielhaft für die heutige Siedlungs- und Infrastruktur von großen Teilen der Neuen Bundesländer sind. Wirklich prosperierende, urbane, multikulturelle und kosmopolitische Zentren, die in ihrer Wirkung weit in die Fläche ausstrahlen, gibt es kaum. Es gibt zweifellos das Phänomen der ‚Ost-Deprivation‘, von dem die Wissenschaftler des Zentrums für Rechtsextremismus-Forschung in Jena vor dem Hintergrund der Daten des Thüringen-Monitors sprechen. Aspekte des Lebens in Ostdeutschland wie geringere Einkommen und Vermögen, prekäre und arme Lebenslagen, größere Arbeitslosigkeit, größere Perspektivlosigkeit – gerade bei jüngeren Menschen, kulturelle und soziale Verödung, wirken gerade in den ländlichen und stärker abgehängten Regionen verstärkend auf ethnozentrische Tendenzen der BewohnerInnen. Auch hier war in den vergangenen Jahren eine Abnahme xenophober und rassistischer Einstellungen und vor allem eine weitere Differenzierung der Lebenslagen und Lebensorientierungen zu beobachten. Von den sechs soziokulturellen Milieus, die die Jenenser KollegInnen heute für Thüringen (und man kann das für die Neuen Bundesländer verallgemeinern) unterscheiden, sind es vor allem zwei, die die höhere fremdenfeindliche Belastung der NBL tragen: ein vergleichsweise kleines wertkonservative Milieu und ein vergleichsweise größeres Milieu der ‚abgehängten Wendeverlierer‘, das heute auch weniger gut gebildete jüngere Menschen umfasst.“