Nachgefragt: "Was bedeuten die Autokephalie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und das Schisma zwischen Konstantinopel und Moskau, Herr Professor Makrides?"

Gastbeiträge

In Kiew fand am vergangenen Sonntag die offizielle Amtseinführung des Oberhaupts der neuen autokephalen Ukrainischen Orthodoxen Kirche, Epifanij (Dumenko) statt. Es ging um die letzte Etappe der Etablierung einer neuen orthodoxen Kirche, die vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel (mit Sitz in Istanbul) eingeleitet und beschlossen wurde. Dieser Prozess hatte schon früher zu heftigen Reaktionen aus einer dem Moskauer Patriarchat noch unterstehenden ukrainischen Kirche und generell aus der russischen Orthodoxie geführt. Das Ergebnis war der endgültige Bruch der Beziehungen zwischen dem Patriarchat von Konstantinopel und dem Moskauer Patriarchat, das die Russische Orthodoxe Kirche leitet, nämlich zu einer Kirchenspaltung innerhalb der orthodoxen Welt mit weitreichenden Konsequenzen – unter anderem für die Kooperation der Orthodoxen Kirchen in Deutschland. Die politische Krise in der Ukraine in den vergangenen Jahren im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen bekam also eine zusätzliche und gewichtige kirchliche Dimension. „WortMelder“ hat bei dem Religionswissenschaftler und Spezialisten für die Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt nachfragt: „Was bedeuten die Autokephalie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und das Schisma zwischen Konstantinopel und Moskau, Herr Professor Makrides?“

Prof. Dr. Vasilios N. Makrides
Prof. Makrides

„Was wir in der Tat in den vergangenen Monaten erlebt haben, ist eine sehr tiefe Krise in der gesamtorthodoxen Welt, vielleicht sogar die tiefste in der Geschichte. Bestimmt gab es und es gibt noch etliche solcher kleineren Schismen sowie diverse Probleme und Konflikte. Aber die beiden jetzigen Kontrahenten, nämlich Konstantinopel und Moskau, sind keine beliebigen Kirchen, sondern die entscheidenden Akteure in der orthodoxen Kirchenstruktur und darüber hinaus. Die Konsequenzen dieser Kirchenspaltung sind schwer abzuschätzen, weil sehr viel auf dem Spiel steht. Im Grunde genommen geht es hierbei nicht nur um die Ukraine und die neue Kirche, sondern um den Primat innerhalb der gesamtorthodoxen Welt. Das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel hat eine solch führende Position innerhalb der Gesamtorthodoxie, die auch von den anderen orthodoxen Kirchen weitestgehend anerkannt wird. Jedoch sind die Zuständigkeiten dieser besonderen führenden Rolle nicht genau definiert. Dies führt oft zu Meinungsverschiedenheiten und Kooperationsschwierigkeiten zwischen den orthodoxen Kirchen. Unter anderem betrifft dies die Erklärung der Autokephalie (d.h. der völligen Unabhängigkeit) einer orthodoxen Kirche. Konstantinopel beansprucht dieses Recht für sich allein, was historisch zum großen Teil begründet zu sein scheint, doch andere orthodoxe Kirchen sehen dies anders und differenzierter. Der größte Kontrahent von Konstantinopel ist dabei das Moskauer Patriarchat, das sich an der Spitze einer mächtigen Kirche befindet und das immer vom russischen Staat und zurzeit auch von Vladimir Putin selbst massiv unterstützt wird.

Es ist die einzige orthodoxe Kirche neben Konstantinopel, die versucht, eine transnationale Rolle zu spielen und als bedeutender globaler Akteur aufzutreten. Die Probleme zwischen den beiden Kirchen sind dabei keineswegs neu, sondern bestehen seit Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Etappen und Ausprägungen – auch während der Zeit der Sowjetunion, obwohl die Russische Kirche damals vom sowjetischen Staat diskriminiert und teilweise massiv verfolgt wurde. Diese Probleme spiegeln die Besonderheiten der gesamtorthodoxen Kirchenstruktur wider. Es gibt nämlich eine Reihe von autokephalen Kirchen an der Spitze, weitere autonome Kirchen, die eine eingeschränkte Unabhängigkeit genießen, und schließlich eine Gruppe von nicht-kanonischen oder schismatischen Kirchen, die keine panorthodoxe Anerkennung de jure genießen. Zu Letzteren gehörte bisher die neue Ukrainische Kirche, die jetzt von Konstantinopel rehabilitiert wurde. Diese neue Kirche entstand aus einer Vereinigung früherer orthodoxer Kirchenstrukturen in der Ukraine – das ‚Vereinigungskonzil‘ fand am 15. Dezember 2018 in Kiew statt. Anschließend übergab der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus in Istanbul am 6. Januar 2019 den ‚Tomos‘ (Dekret) der Autokephalie dem neu gewählten Metropoliten von Kiew und der gesamten Ukraine Epifanij.

Worum geht es eigentlich in der Krise um die neue Ukrainische Kirche? Die beteiligten orthodoxen Akteure stützen sich auf eine Vielzahl von Argumenten aus Theologie, Kanonischem Recht und Kirchengeschichte. Externe Beobachter fokussieren eher auf die soziopolitischen oder die geopolitischen Dimensionen des Konflikts. Daran beteiligt sind nämlich auch politische Akteure und Institutionen – direkt und indirekt. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko unterstützte von Anfang an die Aktionen Konstantinopels und sprach sich für die ukrainische Autokephalie aus. Seitens der USA und der EU wurde die Entscheidung zugunsten der ukrainischen kirchlichen Autokephalie ebenfalls begrüßt. Andere Kirchen in der Ukraine, wie die Römisch-Katholische und die Griechisch-Katholische, befürworteten auch die kirchliche Loslösung von Moskau. Im Gegensatz dazu haben Putin und der Kreml mehrmals die Entscheidung Konstantinopels offen kritisiert und sicherten der Russischen Kirche uneingeschränkte Unterstützung zu. Die bestehende Ost-West-Kluft offenbart sich also erneut in diesem Fall. Die Krise in der Ukraine wird dadurch eine multidimensionale und recht komplizierte – ganz abgesehen von der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 und dem anschließenden Krieg in der Ostukraine.

Im Großen und Ganzen handelt es sich hier aber um den andauernden Machtkampf zwischen Konstantinopel und Moskau. Die Vergangenheit spricht eher für Konstantinopel, doch das Moskauer Patriarchat ist kein unbedeutender Akteur. Es ist die zahlenmäßig größte orthodoxe Kirche heutzutage und in postkommunistischer Zeit fester Bestandteil der internationalen Soft-Power-Strategie Russlands. Der jüngste Zwischenfall in diesem anhaltenden Kampf war das Panorthodoxe Konzil von 2016 auf Kreta, das das Moskauer Patriarchat erfolglos versuchte, auf verschiedene Weise zu boykottieren oder zu vertagen. Es wird allgemein angenommen, dass Moskau hinter dem kurzfristigen Rückzug dreier anderer orthodoxer Kirchen aus dem Konzil steckt. Wenn nämlich dieses lang erwartete Konzil unter der Führung von Konstantinopel und unter Beteiligung aller orthodoxen Kirchen stattgefunden hätte, würde dies Konstantinopel – sowohl symbolisch als auch realpolitisch – einen gewaltigen Vorteil verschaffen, insbesondere mit Blick auf seine Primatsansprüche und Legitimität. Eine solche Entwicklung wäre für die russische Seite und ihre analogen Ansprüche höchst unerwünscht.

Eine genauere Analyse der Politik des Moskauer Patriarchats vor und nach dem Konzil zeigt seine ständige Strategie, Konstantinopels Autorität zu untergraben und seine eigenen Vorrechte stetig einzusetzen und auszubauen. Dies lässt sich zum Beispiel am Weglassen des Titels „Ökumenisch“ erkennen, wenn Moskau über den Patriarchen von Konstantinopel sprach; oder beim Treffen zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill in Kuba im Februar 2016; oder ferner durch die ständige und sorgfältige Mediatisierung des Moskauer Patriarchats in Anwesenheit russischer politischer Behörden oder orthodoxer Kirchenführer. Am 1. Februar 2019 war übrigens der 10. Jahrestag der Amtseinführung des Moskauer Patriarchen Kirill (Gundjaev), was in Anwesenheit Putins und anderer politischer und kirchlicher Akteure offiziell gefeiert wurde.

In einer solchen Konstellation könnte die infrage gestellte religiöse Institution (Konstantinopel) ernsthafte und offene Maßnahmen gegen ihren potenziellen Anwärter (Moskau) ergreifen. Eine direkte Konfrontation mit Letzterem könnte nicht nur die Führungsrolle von Konstantinopel weiter stärken, sie würde auch deutlich machen, wer panorthodoxe Macht und Geltung besitzt. So nutzte Konstantinopel die gesamte politische Krise in den russisch-ukrainischen Beziehungen und zog es vor, in einem Gebiet einzugreifen, nämlich in der Ukraine, das die russische Seite hart getroffen hat. Dies war nämlich keine Randfrage, wie etwa der frühere Streit 1996 zwischen den beiden in Bezug auf die kirchliche Lage in Estland, sondern ein zentrales Thema, auf das Moskau immer empfindlich reagierte. Für die Russische Kirche war die Ukraine stets ihr eigenes „kanonisches Territorium“. Nach den jüngsten Entwicklungen hatte also Moskau keine andere Möglichkeit, als die Beziehungen zu Konstantinopel vollständig zu brechen. Jede andere Entscheidung würde eine klare Niederlage bedeuten. Interessanterweise stellte der russische Metropolit Hilarion (Alfeev) fest, dass Konstantinopel aufgrund seiner Aktionen nicht länger als Anführer der gesamtorthodoxen Welt angesehen werden kann. Und damit wird klar, worum es in dieser Krise wirklich geht.

Der Konflikt hat erst gerade begonnen, sein Ausgang ist bislang offen. Es geht um ein erneutes Kräftemessen der beiden Kirchen. Wichtig ist nun, wie die anderen orthodoxen Kirchen darauf reagieren und ob sie für die eine oder die andere Seite Partei ergreifen. Ob Konstantinopel oder Moskau am Ende als ‚Sieger‘ hervorgeht oder ein Kompromiss zwischen den beiden erreicht werden kann, bleibt abzuwarten.“