Das dürfte bei so manchem Historiker Begeisterung wecken: Der Vatikan hat angekündigt, ab März 2020 die Archive aus der Amtszeit von Papst Pius XII. freizugeben. Sie waren bisher unter Verschluss und sollen nun für die Forschung geöffnet werden. Pius XII., mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, war von 1939 bis zu seinem Tod im Jahr 1958 und damit während der Zeit des Zweiten Weltkrieges das Oberhaupt der Katholischen Kirche. Warum die Akten bisher nicht zugänglich waren und wieso sich das nun ändern soll, das hat „Wortmelder“ bei Bernhard Kronegger, Promovend an der Professur für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt, nachgefragt…
„Um die vatikanischen Archive und ihren Inhalt ranken sich viele Erzählungen, Mythen und sogar Verschwörungstheorien. Dies ergibt sich wohl daraus, dass es sich bei diesem Archiv um das administrative Gedächtnis der ältesten Institution unseres Kulturraums handelt. Ein weiterer Grund könnte die irreführende Namensgebung sein: Die deutsche Bezeichnung ‚Vatikanisches Geheimarchiv‘ (Archivio Segreto Vaticano) lässt sofort Bilder von mysteriösen Gestalten in schwarzen Roben hochkommen, die in dunklen Kellergewölben ihren zwielichtigen Geschäften nachgehen. Szenen also wie wir sie aus der Populärkultur – etwa dem Film ‚Illuminati‘ – kennen. Die Wirklichkeit ist wie so oft leider viel unspektakulärer als das Kino: Eine sinngenauere Übersetzung wäre wohl ‚Privates Vatikanisches Archiv‘, womit es als das spezifische Archiv des Papsttums von denjenigen der verschiedenen kirchlichen Kongregationen unterschieden wird. Für den an Zeitgeschichte Interessierten bedeutet das etwa, dass er die interessantesten Informationen oft nicht dort, sondern im Archiv der ‚Kongregation für außergewöhnliche kirchliche Angelegenheiten‘ (Congregazione per gli affari ecclesiastici straordinari) findet. Das ist diejenige Sektion im vatikanischen Staatssekretariat, die für die diplomatische Beziehungen mit anderen Staaten zuständig ist.
Beiden genannten vatikanischen Archiven ist gemein, dass sie keineswegs geheim oder auch nur schwer zugänglich sind. Bereits seit 1881 haben Forscher Zugang zu ihren Beständen. Jeder, der über eine entsprechende Qualifikation (abgeschlossenes Studium in einem entsprechenden Fach) und ein Empfehlungsschreiben (einer Universität oder eines Professors) verfügt, erhält dort Zutritt.
Was die vatikanischen Archive jedoch besonders macht, sind die überaus langen Sperrfristen, die dort üblicherweise verhängt werden. Im Moment beträgt die Sperrfrist knapp über 80 Jahre: Nur Dokumente die vor dem 02.03.1939 – also dem Tag der Thronbesteigung Pius XII. – dort eingelagert wurden, können eingesehen werden. Dies soll sich im nächsten Jahr ändern. Dann werden die Akten aus diesem Pontifikat freigegeben und die Sperrfrist wird dann nur noch etwa 62 Jahre betragen. Dies ist immer noch vergleichsweise lang – für staatliche Archive der Bundesrepublik Deutschland beträgt diese etwa nur 30 Jahre.
Was aber ist der Grund für diese lange Sperrfrist? Wenn man diese Frage an die Archivleitung richtet, so wird man darauf hingewiesen, dass es aufgrund der großen Menge Archivmaterials und des im Vergleich dazu sehr geringen Personals nicht möglich sei, die Unterlagen entsprechend archivarischer Regeln schneller aufzubereiten. Die Aufarbeitung besteht darin, die Dokumente zu sichten, zu organisieren, einen Index zu erstellen, mithilfe dessen die Forscher finden, was sie suchen, und schließlich auch die einzelnen Dokumente durchzunummerieren, damit sie später zitierfähig sind. Ohne Zweifel stimmt es, dass der Umfang an Material mit jedem Jahrzehnt, das vergeht, nochmals wächst. Ich kann aus persönlicher Anschauung bezeugen, dass selbst einige Randbestände aus dem Pontifikat Pius XI. (1922–39) bisher nicht durchnummeriert worden sind. Jedoch wird dies allein wohl nicht der einzige Grund für die überlange Sperrfrist sein, immerhin könnte man die Bestände ja auch stückweise freigeben. Auch sind die Kongregationsarchive, die, wie bereits erwähnt, oft besonders interessantes Material enthalten, in der Aufarbeitung ihrer – sehr viel überschaubareren – Bestände teilweise schon weiter als das Geheimarchiv und müssen dennoch die Sperrfrist einhalten. Einen Hinweis auf weitere Gründe hat Papst Franziskus in seiner Bekanntgabe genannt, in der es unter anderem hieß:
‚Die Kirche fürchtet die Geschichte nicht, im Gegenteil, sie liebt sie und will sie noch mehr und besser lieben, so wie Gott dies tut.‘
Warum betont der jetzige Papst gerade diesen Aspekt des Nicht-Fürchtens in seiner Verlautbarung? Zwischen den Zeilen lesend kann dies als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Papst in der vatikaninternen Debatte um die Öffnung der Archive von manchen Akteuren vielleicht davor gewarnt wurde, es könnten für die katholische Kirche unangenehme Dinge ans Licht kommen. Diesem Einwand entgegnet er öffentlich, dass die Kirche bereit sei, sich dem zu stellen. Die Angst mancher vor neuen Enthüllungen dürfte sich jedoch nicht – wie oft vermutet – auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges beziehen; für diesen Zeitraum wurde ja bereits eine Fülle von Dokumenten in der elfbändigen Edition ‚Actes et documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale‘ veröffentlicht. Gerade für die Zeit direkt nach dem Krieg – also die der Neuordnung Europas in einen kommunistischen und kapitalistischen Block – ist jedoch viel weniger über die Aktivitäten der katholischen Kirche bekannt.
Oft wird auch das Argument vorgebracht, die Archivare müssten die Bestände erst ’säubern‘ also all jenes Material, das der Kirche oder ihren (ehemaligen) Amtsträgern schaden könnte, entfernen. Dem ist jedoch aus der geschichtswissenschaftlichen Praxis heraus Folgendes entgegenzuhalten: Die Aufgabe des Archivars besteht grundsätzlich nicht darin, das ihm vorliegende Material historisch einzuordnen und gerade dies wäre ja nötig, um beurteilen zu können, ob es ‚gefährlich‘ ist. Dazu bliebe ihm ob der Fülle seiner Aufgaben gar keine Zeit. Darüber hinaus wäre es mit der Entfernung eines einzelnen Dokuments ja auch nicht getan: Oft wurden Kopien von solchen Dokumenten erstellt und an andere Stellen verschickt, darüber hinaus müssten auch alle Bezüge auf dieses Dokument in anderen Schreiben ausfindig gemacht und entsprechend getilgt werden, um dessen Entfernung zu vertuschen. Schließlich wäre noch auf die Amtslogik hinzuweisen, wonach potenziell belastbare Unterlagen ja nicht diejenigen sind, die sich im Posteingang befinden, sondern diejenigen, die vom Amtsträger gezeichnet hinausgehen. Welchen Zweck hätte es dann aber, im Vatikan die Entwürfe dieser Briefe zu entfernen, wenn die unterschriebenen Originale ohne Weiteres in den Archiven in Berlin, Washington oder Moskau zugänglich sind?
Was ist also von der Öffnung dieser Bestände zu erwarten? Für die schon überaus intensiv erforschte Zeit während des Krieges wohl nur noch Details, etwa wann Papst Pius XII. von gewissen Vorgängen informiert wurde und welche internen Überlegungen dazu angestellt wurden, bevor man entschied, aktiv zu werden oder eben nicht aktiv zu werden. Für die Zeit nach dem Krieg könnten jedoch durchaus noch große Überraschungen in den bald zugänglichen Unterlagen schlummern.“