Nachgefragt: "Warum erreichen die etablierten Volksparteien eigentlich die Wähler nicht mehr, Herr Prof. Brodocz?"

Gastbeiträge
 Prof. Dr. Andrè Brodocz

Ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen der großen Volksparteien reicht, um zu erkennen, wie prekär die Lage ist: Bei allen zeigt der Trend nach unten. Aber CDU/CSU, SPD, Grünen, Linken und FDP scheint nicht nur die Gunst vieler ihrer Mitglieder abhanden gekommen, sondern vor allem auch die ihrer Wähler. „WortMelder“ hat bei André Brodocz, Professor für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, nachgefragt: „Warum erreichen die etablierten Volksparteien eigentlich die Wähler nicht mehr?“

„Dass die etablierten Volksparteien keine Wählerinnen und Wähler mehr erreichen, kann man so sicherlich nicht sagen. CDU oder SPD sind in allen Landesregierungen vertreten, fast überall ist eine der beiden als stärkste Partei aus den letzten Wahlen hervorgegangen. Richtig ist, dass beide Parteien gegenwärtig Wählerinnen und Wähler an neue, populistische Parteien und Bewegungen verlieren. Demokratietheoretisch interessant ist dabei, dass in der öffentlichen Debatte dieser Verlust sogleich mit der generellen Unfähigkeit der Volksparteien in eins gesetzt wird, überhaupt noch Wählerinnen und Wähler zu erreichen. Denn aus meiner Sicht ist diese öffentliche Art zu fragen vielmehr selbst ein Symptom für den wachsenden Erfolg jener Erzählung, mit der populistische Parteien ihre Anhängerschaft mobilisieren – nämlich die Geschichte von der Existenz eines einheitlichen Volkswillens, der von den etablierten Parteien nicht mehr repräsentiert und deshalb allein von den Populisten zur Sprache gebracht wird. Wenn wir also explizit oder implizit die Ignoranz des wahren Volkswillens – ersatzweise des wahren Willens des ‚kleinen Mannes‘ oder der ‚Leute‘ – durch die etablierten Parteien anprangern und damit nach den Regeln des Populismus (sprach-)spielen, dürfen wir uns über deren Erfolge nicht wundern. In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Populismus ist deshalb von jedem von uns eine politische Sprache gefordert, die den pluralistischen Grundlagen unserer politischen Ordnung in der nötigen Differenziertheit gerecht wird – nicht zuletzt, wenn wir selbstkritisch die schwindenden Bindungskräfte der etablierten Parteien hinterfragen.“